Читать книгу Die letzten Wolkensegler - Lukas Kellner - Страница 8
Dr. Bill Frederic Till
ОглавлениеBill gab seiner Frau einen Kuss auf die Stirn. Ihre Tochter wartete bereits im Auto auf ihn. Jeden Morgen um 8:30 Uhr durchlief er dasselbe Ritual, küsste seine Frau und fuhr dann mit der Tochter zur Schule. Von dort aus war es nur noch eine halbe Stunde zum Labor. Bisher verlief der Morgen wie die perfekte Kopie all der anderen Tage zuvor. Das Handy weckte ihn zehn Minuten zu früh, er drehte sich um und nahm seine Frau in den Arm. So durfte er jeden Morgen die ersten Minuten in Intimität und Geborgenheit verbringen, in wärmender Sicherheit.
Sein ganzes Leben hatte er danach gesucht. Vielleicht lag es daran, dass er in Chicago aufgewachsen war und dort die erste Leiche noch vor seinem zehnten Jahrestag gesehen hatte. Sein Vater war stets versucht, ihn zu beschützen, doch gelang ihm das nicht immer. Er war allein. Die Mutter war gestorben. Bill hatte erst im College erfahren, dass es bei seiner Geburt passierte. Ein Leben beginnt, das andere endet. Seither kannte er den Preis für ein Menschenleben und wusste, dass man es nur geliehen, aber niemals verliehen bekam.
Der Vater war so ein guter Papa für ihn gewesen, doch war er der Typ Mensch, der seine Gefühle stets hinunterschluckte, um sie allein zu verdauen und niemanden damit zu belasten. Bill tat es ihm gleich. Gift für einen jungen, schwarzen Mann in Chicago, denn Gefühle verschwanden nicht, sondern goren heran, bis sie sich entluden in Angst und Hass und Wut. Bill war wütend auf den Tod, auf die Welt und auf alles, was sich darin befand. Er ging nur noch selten zur Schule, weil es ihn langweilte dort zu sitzen. Sein Leben schien die ihm vorbestimmte Richtung zu nehmen und wäre es so weiter gegangen, so wäre der Handel seiner Mutter gewiss in Sinnlosigkeit verendet.
Doch gab es einen Lehrer an der Schule, der es sich zur Pflicht gemacht hatte, die Zukunft seiner Schüler in die bessere Richtung zu lenken, wenn sie an einer Kreuzung in ihrem Leben angekommen waren. Weil er es nicht im Unterricht tun konnte – denn er wusste, dass Bill zuerst nicht dort erschien und weiters sich nicht gerne von ihm belehren ließ – schenkte er ihm ein Buch. Diese 350 Seiten gebundenen Papiers veränderten Bills Leben! Es hieß „Dominiere das Universum“, geschrieben von einem Physiker namens Dr. Thomas Newgate. In diesem Buch erklärte er die Welt und die verborgenen Gesetze, die sie beherrschten. Der Mann, der ihre Gesetze kannte, ja, sie sogar hier und dort manipulierte, der beherrschte folglich selbige. Er dominierte sie!
Das Vorwort war es, das Bill gefangen nahm. Er las das Buch innerhalb eines Monats. Viele Seiten musste er sich fünf-sechsmal zu Gemüte führen, ehe er sie verstand, doch am Ende hatte er jeder Seite vollen Sinn abgewinnen können. Er ging wieder zur Schule und arbeitete so hart er konnte. Aller Mühe zum Trotz reichte es nicht für ein Studium an eine der Elite-Universitäten. Es brach seinem Vater das Herz, den Traum seines Sohnes nicht erfüllen zu können, doch er, Bill, war mittlerweile reifer geworden und wusste mit Rückschritten umzugehen. So studierte er dennoch, an einer weniger renommierten Uni und tüftelte nebenher an allerlei Ideen herum. Einige seiner Kreationen postete er auf einer Videoplattform: Kleine, sensorgesteuerte Fahrzeuge, Modellflugzeuge, die nur mit Solarkraft betrieben werden konnten oder eine Batterie, deren Hauptbestandteil das Wasser des Meeres war. Letztere erregte die Aufmerksamkeit von keinem geringeren als Jake Hall. Der Mann war ein Genie und Wunderkind. Er hatte drei Firmen aufgebaut, die mittlerweile Marktführer in den Bereichen Energiespeicherung, Lebenserhaltungssysteme und Luftfahrttechnik waren. Als Bill ihn kennenlernte, war er von seiner offenen und sympathischen Art überrascht. Hall bot ihm einen Job an, ferner dürfe er gerne seine Doktorarbeit in Zusammenarbeit mit Windly verfassen (Windly war der Name von Halls Firma, die Lösungen für die Luftfahrt anbot). So geschah es. Seine Arbeit drehte sich um ein von ihm postuliertes, theoretisches Element namens Gelium, das leichter als Luft und in seiner Masse durch Energiezufluss stark manipulierbar war. Es folgten schöne Jahre, in denen er an unzähligen Projekten arbeitete, inspirierende Menschen kennenlernte und Hall als Freund bezeichnen durfte.
Als er seiner Frau begegnete, war er bereits 46. Sie war 38 Jahre alt und arbeitete als Ghostwriter und Schriftstellerin. Zum ersten Mal sah er sie im Regen und verliebte sich auf den zweiten Blick. Drei Jahre später wurde ihre gemeinsame Tochter geboren. Die kommenden neun Jahre schenkten Bill so viel Freude und Glück, dass er hin und wieder innehalten musste, um der Wertschätzung Genugtuung zu leisten. Denn das hatte er nie vergessen: Das Leben war an die Menschen nur geliehen, niemals verliehen.
„Papa, hast du Angst vor heute?“, fragte seine Tochter vorsichtig vom Beifahrersitz aus, während sie die noch dunklen Straßen entlangfuhren.
„Warum sollte ich Angst haben?“
„Weieeeeel…“, sie erhob den Zeigefinger und ihre Worte glichen mehr einer Mahnung als einer Feststellung, „…du mit Mama über heute geredet hast. Und du hast den Radio nicht angemacht. Du machst immer Radio an, wenn wir fahren!“
Obwohl sich Bill auf die Straße konzentrieren musste, konnte er dennoch ihre Blicke spüren. Sie hatte sich in ihrem Sitz aufgerichtet und sich ihm zugewandt. Ihre braunen Augen leuchteten in der Morgensonne wie Tigeraugen-Quarze. Das schwarze Haar hing ihr lockig an zwei Zöpfen seitlich vom Kopf. Die Nase stupsig, das T-Shirt blau, denn Blau war ihre Lieblingsfarbe. Eine Löwin, gefangen in der Gestalt eines neunjährigen Mädchens.
Sie ließ nicht locker. Eilends fügte sie hinzu: „Mama sagt, wir müssen erzählen, wenn wir Angst haben!“
Bill begann zu lachen. Es half alles nichts, er musste ehrlich zu ihr sein.
„Mein Chef will sich heute mit mir treffen. Er will etwas mit mir besprechen und ich weiß noch nicht was. Wir haben sehr lange nicht miteinander geredet. Ich habe aber keine Angst davor. Ich bin nur gespannt, was er mir berichten wird.“ Sie legte den Kopf zur Seite und antwortete mit einem langen: „Hmmmm…“
Nach einigen Sekunden schüttelte sie den Kopf und verschränkte die Arme: „Das ist aber doch kein Grund für keine Musik!“
„Ich hab’s ja verstanden!“, lachte Bill und drückte auf den Knopf. Als sie die Melodie erkannte, begann sie leise mitzusingen, so wie sie es jeden Morgen tat. Weil ihre Füße nicht den Boden erreichten, wippte sie damit auf und ab im Takt.
Ihre gemeinsame Fahrt neigte sich dem Ende zu. Bill bog in die Straße ihrer Elementary School ein und bremste direkt vor dem Eingang zur Schule ab.
„Ich liebe dich.“
„Ich dich auch“, antwortete sie, sprang vom Sitz auf und ließ ihn einen Herzschlag später allein im Auto zurück. Er sah ihr nach. Ihrem schwarzen, krausen Haar und dem blauen Schulrucksack mit Frozen-Motiv.
Als er eine knappe halbe Stunde später auf das Firmengelände einfuhr, begrüßte ihn der Pförtner wie jeden Morgen mit einem Nicken. Der Hauptsitz von Windly war über die Jahre so gewachsen, dass der Gebäudekomplex eher an eine Messestadt als an ein Unternehmen erinnerte. In Halls Büro angekommen, sah er seinen Freund zum ersten Mal nach drei Monaten wieder persönlich. Sein Kleidungsstil war gleichgeblieben, das gestreifte Hemd, das ihm mindestens zwei Nummern zu groß war, flatterte unter einem knallig gelben Pullover hervor und die Jeans endete an weißen Adidas Sportschuhen. Er wirkte müde. Sein braunes Haar war nicht gekämmt worden, seine Stirn glänzte, doch die blauen Augen strahlten ihm euphorisch entgegen.
„Bill, schön dich zu sehen!“, jubilierte er und umarmte ihn. Das war ungewöhnlich. Sie waren Freunde im Geiste, doch körperlicher Kontakt war eher selten gewesen. Bevor Bill darüber nachdenken konnte, deutete ihm Jake an, sich zu setzen.
„Also Bill, du wirst gleich fragen, wo ich die ganze Zeit gewesen bin.“
„Eigentlich will ich fragen, wie’s dir geht!“, konterte Bill.
„Mir? Sehr gut, Bill, schlechten Menschen, du weißt, wie es ist!“, er lachte. Es war seine Standardantwort. Wann immer man ihn nach seinem Befinden fragte, donnerte es aus ihm heraus: Schlechten Menschen geht es immer gut! Dabei war er Bills Meinung nach von ‚schlecht‘ meilenweit entfernt.
Bill: „Also gut, dann tu ich dir mal den Gefallen: Wo warst du?“
„Schön, dass du fragst!“, grinste Jake. „Ich war in China. Und ich habe eine Überraschung für dich. Bill, wir arbeiten jetzt seit… ja, seit wann eigentlich… seit… scheiße, seit über 25 Jahren zusammen. Gott, sind wir alt geworden“, er seufzte, dann erhob er sich aus seinem Stuhl.
„Komm mit, ich zeig’s dir!“, befahl er und öffnete die Tür nach draußen. Sie gingen die Gänge durch das Bürogebäude bis hinaus ins Freie. Dort ließen sie die Produktions- und Bürogebäude hinter sich, marschierten gar bis zum entlegensten Hangar des Geländes. Mitarbeiter der theoretischen Abteilungen, so wie Bill einer war, kamen nie dorthin, außer es gab einen Prototyp zu besichtigen.
Jake: „Ich verdanke dir viel. Du bist dageblieben, als es mir damals finanziell an den Kragen ging. Du hast zwei Jahre quasi für nichts gearbeitet.“
„Jake, ich…“, wollte Bill ihn unterbrechen, doch der ermahnte ihn mit einer sanften Geste zum Schweigen.
„Nein, ich werde das nie für selbstverständlich nehmen. Es war ein Geschenk. Und jetzt habe ich eines für dich! Erinnerst du dich an deine Doktorarbeit?“
„Da musst du meinen Ghostwriter fragen!“, lachte Bill.
„Ist mir klar! Nein, ich rede von Gelium. Das Element. Dein Element. Mit signifikant variabler Masse selbst bei minimaler Energieänderung.“ Bill verstand nicht, worauf er hinaus wollte.
„Ich habe mit deinem Vater gesprochen.“
„Mit meinem Vater? Wieso das denn?“
„Ich wollte wissen, ob es irgendeinen Traum gibt, den du dir schon immer erfüllen wolltest. Ein kleiner Herzenswunsch. Er war so lieb, mir eine Skizze aus deiner College-Zeit zu schicken.“ Bill starrte seinen Begleiter an und wusste nicht so recht, ob dieser es ernst meinte oder nur seinen Schabernack mit ihm trieb.
„Ich hatte schon immer so ein Gefühl dabei, so als wärst du da etwas wahrlich Großem auf der Spur gewesen. Dass es nur einen kleinen Schubser von jemandem wie mir braucht.“ Sie blieben vor dem großen Schiebetor zu Hangar neun stehen.
„Ich hatte große Mühe, es vor dir geheim zu halten. Weil ich in China dabei sein musste, konnte ich das alles hier nicht überwachen, aber es hat ja doch geklappt!“
Jake lehnte sich gegen das Tor und sah Bill direkt in die Augen.
„Bill… Damit sind wir quitt!“
Mit diesen Worten stieß er das Tor auf. Bill sah es zuerst nicht. Seine Augen brauchten einige Sekunden, um sich an den Helligkeitsunterschied zu gewöhnen. Doch sobald er die Umrisse erkennen konnte, wusste er schlagartig, was sein Freund für ihn gebaut hatte und was sich da vor ihm aus den Schatten erhob. Es war, als reiße es ihn durch ein Wurmloch in eine andere Dimension, in eine andere Zeit, dorthin, wo er noch jung war, am College, voller Träume und Flausen im Kopf. Als er fantastische Gefährte in der Theorie konstruierte und versuchte, mit seinen Kenntnissen über Physik und Ingenieurskunst aus Ideen Realität zu erschaffen. Während er Jake ungläubig ansah, lief ihm bereits eine Träne die Wange hinunter. Jake wurde verlegen, flüchtete sich in die Tat und hielt ihm einen kleinen Glasbehälter hin.
„Wir haben es geschafft, Bill. Deswegen war ich in China. Das Team dort hatte eine Idee. Vor ein paar Wochen konnten wir es das erste Mal synthetisch herstellen.“ Bill nahm den Behälter entgegen und wusste, was sich darin befand, ohne dass Jake es aussprechen musste. Es sah aus wie ein feiner, blauer Nebel, als hätte man ein Stück des Himmels eingefangen.
„Das ist Gelium!“
Bill wusste nicht, was er sagen sollte. Und auch Jake schien der Situation sichtlich unbeholfen gegenüberzustehen. Er berührte ihn an der Schulter: „Komm, sieh sie dir an!“
Langsam traten sie an das Gebilde heran, dessen Gestalt Bill so vertraut vorkam, als hätte er ein solches Exemplar seit Jahren im eigenen Garten stehen.
„Ich habe alles so bauen lassen, wie du es am College skizziert hast. Wegen deines Elements funktioniert es jetzt auch. Wir haben den Ballon damit befüllt. Ah, eine Sache aus den Skizzen hab ich verändert: Die Stripstange am Bett fehlt, aber weil deine Frau bei der Präsentation sicher auch dabei sein will, dachte ich, es sei das Beste, darauf zu verzichten.“
Das Luftschiff vor ihnen war sehr viel kleiner als seine großen Vorbilder aus vergangenen Zeiten. Der graue Ballon lag eher mittig und nicht oben auf, die Kabinen aus rötlich-braunem Stahl verliefen links und rechts am Polymer entlang. Vorne war das verglaste Cockpit, welches mithilfe von dünnen Stahlstreben segmentiert und stabilisiert wurde. Insgesamt erinnerte das Gefährt an die Form der Nautilus, dem sagenumwobenen U-Boot, das die Meere befuhr, mit seinem Herrn und Meister, Kapitän Nemo. Horizontale Metallgitter links und rechts formten eine Art Terrasse, die mit einem ebenfalls rötlich braunen Geländer abschlossen und so verhinderten, dass man einfach hinunterfallen konnte. Das Schiff besaß auf beiden Seiten jeweils eine rund ausgeschnittene Tür, die in Form und Funktion denen von U-Booten ähnelten und ungefähr auf Augenhöhe ein kopfgroßes Bullauge besaßen. An Backbord lag diese vorn, kurz bevor der stählerne Rumpf in das gläserne Cockpit überging und auch die Terrasse in einer galant geschnittenen Kurve mit dem Rest verschmolz. An der Steuerbordseite lag die Tür relativ mittig und direkt darüber führte eine leiterartige Treppe aus Metall über den gesamten Ballon hinüber. Erst nach geschlagenen Minuten des Staunens und Betrachtens und dann wieder Staunens fand Bill zu Wort.
„Präsentation?“, fragte er, während er sich Freudentränen aus den Augen wischte.
„Ja, natürlich. Wir werden Gelium präsentieren, Bill. Ein Stoff, der bei der Zufuhr von wenig Energie spürbar schwerer wird, ist sehr nützlich. Du hast uns damit wahrscheinlich die nächsten Jahrzehnte finanziert. Ich dachte du demonstrierst es der Presse. Als Erfinder“, er deutete auf das Luftschiff.
„Wir haben auch unser SolarPlane verwendet, die Oberfläche des Ballons kann also die Batterien laden. Die regulieren die Temperatur im Innern des Ballons und treiben die Propeller an. So kannst du Höhe, Geschwindigkeit und Richtung kontrollieren. Theoretisch kann es ewig fliegen“, triumphierte Jake und betrachtete stolz sein Bauwerk. Ein hoher Ton riss ihn aus seiner Begeisterung heraus. Er nahm ein Handy aus der Tasche und verzog sein Gesicht zu einer Schnute.
„Tut mir leid, da muss ich ran gehen. Sieh sie dir doch mal genauer an!“, sagte er und ging in Richtung Hangartor.
„Und überleg dir einen Namen!“, rief er ihm noch nach, ehe er den Anruf entgegennahm und Bill allein ließ. Zum ersten Mal allein mit diesem Schiff. Seinem Schiff.
Er tastete sich langsam vor, wie bei einem scheuen Tier, das durch ungestüm hektische Bewegungen leicht zu verschrecken war. Irgendwann kam er ihr so nahe, dass er seine Finger langsam über das rostbraune Metall gleiten lassen konnte. Einige Augenblicke später betrat er den „jungen“ Zeppelin, beging den terrassenartigen Vorsprung am Rumpf, lauschte den Tönen, die seine Schuhe auf den Metallgittern verursachten, blickte hinauf und hinab, schüttelte ungläubig den Kopf und lachte und musste sich immer wieder daran erinnern, dass es doch real war, was er vor sich sah.
Da stand er, Bill Frederic Till, an Bord eines Luftschiffes, befüllt mit einem Element, welches das seine war, glücklich an dem Ort, an dem er sterben sollte.
Denn es passierte drei Wochen später. Jake hatte die Premiere wegen der jüngsten Ereignisse verschieben lassen. Es hieß, man solle mindestens einen Meter Abstand voneinander nehmen. Dabei war es gleich, ob Familie, Freund oder Feind. Am schwersten war es, diese Maßnahme der eigenen Tochter zu erklären und ihr gleichzeitig zu versichern, dass alles gut werden würde. An einem Donnerstag bekam er dann auf einmal einen Anruf von Jake. Er nahm ihn entgegen. Jake klang außer Atem, vor allem aber meinte Bill ein Gefühl in seiner Stimme zu vernehmen, das ihm so gar nicht nahe lag: Jake hatte Angst.
„Bill? Bill? Bist du zu Hause?!“, schrie er in den Hörer.
„Ja, bin ich, was…“
„Bill, schnapp dir deine Familie und fahr zum Luftschiff, so schnell wie du kannst. Ihr müsst fliehen. Sie werden es in fünf Minuten verkünden. Dann wird die Hölle losbrechen. Hast du gehört, so schnell du kann…“ Die Verbindung brach ab. Bill kannte Jake gut genug, um zu wissen, dass es sich nicht um einen Scherz handelte, dass es ernst war und dass er nur zur Flucht ermahnte, wenn wirklich kein anderer Ausweg blieb. Er rief seine Frau und erklärte ihr kurz, wozu Jake ihnen geraten hatte. Sie verstand sofort und hastete nach oben, um das allernötigste zusammenzupacken. Indes rannte er zum Zimmer ihrer Tochter und klopfte.
„Wir machen einen Ausflug!“, sagte er und versuchte dabei so entspannt wie möglich zu klingen.
„Aber wir dürfen doch nicht raus?“
„Heute gibt es für uns eine kleine Ausnahme.“
„Dürfen wir wieder nebeneinanderstehen?“
„Nein, noch nicht, wir müssen immer noch Abstand halten, aber wir machen trotzdem einen Ausflug. Komm bitte runter!“
Eine viertel Stunde später standen sie alle drei im Wohnzimmer, aufgestellt im Kreis und mit genügend Abstand, um den anderen nicht zu gefährden.
Bill: „Okay, wir müssen uns aufteilen. Ich und…“, er wollte gerade den Namen seiner Tochter nennen, als seine Frau ihn unterbrach.
„Ich nehme sie mit!“, sie sah ihn halb überzeugt, halb wütend an. Es war der feurig entschlossene Blick einer Mutter, die ihr Kind niemals allein lassen würde, für keine Sekunde. Da hatte es keinen Zweck zu argumentieren.
„Gut, du und Mama ihr fahrt im SUV. Du sitzt ganz hinten, Mama ganz vorn. Wir fahren zu mir auf die Arbeit. Schatz, Hangar neun, das ist der ganz hinten. Dort steht es.“ Sie nickten einander zu.
Bill leitete sie an. Noch nie hatte er während einer Fahrt so oft in den Rückspiegel geblickt wie an jenem Tag. Als sie fünf Minuten unterwegs waren, wurde es bereits über das Radio verkündet. Der kritische Radius sei drastisch gestiegen, man solle anderen Menschen ganz aus dem Weg gehen, urbane Gebiete verlassen. Außerdem galt es, sich vor den Verrückten zu schützen, die sich Suicidals nannten.
Innerhalb von zehn Minuten füllten sich die Straßen. Menschen gingen aufeinander los und fielen mehrere Meter voneinander entfernt zu Boden. Man hörte Rufe, die Sirenen donnerten über die Skyline der Stadt und ohne die frühe Warnung von Jake hätten sie es niemals in das Büro geschafft. Es grenzte an ein Wunder, dass sie die Strecke überlebten.
Das Gelände schien verlassen, kein Pförtner, keine Autos auf dem riesigen Parkplatz, kein Jake Hall. Das Tor von Hangar neun stand weit offen, ebenso das große Dach, welches über einen Schienenmechanismus beiseite gefahren werden konnte. Es war wohl alles für ihre Flucht vorbereitet worden. Bill blieb gut zehn Meter vom Luftschiff entfernt stehen, seine Frau parkte hinter ihm. Er stieg aus und zeigte mit einer Handgeste beiden an, sitzen zu bleiben. Er hatte ein seltsames Gefühl und wollte prüfen, ob ihnen jemand beim Schiff auflauerte, immerhin war das Gelände momentan unbewacht und für jeden zugänglich. Er rannte voran, betrat das Luftschiff und jagte durch jeden Raum. Erst als sicher war, dass sich niemand Zutritt verschafft hatte, startete er die Maschine, ging nach draußen an das Geländer und winkte den Beiden zu. Seine Tochter und Frau stiegen aus und liefen schnellen Schrittes mit Koffer und Rucksack auf ihn zu.
In dem Moment kamen sie von hinten. Sie waren zu dritt gewesen, das wusste er noch, einer mittig, die anderen beiden jeweils links und rechts mit gebührendem Abstand, um sich nicht aus Versehen gegenseitig das Leben zu nehmen. Sie mussten sie von der Ferne ausgespäht haben, auf ihre Beute lauernd, mit Augen, gelb umrandet wie die Blüte einer Sonnenblume. Suicidals.
Bill schrie, während er beobachten musste, wie der erste losrannte, schnell, wie von Sinnen, gestört und seelenlos. Er konnte das Gesicht seiner Frau sehen, im einen Moment erfüllt von Panik, Weinen und Hast, im nächsten Moment erschlaffend und ruhig. Sie ging auf die Knie, hinter ihr fiel der Verfolger vornüber und landete tot auf dem Boden.
Dann hörte er das Kreischen seiner Tochter. Ihr lautes, bettelndes Kreischen. Ihre Mutter hatte sie vorausgeschickt, doch der Vorsprung war nur klein und so hatte der zweite Suicidal keine Mühen aufzuholen. Auch war sein armes Mädchen vor Schreck zu Boden gegangen, hatte sich die Ohren zugehalten und so laut geschrien, wie sie nur konnte. Das war der Moment, in dem der bisherige Bill sterben musste. Weil er sah, was gleich geschehen würde und unumgänglich war. Weil er das hellweiße Tuch des Todes spürte, wie es sich um sie legte. Weil er zuhörte, wie ihre Schreie verstummten. Weil das Geliehene von ihr genommen wurde.
Hilflos beobachtete er, wie sie in sich zusammensackte, die Arme erschlafften und von den Ohren abließen, sie zusammengekauert da lag, ohne Spannung in den Muskeln, ohne Leben in ihren Gliedern. Sogar ihr schwarzes Haar war verblasst und verdeckte ihre geschlossenen Augen.
Der Verfolger hinter ihr war es und seine Frau war es und der Mann hinter ihr ebenso. Sie waren alle tot.
Der dritte Suicidal sprintete los, nahm Kurs auf ihn. Bill blickte nicht zu ihm auf, hatte nur Augen für seine Tochter. Klarheit überkam ihn und es war ihm recht, dass der Verrückte auf ihn zurannte, dass er ihm das Leben nehmen wollte, dass er gleich erlöst sein würde vom Anblick, der ihm jede Sekunde alles nahm, was er je geliebt hatte. Es war ihm recht, zu gehen. Er atmete ruhig, sah ein letztes Mal zu seiner Frau und Tochter und schloss die Augen.
Da begann ein lautes Knarzen und Donnern und Rumpeln. Es sollte ihm auf ewig ein Rätsel bleiben, aber in diesem Moment erhob sich das Schiff in die Luft und der Suicidal lief ins Leere. Während er die Leichen seiner Familie kleiner und kleiner werden sah, hörte Bill nicht auf, nach ihnen zu schreien und zu weinen. Er wollte sich über die Reling stoßen, hinabfallen, es beenden, doch meinte er in genau diesem Moment, ihre Stimme zu hören. Wie sie ihn fragte, ob er Angst habe. Und er bejahte, immer und immer wieder. Angst davor, sie zu verlieren. Obwohl das doch schon längst geschehen war. Obwohl er alles verloren hatte. Alles.
Chen spürte seine Sicht vernebeln. Er biss sich auf die Lippe, während Bill noch sagte: „Jacky… Ihr Name war Jacky. Sie war das wunderschönste Mädchen, das du dir nur vorstellen kannst!“ Chen musste pausieren. Er begann zu weinen. Vor sich sah er seine Schwester. Und er sah ein kleines Mädchen, dass irgendwo in einem Hangar am anderen Ende der Welt gestorben war. Diese grausame, grausame Welt.