Читать книгу Die letzten Wolkensegler - Lukas Kellner - Страница 7

Der erste Wolkensegler

Оглавление

Chen wachte auf. Seine Augen waren verklebt und die Schlafkörnchen fühlten sich an wie übergroße Brocken, die an seinen Wimpern spitzkantig anhafteten. Vorsichtig fuhr er die Lieder mit dem Fingernagel ab, um sich vom kristallisierten Wasser zu befreien, das sich vor allem am Tränenpunkt hartnäckig festgesetzt hatte. Doch es war ein guter Morgen. Zum ersten Mal seit einer langen Zeit war er nicht vom Hunger aufgewacht und auch nicht von Träumen über Suicidals, die ihm nachgejagt wären, oder von Gesprächen mit seiner Schwester, die ihn gar noch mehr gefoltert hätten. In Träumen waren es vor allem die schönen Dinge, die grausam waren, das hatte er gelernt, oder besser: Nicht das Träumen war der Ursprung der Grausamkeit, sondern das Aufwachen, das Herausreißen aus einer Realität, die nicht die Seine war, sondern nur pure Fantasie.

Manchmal ließ es ihn tagelang nicht los, wenn er seine Schwester gesehen hatte, wie sie mit ihm zusammen einen Tag am See verbrachte und herumalberte, Gelegenheiten, die er früher zwar genoss, aber aus heutiger Sicht viel zu wenig wertgeschätzt hatte. In ihrer Gegenwart war es für Chen immer einfach gewesen, denn bei ihm hielt sie sich nicht zurück, erblühte zu einer frechen, fast schon lauten Frau, niemals auf den Mund gefallen, der Humor zuweilen staubtrocken, gestochen scharf, jemand, mit dem man gerne Zeit verbrachte und sich nicht ständig fragte, ob das Gesagte richtig oder falsch sein könnte, denn es war immer richtig und niemals falsch.

Als es passierte, war sie Studentin, wenn auch erst seit knapp zwei Jahren, denn Aya war drei Jahre jünger als Chen. Während er sich anzog, dachte er daran, wie sie sich früher auch bitterböse streiten konnten, vor allem als sie noch Kinder waren. Einmal hatte er sie geschlagen und sein Vater hatte es daraufhin mit ihm gleichgetan. Doch dauerte es immer nur wenige Stunden und es war wieder wie zuvor, er war wieder der große Bruder und sie die kleine Schwester. Vielleicht hatte sie es irgendwie geschafft. Vielleicht. Vielleicht. Vielleicht.

Nur mit einem Handtuch bekleidet trat er aus der Hütte heraus. Es war weniger kühl und nicht so früh wie am Tag zuvor. Die Sonne musste bereits zwei bis drei Fingerbreit über dem Horizont stehen. Weiße Lichtsäulen glitzerten schräg über den Waldboden, eben dort, wo die Baumkronen einen Blick gen Himmel zuließen. Chen lief um die Hütte herum und die kleine Anhöhe dahinter hinauf. Der Boden war feucht von der Nacht, abgestorbene Blätter blieben an seinen Füßen kleben und fühlten sich glitschig-schmierig an. Er hüpfte über einen der kleinsten Flüsse seines Waldes namens Elster, um zu einem der größten und reißendsten zu gelangen, dem Ichitaka. In Wahrheit war er, wie die anderen auch, nur ein kleines Bächlein, doch waren seine Ufer so weit auseinander, dass man schon großen Anlauf nehmen musste, wenn man trockenen Fußes hinüberspringen wollte. Außerdem lag er nicht einfach so da, sondern plätscherte fröhlich vor sich hin und verursachte dabei ein Geräusch, das zum Träumen einlud, zum Abdriften in Gedanken, die weder schwer noch wichtig waren, die sich um krumme Äste oder besonders grünes Moos drehten oder um kleine Tierchen oder um etwas anderes Belangloses.

Auf zwei dünnen Baumstämmen, die Chen parallel über den Fluss gelegt hatte, verrichtete er seine Notdurft. Ein paar Meter weiter den Ichitaka hinauf wusch er sich und putzte sich die Zähne mit der neuen Zahnpasta. Es war wunderbar. Nach so langer Zeit durfte er endlich wieder Minze schmecken, riechen, schlucken. Er hatte sich ewig nicht mehr wirklich sauber gefühlt und sich gefragt, woran das wohl lag. Jetzt hatte er die Antwort darauf. Die sanfte Schärfe benetzte seine Zunge und sein Zahnfleisch und er war so glücklich wie lange nicht mehr. Er wollte jubeln, doch kam er sich etwas albern vor, derart fröhlich zu sein wegen einfacher Zahnpasta.

„Aber rasieren könnte ich mich wieder mal“, bemerkte er und betrachtete dabei sein behaartes Gemächt. Es war ein Geheimnis gewesen, das er bei sich trug und das früher oft schwer auf seiner Seele lastete. Ihm war es aufgefallen, als er sich das erste Mal erotische Filme angesehen hatte. Er war nicht zufrieden mit der Länge seines Geschlechts und immer in der Furcht, eine Frau könnte ihn um dieses Umstandes Willen niemals wollen. Er hatte keine Beziehung gehabt und nur einmal mit einer Frau geschlafen. Es war eine Prostituierte gewesen und niemand wusste davon. Er hatte sie selbst kontaktiert und bezahlt, weil er keine Jungfrau mehr sein wollte. Bei einer Frau war es ein Zeichen von Reinheit, bei einem Mann ein Zeichen von Schwäche. Die Prostituierte hatte ihm während des ganzen Aktes über Lügen in das Ohr geflüstert, davon war Chen überzeugt, doch zumindest war er hinterher frei von der Bürde des ersten Mals. Seine Furcht war gleich geblieben und das Geheimnis fest in ihm verschlossen. Wenn er für irgendetwas dankbar hätte sein müssen in dieser neuen Zeit, dann war es, dass ihn dieses Geheimnis nicht mehr allzu sehr beschäftigte. Denn er war allein und Erotik-Filme gab es nicht mehr.

Chen putzte sich noch ein weiteres Mal die Zähne. Zwar drückte ihn der Gedanke, erneut etwas von der Paste aus der Tube zu nehmen, denn sie würde so schneller zur Neige gehen und dann war es eher vorbei mit dem Gefühl der Reinheit, aber an jenem Tag konnte er nicht genug davon kriegen und der Wunsch nach mehr übertrumpfte den Gedanken der Sparsamkeit. Als er in langsamen Kreisbewegungen die Bürste über seine Zähne wandern ließ, grinste und hoch zum Himmel blickte, sah er es zum ersten Mal.

Direkt über ihm, offen gelegt durch eine Lücke in der Baumkrone, schob es sich still und langsam über den Himmel hinweg. Die Bewegung war makellos und ruhig, wie die einer Schaluppe im wellenlosen Wasser. Was war das? Links und rechts begrenzten zwei längliche Rümpfe das Gebilde und von der Mitte aus gen Boden gerichtet streckte sich ein Mast samt Segel aus. Es wirkte wie ein Katamaran, der durchgekentert war, umgedreht und weit über ihm. Doch Katamarane waren Gefährte des Meeres, dieses hingegen bewegte sich über den wasserblauen Himmel.

Chen war so erschrocken, dass er aufhörte zu Bürsten und mit offenem Mund dem Gefährt hinterher starrte, solange, bis es langsam hinter den Blättern verschwand. Sogar den Geschmack der Zahnpasta hatte er für den Augenblick vergessen. Eilends spuckte er aus, schnappte sich das Handtuch und rannte zurück zur Hütte. Er warf sich Klamotten über, griff nach Bogen, Köcher und Messer, verschloss die Tür hinter sich und jagte Richtung Schlucht. Nachdem er Yukon und Ashoka überquert und die gewöhnliche Strecke in Rekordzeit hinter sich gelassen hatte, bremste er völlig außer Atem ab. Er wollte vorsichtig sein. Zum einen wusste er gar nicht, um was für ein Gefährt es sich handelte und wen es beherbergte, zum anderen schienen in der Gegend mehr Suicidals umherzustreifen als üblich.

Er setzte seine Schritte mit Bedacht, so wie er sich durch den Wald bewegte, wenn er auf der Jagd war oder nach Heilpflanzen suchte. An der Waldkante ging er im Schutze eines Baumstammes auf die Knie, spähte seitlich daran vorbei und traute seinen Augen kaum.

Es war zu Boden gegangen. Kein fliegender Katamaran, sondern ein Luftschiff. Von der Seite konnte man es besser identifizieren als von unten. Nur war es in Form und Gestalt anders als jeder Zeppelin, den Chen bisher gesehen hatte. Zugegeben kannte er die Wolkengleiter nur aus Büchern oder dem Internet, doch er war sich sicher, dass dieses Exemplar keinem anderen aus seiner Gattung glich. Von seiner Position aus schätzte er es auf nicht viel größer als fünf Meter in der Höhe und zehn Meter in der Länge. Bei normalen Zeppelinen gab es den riesigen, oval geformten Ballon und darunter eine Kabine für die Passagiere. Der Ballon hier war dunkelgrau, kleiner und eher länglich als hoch. Nicht darunter, sondern links und rechts an der Hülle des Ballons entlang verliefen die rostbraunen Rümpfe mit Bullaugen, vor denen eine Art Terrasse mit Geländer angebracht worden war. Ganz vorne wurden beide durch ein Cockpit verbunden, das eigentlich mehr einer großen, gläsernen Kuppel ähnelte. Außerdem führte eine leiterartige Treppe mittig über den Gasballon, und man konnte so von der einen auf die andere Seite hinübersteigen. Hinten befanden sich zwei Propeller samt Steuersegel. Das große Hauptsegel, das Chen vorhin im Fluss gesehen hatte, war eingeklappt worden und erstreckte sich jetzt über die volle Länge an der Unterseite dieses seltsamen Gefährts. Tatsächlich hatte es mehr etwas von einem Katamaran als von einem Zeppelin. Im wahrsten Sinne des Wortes ein Wolkensegler!

So wundersam der Anblick dieser Maschine auch sein mochte, das was Chen danach sah, überraschte ihn um ein Vielfaches mehr und ließ sein Herz instinktiv höherschlagen, obwohl er wusste, dass die Euphorie ihre Tücken hatte. Denn davor stand ein Mann, der gerade dabei war, einen Keil in den Boden zu schlagen. Aus der Ferne konnte Chen nur erkennen, dass er schwarz war und einen weiß-blauen Umhang trug, der ihm bis unterhalb der Knie reichte und keine Ärmel besaß. Sogleich versuchte sein Kopf die Züge des Mannes zu rekonstruieren, gaukelte ihm vor, dass dem Fremden vielleicht rundliche Wangen zu eigen waren, eine knollige Nase, ein breites Lächeln und gütige Augen. Sicher war dabei nur, dass er kurze, sich kräuselnde und bereits ergraute Haare hatte, doch sein Alter ließ sich von Chens Position aus trotzdem nicht eindeutig bestimmen.

Es musste Jahre her sein, dass er einen Menschen gesehen hatte. Er betonte in Gedanken das Wort Mensch, weil er der Meinung war, dass Suicidals dieser Bezeichnung nicht mehr würdig waren. Der Fall folgte auf dem Fuß. Zwar war dort drüben ein Mensch, einer der letzten, wie Chen vermutete, doch selbst wenn er ihm gegenüber freundlich gestimmt sein sollte, so konnten sie sich dennoch nicht einander nähern. Wer war der Mann? Warum war er hier? Was hatte er vor? Chen wandte sich vom Anblick des Wolkenseglers ab, drückte sich an den Stamm und rieb sich die Augen. Ohne den Anblick des Menschen und der Maschine fiel es ihm leichter, logische Denkprozesse zuzulassen.

Der Mann dort drüben war ein Mensch. Nahrung und Wasser waren ihm eine Notwendigkeit, um zu überleben. Von Zeit zu Zeit würde er Halt machen müssen, um Vorräte aufzufüllen und vielleicht auch, um sich einmal die Beine zu vertreten. Dabei war seine Art zu reisen geradezu genial und an Sicherheit kaum zu überbieten. Schon ein paar hundert Meter über der Erde war er frei von jeder Bedrohung durch die gefährlichste Rasse, die diesen Planeten je bevölkert hatte.

Chen drehte sich wieder um und beobachtete den Mann weiter, sah ihm zu, wie er an dem eingeschlagenen Keil ein langes, starkes Drahtseil befestigte, das sein Luftschiff am Boden fixierte. Dann trat er an das rostbraune Geländer heran und tätschelte es, so wie man es mit einem Hund tat, der einem jahrelang ein treuer Begleiter gewesen war. Er drehte sich um und blickte in die Ferne, streckte die Arme aus und legte den Kopf in Nacken. So verharrte er eine ganze Weile. Gerade als Chen mit den Lippen ‚Was tut er da?’ formte, ließ der Mann sich ungestüm vornüberfallen, fing sich erst im letzten Moment mit einem beherzten Schritt auf und begann zu rennen. Chen sah, dass er wohl nicht der Beste zu Fuß war, denn er hatte die Ellenbogen vom Körper weggesteckt, verfiel bald schon in einen Trab, stolperte schließlich und ging zu Boden. Im Gras drehte er sich viele Male um die eigene Achse und schlug Purzelbäume, von denen kein einziger nötig gewesen wäre, um den Sturz abzufedern. Chen hörte ihn lachen, laut, warm und aufrichtig, fast schon hysterisch glücklich. Es zog ihn an, wie die Blüte eine Biene und er wollte nichts anderes tun, als zu ihm hinüberlaufen und mit ihm gemeinsam herumkugeln und lachen und Purzelbäume schlagen, so laut, dass es die ganze Welt hören sollte. Er verzehrte sich regelrecht danach, konnte die Stimme des Fremden in Gedanken hören, die Regungen in seinem Gesicht sehen, die man nur wahrnahm, wenn man direkt gegenüber gestellt ein Gespräch führte, wie früher in Cafés, in der Universität, im Bus, einfach überall. Er vermisste Augen, die sich vergrößerten, wenn sie etwas Witziges oder Schönes zu hören bekamen, und die Münder, die schwatzend tanzten, um Geschichten zu erzählen und sei es nur seelenloses Gerede über das Wetter. Er vermisste alles!

Das Lachen des Mannes war es auch, das Chen schlussendlich aus seiner Deckung lockte. Leichtsinnig war es gewiss, doch ein Mann, der zu solchem Glück fähig war, konnte kein Suicidal sein, niemals. Langsam trat er aus dem Schutz des Waldes heraus, während der Mann immer noch am Boden lag und in aller Ruhe den Himmel zu beobachten schien. Chen ging bis auf circa 40 Meter an ihn heran, näher wagte er es nicht, denn er wollte weder sich noch ihn in Gefahr bringen. Weil er befürchtete, ihn mit Schreien in die Flucht zu schlagen, begann er wild mit den Händen zu wedeln und presste ein bestimmtes, aber gediegenes Hallo! aus seinen Lungen. Als der Mann Chen bemerkte, sprang er sofort auf, streckte ihm die Hände entgegen und wich einige Schritte zurück. Der Schock war ansteckend. Auch Chen stolperte rückwärts und riss instinktiv die Arme nach oben. Wie sollte er ihm klar machen, dass er nicht vorhatte, sich ihm zu nähern? Ihm fiel nur die Pose ein, die Figuren in Filmen immer einnahmen, wenn sie sich ergaben und von ihrem Gegenüber nicht erschossen werden wollten. Sie sahen einander an, Chen beide Hände in die Höhe gestreckt, der Fremde mit einem Bein schon wieder in Richtung Luftschiff. Zwischen ihnen lagen gerade einmal knapp vierzig Meter. Doch innerhalb dieser Distanz lauerten Tod und Endlichkeit, scharrten mit den Hufen und warteten nur darauf, dass ein Fehler geschah.

So standen sie da, geschlagene Sekunden lang. Chen wusste nicht, was er hätte tun sollen, um die Situation zu unterbrechen. Irgendwie musste es doch möglich sein, sich verständlich zu machen, zu kommunizieren, etwas Menschliches auszutauschen. Schreien war zu laut, es könnte Suicidals anlocken. Zum ersten Mal verstand er, wie es sein musste, taub und stumm zu sein, denn im Grunde war er genau das: Unfähig zu sprechen, unfähig zu hören. Doch brachte ihn eben dieser Gedanke auf eine Idee. Er nahm den Zeigefinger hoch und deutete drei Mal schnell auf den Boden.

„Warte hier!“, sprach er, wohl wissend, dass die Worte niemals die Distanz zwischen ihnen überbrücken würden. Dann drehte er sich weg und sprintete los.

Im Wald übersprang er Yukon und Ashoka mit einer solchen Kraft, wie er sie seit Monaten nicht mehr aufgebracht hatte. An der Hütte angekommen, riss es ihn beim Abbremsen fast von den Beinen. Er stürmte hinein, warf Bogen und Köcher in die Ecke und riss die Kiste aus dem Schrank heraus. Er kramte einen Block und Bleistift hervor. So würde es gehen! Nachdem er mit dem Messer die Spitze des Bleistiftes so weit präpariert hatte, dass sie diesen Namen auch verdiente, begann er zu schreiben. Da er seine Nationalität nicht kannte, verfasste er den Brief auf Englisch. Keuchend versuchte er, seine Worte mit Bedacht und Höflichkeit zu formulieren, immerhin war es das erste „Gespräch“ mit einem Menschen seit Jahren.

Hallo Reisender,

mein Name ist Chen Hyuga. Ich bin ein Überlebender und will Ihnen nichts Böses. Entschuldigen Sie meine Euphorie, die auch der Grund dafür war, dass ich ungestüm zu Ihnen gestoßen bin, womit ich Ihnen höchstwahrscheinlich einen großen Schrecken eingejagt habe.

Darf ich Sie fragen, wofür Sie diesen Ort zum Landen ausgesucht haben? Kennen Sie mehr Überlebende?

Falls ich Ihnen helfen kann, dann lassen Sie es mich bitte wissen!

Chen

Er faltete eilends das Papier, kramte in dem Jutebeutel herum und nahm eine Dose des Eintopfs in die Hand. Er hätte das Fleisch gut gebrauchen können, doch was war er für ein Mensch, wenn er die Gelegenheit verstreichen ließ, zu teilen? – Wieder allein!

Mit der Dose und dem Blatt Papier rannte er los. Als er gerade Ashoka überquerte, stach es ihm in die Seite. Er zwang sich weiter, atmete lange aus und versuchte den Schmerz zu ignorieren. Er hatte Angst, der Mann könnte vor Schreck den Keil aus der Erde ziehen, mit seinem Schiff davonfliegen und ihn zurücklassen – Wieder allein!

Die Begegnung hatte ihm vor Augen geführt, wie einsam er in Wahrheit war, wie sehr er sich nach Gesellschaft verzehrte oder zumindest nach einem kurzen Lichtblick inmitten dieses erdrückenden Gefühls, das sich viel zu lange schon auf seiner Brust niedergelassen hatte. Wenigstens den Brief wollte er ihm übergeben können, er wollte, dass seine Worte die Gedanken eines Anderen wurden und nicht mehr leise ins Nichts verliefen. Eben ganz und gar Mensch sein – nicht mehr allein!

Am Waldrand angekommen bremste er abrupt ab. Zu seiner Erleichterung war das Schiff immer noch am Boden verankert. Er konnte auch ihn sehen. Er stand angelehnt an dem kleinen Geländer der Terrasse, die seitlich am Rumpf des Zeppelins verlief. Es machte Chen so glücklich, dass ihm fast die Tränen kamen. Er trabte auf die offene Fläche, kam wieder vierzig Meter vom Luftschiff entfernt zum Stehen, hob Brief und Eintopf hoch in die Luft und wedelte damit herum. Dann stellte er beides demonstrativ auf dem Boden ab und bewegte sich davon weg. Er entfernte sich so weit er konnte, solange, bis ihn der Abgrund der Schlucht aufhielt und nicht mehr weiter ließ. Von dort aus musste er über hundert Meter von ihm entfernt sein, ein sicherer Abstand!

Er sah zu, wie der Mann an das hintere Ende der Terrasse lief, wo man ein Stück des Geländers zur Seite hin wegklappen konnte. Mit einem vorsichtigen Satz hüpfte er von Bord und ging auf die Stelle zu, welche Chen gerade eben hinter sich gelassen hatte. Er nahm Eintopf und Brief, ging zurück, hievte sich am Geländer hoch und verschwand durch eine Tür, die am vorderen Ende und kurz vor Beginn des gläsernen Cockpits eingelassen war, im Innern des Luftschiffes.

Chen wartete lange. Er hatte sich am Boden niedergelassen, die Beine übereinandergeschlagen und rupfte kleine Grashalme aus der Erde. Mit jedem ausgerissenem Grün befürchtete er mehr und mehr, dass der Mann nicht mehr auftauchen oder das Luftschiff sich plötzlich erheben und verschwinden würde. Ob der Aufregung versagte ihm auch jegliches Zeitgefühl. Er konnte die Minuten oder Stunden nicht benennen, die er schon dort im Gras ausharrte. Dann wollte er gehen, entschied sich dagegen, wollte wieder gehen und blieb am Ende weiter sitzen. Zumindest solange Sonnenlicht die Wipfel der Bäume erreichte, wollte er bleiben, abwarten und hoffen, dass er sich wieder zeigen würde. Viel mehr hatte er an diesem Tag ohnehin nicht zu tun. Also rupfte er immerfort im Grün zu seiner Rechten und betete inständig, dass der Mann ihn nicht allein lassen würde.

Erst als die Sonne nur noch vier Finger breit über dem Horizont stand, öffnete sich endlich die Tür, durch die der Mann zuletzt verschwunden war. Er ging am Geländer entlang bis zum hinteren Ende des Luftschiffs, sprang von Bord und hielt zielstrebig auf die Stelle zu, die ihre Distanz zueinander halbierte. Er legte etwas ins Gras und nickte Chen entgegen, dann machte er kehrt, ging zurück zum Schiff und verschwand darin. Chens Herz pochte laut in seiner Brust, während er durch das hohe Gras stapfte und sich der Stelle näherte, an der etwas für ihn hinterlassen worden war. Nur für ihn, gegeben von einem anderen Menschen, ein unglaublicher Gedanke! Sein Mund war trocken geworden und ihm war leicht übel, so sehr fieberte er diesem Moment entgegen. Er würde gleich zum ersten Mal seit vier Jahren Kontakt mit einer anderen Person haben, mit ihm in irgendeiner Art und Weise kommunizieren. Hoch hinauf reckte er seinen Hals, um vielleicht schon vorab einen Blick auf das zu erhaschen, was dort im Gras auf ihn wartete. Er erkannte etwas Dunkles, Kleines. Daneben ein zweiter Gegenstand aus Glas, der die letzten Lichtstrahlen des Tages reflektierte und in ein kräftiges Orange verfärbte, wie bei einem Bernstein, den man in die Höhe hob und im Gegenlicht der Sonne betrachtete.

Die letzten Meter brachte er mit zwei Sprüngen hinter sich, blieb dann direkt davor stehen und traute seinen Augen kaum. Dort im Gras vor ihm lag kein Blatt Papier, kein Brief als Antwort, wie es Chen erwartet hätte. Stattdessen ein kleines, schwarz-graues Diktiergerät. Daneben ein kleines Fläschchen mit einer honigfarbenen Flüssigkeit darin und ein Papierzettelchen mit einer kurzen Notiz:

Es ist sehr lang geworden. Höre es Dir am besten zu Hause an. Ich höre dann morgen von Dir! :)

Chens Finger zitterten, während er das Stück Papier in die Tasche steckte, um nach dem Diktiergerät und dem Fläschchen zu greifen. Er blickte auf in Richtung Schiff, doch der Mann war nicht mehr zu sehen. Also nahm er in die Linke das Fläschchen, in die Rechte das Diktiergerät und hielt beide Gegenstände dicht an seinen Körper gepresst, fast so, wie man einen Säugling zu tragen hatte, dessen Leben noch zerbrechlich und fragil war. Vorsichtig ging er in den Wald zurück und achtete dabei auf jeden seiner Schritte, um den Schatz in seinen Händen nicht zu gefährden.

An der Hütte angekommen verschloss er die Tür hinter sich und setzte sich auf die Isomatte, die ihm als Matratze diente. Er legte das Fläschchen zur Seite, entflammte die Petroleumlampe und begutachtete das Diktiergerät im aufblühenden Licht. Einige seiner Kollegen bei der Shima Shinbun hatten ein solches Modell benutzt, dabei war es schon damals ein Relikt aus alter Zeit gewesen. Eigentlich verwendete jeder das Smartphone, um ein Gespräch aufzuzeichnen und zu späterem Zeitpunkt wiederzugeben, dennoch waren diese weniger vielseitigen und batteriebetriebenen Geräte nie zur Gänze ausgestorben. Zum Glück!

Chen atmete flach. Er streichelte über das Plastik in seiner Hand und bewegte schließlich seinen Finger auf den Knopf mit dem Pfeil darauf zu. Dann konnte er zum ersten Mal seine Stimme hören. Sie war warm und alt und weise und freundlich und wunder, wunderschön. Sie war wie kostbarer Balsam, heilend, ruhig, gespickt mit tiefem, zufriedenem Atmen. Er klang wie ein Geschichtenerzähler, der Sprecher eines Hörbuchs, betonte seine Sätze hie und da, nur um dann wieder beiläufig, flink und selbstverständlich weiterzusprechen. Vor allem sprach er mit einem solchem Optimismus, einer solchen Offenheit, einer Einstellung, die sagte: Ach, die Welt ist groß und schön und alles, wirklich alles ist möglich!

„Hallo lieber Chen! Du hast mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt vorhin. Ich hoffe, ich bin mit meinem Schiff nicht in deinem Vorgarten gelandet!“, der Mann lachte, ehe er die Albernheit mit einem langen Seufzen beendete und zu seinem Monolog zurückkehrte.

„Wir sollten uns vielleicht erst vorstellen. Oder Ich. Aber eigentlich auch wir. Also, du musst wissen, das Luftschiff, das du gesehen hast, ist gewissermaßen ein Teil von mir. Ich bewohne es jetzt doch schon geraume Zeit, du darfst mich nicht für verrückt halten, aber es ist mir fast wie ein Gegenüber geworden. Mein Name ist Bill. Ihr Name ist Jacky. Ich habe sie nach der Frau von Kennedy benannt, weil sie ebenso schön wie kämpferisch ist. Liebst du diese Eigenschaft nicht auch an einer Frau? Sie sind furchtlos! Davon können wir Knacker uns eine Scheibe abschneiden“, wieder begann er laut zu lachen, gefolgt von kräftigem Schlucken.

„Also Chen, die Zeiten sind schnelllebig geworden und man trifft nicht mehr so häufig auf Menschen. Ich habe mit Jacky die Welt von oben beobachtet, habe zugesehen, wie sie langsam zugrunde ging und jetzt in Trümmern vor uns liegt. Ich habe unzählige Geschichten gesammelt, von denen ich dir berichten könnte. Aber ich bin alt und mit dem Alter kommt der Egoismus. Deswegen möchte ich mit einer ganz besonderen Erzählung beginnen. Eine für mich ganz besondere. Meine Geschichte. Ich wünsche mir, dass du mich kennenlernst und ich würde so gerne auch dich kennenlernen. Jacky und ich suchen Geschichten und tragen sie weiter. Sollte es dann so kommen, dass wir alle enden – und es wird so kommen – dann wird vielleicht das, was nach uns kommt, diese Geschichten finden.“ Den letzten Satz füllte er mit Freude an. Chen stellte sich vor, dass seine Augen bei diesen Worten im Licht einer Kerze funkelten, die neben ihm stand. Nein, nicht möglich, es war ja Tag gewesen, als er die Aufnahme gemacht hatte.

„Ich entschuldige mich also bei dir, dass ich so mit der Tür ins Haus falle, aber ich denke, du bist im Stande, diese Aufnahme abzubrechen, wenn es dir zu viel werden sollte.“

Dann Stille. Bill sagte nichts. Kurz dachte Chen, das Gerät hätte einen Fehler, drehte es in seiner Hand, begutachtete es und führte es dann ganz nah an sein Ohr heran.

„Ahhhh, Gottseidank, du bist noch da! Es wäre wirklich schade gewesen, wenn unser Erstkontakt so endete!“

Bill lachte laut.

„Also, mein voller Name. Vielleicht beginne ich damit…

Die letzten Wolkensegler

Подняться наверх