Читать книгу Die letzten Wolkensegler - Lukas Kellner - Страница 9
Plausch
ОглавлениеAls Chen das Tonband weiter ablaufen ließ, sollte es noch eine ganze Weile dauern, ehe Bill abermals das Wort erhob.
„Ich habe dir ein bisschen meines besten Whiskys mitgegeben. Wie der Zufall will, ist es ein japanischer. Hibiki war immer einer meiner liebsten, Jake wusste das. Er war so frei, mir einige Flaschen in Jacky einzulagern. Ich bin mir sicher, dass auch du Menschen verloren hast, sei es durch den Tod oder durch die Distanz“, man hörte einen hohen Ton, wie er nur entstand, wenn Glas auf Glas traf.
„Ich stoße auf sie an. Mögen sie immer in unserem Herzen bleiben. Wenn du willst, Chen, so tue es mir gerne gleich. Und wenn du dabei auch an sie denken solltest: Sie hatte braune Augen und langes, krausiges, schwarzes Haar. Sie war die Schönste von ihnen allen.“ Wieder pausierte er das Tonband. Bill klang bei den letzten Worten nicht traurig, viel mehr überglücklich, stolz und energisch wie ein Vater, der mit seinem Kind vor anderen angeben wollte, während es neben ihm stand. Chen betrachtete das Fläschchen in seiner Hand, entkorkte es und nahm einen vorsichtigen Schluck daraus. Die Flüssigkeit brannte auf Zunge und Rachen. Doch als dieser Schmerz verflogen war, entfalteten sich der unglaubliche Geschmack in Chens Innern. Das was vom Brennen blieb, war die Essenz von Honig, von warmer Süße, von Kaminfeuer und Butterkeksen.
Chen spürte wie ihn der Alkohol alsbald umgarnte, wie er ihn sanft in den Arm nahm und die Welt ein bisschen von ihm entrückte. Nur gerade so viel, dass sie nicht mehr so real sein musste, wie es sonst diktiert wurde. Er ließ die Aufnahme weiterlaufen.
„Das war sie im Grunde. Meine Geschichte. Du magst jetzt sagen, dass das schon über vier Jahre her ist, doch an diesem Tag endete meine. Seitdem lebe ich von der Erinnerung und beobachte andere Geschichten. Ich habe das Privileg zu sehen, in einer Zeit, in der niemand mehr sehen kann. Mir ist es selbst erst lange nach ihrer beider Tod aufgefallen. Was es für ein Fügung war, dass Jake von all meinen Konstruktionen und Hirngespinsten ausgerechnet das Luftschiff gebaut hat. Ein Gefährt, das still und unbeteiligt über die Wolken gleitet. Das beobachtet, ohne zu urteilen. Ich glaube das ist meine Aufgabe im Moment. Und vielleicht findet meine Jacky dann irgendwann das entscheidende Teil, das dieses dunkle Puzzle zu lösen vermag. Bis dahin beobachte ich eben weiter und suche nach Geschichten. Deswegen, Fremder, möchte ich dir anbieten, nein, dich bitten, mir deine Geschichte mitzuteilen. Ich würde mich sehr freuen, wenn du sie mir erzählst. Und wer weiß, vielleicht kann dir ein alter Mann wie ich noch von Nutzen sein. Außerdem: Ein gepflegter Plausch ist selten geworden, sogar unmöglich wie du weißt. Wir sind hier also in einer glücklichen Position. Das Aufnahmegerät hat genug Platz für eine weitere, lange Aufnahme. Wenn du willst, spreche gerne alles darauf, was dir auf dem Herzen liegt, lege es morgen an die Stelle zurück und ich werde zuhören.“ Man konnte hören wie Bill einen weiteren Schluck nahm.
„So, ich denke ich habe dir genug Zeit gestohlen. Ich hoffe, ich höre dich morgen. Ach ja, eines noch: Falls du weißt, wo es hier in der Region noch Nahrungsmittel gibt, dann denke doch an mich. Meine Vorräte werden langsam knapp…. Gehabe dich wohl und… danke!“
Ein leises Klicken ließ Chen wissen, dass die Aufnahme zu Ende war. Er nahm den letzten Schluck Whisky und legte sich auf die Isomatte. Über ihm verliefen die dunklen Balken quer, die das Dach auf seiner Hütte stützten. In seinem ganzen Körper zuckte und knisterte es. Obwohl das Erzählte in großer Tragik endete und obwohl seine Augen wässrig glitzerten, hatte es Bills Stimme geschafft, jeglichen Schmerz aus Chens Körper zu ziehen. Seine Art und Weise, seine Stimme, sein ganzes Wesen, erinnerten nicht an Trauer oder Leid, sondern einzig und allein an vollkommene Schönheit. Obwohl er das Kostbarste verloren hatte, schien er das Leben immer noch für das Wunderbarste zu halten, für ein Kunstwerk, für pure, fleischgewordene Perfektion. Chen war sich nicht sicher, ob es an dem Whisky lag oder doch an Bills Geschichte, aber zum ersten Mal seit langer Zeit spürte er keinen Groll, keine Trauer, kein Bedauern, kein Bereuen. Nur Dankbarkeit.
Er nahm das Aufnahmegerät und begann zu sprechen. Auch er nannte seinen vollen Namen und erzählte – von sich, seinem bisherigen Leben, seinem einstigen Beruf, seiner Schwester, seinem Vater und davon, dass er nicht wusste, ob sie noch lebten. Wie sehr er seine Aya vermisste, weil er bei ihr immer er selbst sein konnte und umgekehrt. Was sie alles getan und wie viel Dummheiten sie angestellt hatten. Dass er sehr stolz auf seine Schwester war, so wie Bill auf seine Tochter. Dass er Jacky gerne kennengelernt hätte und dass Bill ihm gerne – sollte er länger bleiben – noch mehr von ihr erzählen könne.
Chen nutzte auch das Angebot, das ihm Bill unterbreitet hatte. Er stellte ihm Fragen. Wie er es schaffte, nicht den Verstand zu verlieren, allein ohne Kontakt zu irgendjemandem. Wie es kam, dass er keinen Groll im Herzen trug oder ob es nur Chens Eindruck gewesen war. Und schließlich, ob er Dinge gesehen hatte, die einen zur Hoffnung verleiteten. Orte, an denen Menschen sich wieder näherkommen konnten.
Als er seine Aufnahme beendete, war es sehr spät geworden. Chen stand auf, nahm einen Schluck Wasser und sah durch das Fenster hinaus in den dunklen Wald. Draußen lag die Nacht zwar finster, doch in ihm war es hell wie schon lange nicht mehr. Und wenn man sich nur genug anstrengte, konnte man sogar das Licht in der Dunkelheit erkennen. Der Himmel war klar und der Mond umhüllte die Bäume mit einem Mantel aus Silber und Schwarz.
Ein gepflegter Plausch ist selten geworden. Wer hätte gedacht, dass es nur eines Plausches bedurfte, um seine Seele zu heilen, zumindest für einen Moment. So lange, bis sie wieder da wären. Die dunklen Nächte, frei des Mondes, die Suicidals, die Einsamkeit, die Angst.
Chen legte sich zurück auf die Matte. Er spulte das Tongerät auf den Anfang und legte es vorsichtig dicht an sein Gesicht. Während Bill noch einmal über seine Zeit beim College berichtete, war er bereits eingeschlafen.
Als er am nächsten Morgen erwachte, wog seine Seele wieder etwas schwerer. Dennoch verharrte er nicht lange, stand auf, beging sein morgendliches Ritual am Ichitaka und machte sich sogleich mit dem Jutebeutel auf den Weg. Als er die Ebene erreichte, erschrak er, weil das Luftschiff verschwunden zu sein schien. Entrüstet blickte er wild um sich und stellte mit Erstaunen fest, dass die Jacky nicht weg, sondern in der Luft war. Sie schwebte gut fünfzig Meter über dem Boden, einzig an einem langen Seil aus Stahl befestigt.
„Natürlich…“, sagte Chen zu sich, während ihm der Schrecken noch immer in den Gliedern steckte, „Bill muss auch vorsichtig sein.“
Fröhlich, weil er seinen Plan nun doch weiterverfolgen konnte, ging er auf die Klippe zu. Einzig Milan schien über ihren Gast nur wenig erfreut zu sein. Immer wieder flog er in Jackys Richtung, nur um kurz davor einen Haken zu schlagen und seinen Angriff von vorne zu beginnen.
„Ach hab dich nicht so!“, zischte Chen. Mehr redete er nicht mit Milan an diesem Tag. Es fühlte sich falsch an. Vielleicht lag es daran, dass er zum ersten Mal seit langem wieder Worte mit einem Menschen gewechselt hatte. Vielleicht aber auch daran, dass er sich beeilen wollte. Nicht lange sollte Bill auf seine Antwort warten müssen. Er stieg hinab ins Tal, durchquerte das Dorf und betrat den alten Krämerladen. Er überlegte, was Bill wohl am liebsten mochte. Am Ende entschied er sich für ähnliche Dinge, über die auch er sich sehr gefreut hätte: eine Zahnbürste, Zahnpasta, eine Packung Lakritz, zwei Tafeln Schokolade, Dosenbrot, Drei Dosen Eintopf und ein Sack Reis, den er im Hinterzimmer gefunden hatte.
Beim Reis zögerte er zunächst. Auch ihm hätte das Korn geschmeckt und für eine Weile das Überleben gesichert. Doch seine Kartoffeln würden in einer Woche erntebereit sein und Bill hatte keine Möglichkeit, einen Acker anzulegen. So war es nur richtig, ihm den Reis zu überlassen. Schwer beladen machte er sich auf den Weg nach oben. Zweimal musste er pausieren, um wieder zu Atem zu kommen und das Brennen in seinen Schenkeln abklingen zu lassen. Er achtete darauf, dass die Pausen nicht neben den beiden Toten passierten, deren Leichen noch immer unverändert auf der Treppe moderten und faulten. Genau genommen bemühte er sich, besonders schnell an den beiden vorbeizukommen, denn der Duft von Verwesung und Eiter wehte ihm schon Meter zuvor entgegen. Krähen und Geier hatten sich an ihren Kadavern gelabt. Wo einst Augen stierten, waren nur noch leere Höhlen, die aufgedunsenen Körper durchzogen von Bissen und Rissen. Vielleicht hätte er gut daran getan, die Körper über das Geländer in die Tiefe zu werfen, doch nun wagte er es nicht mehr, sie zu berühren.
Als er sich der Kante näherte, sah er zuerst Jacky, die weit über allem anderen schwebte. Er wanderte durch das hohe Gras, bis an die Stelle, an der er gestern Aufnahmegerät und Fläschchen erhalten hatte. Chen kniff die Lider zusammen und hielt die flache Hand schützend über seine Augen, um beim grellen Sonnenlicht besser gen Himmel sehen zu können. Er erkannte Bill, wie er ihn vom Geländer aus beobachtete und zu winken begann. Chen winkte zurück. Dann legte er den Jutebeutel ins Gras und das Aufnahmegerät daneben. Er verneigte sich und ging zurück in Richtung Wald. Von dort aus beobachtete er, wie sich Jacky langsam gen Boden absenkte und schließlich sanft aufsetzte. Bill kam zum Vorschein und holte Jutebeutel sowie Aufnahmegerät ab. Nachdem er damit im Luftschiff verschwunden war, machte sich auch Chen auf, denn es war ihm danach, sich zu bewegen. Die Schwere vom Morgen hatte ihn verlassen. Zurückgeblieben waren das Glück und die Schönheit seines Plausches mit Bill. Es war etwas an seiner Stimme, die Chen dazu anhielt, die Welt aus anderen Blickwinkeln zu betrachten. Möglichkeiten dort zu erkennen, wo er früher niemals welche vermutet hätte. Er bewegte sich mit einer Leichtigkeit durch das Geäst, wie er sie über Jahre hinweg vermissen ließ. Nie hatte er sich zu weit von der Hütte fort getraut, nur wenn es nötig war, begab er sich auf längere Wanderschaften, meistens, um zu jagen, zu pflanzen oder Milan zu treffen. Schon gar nicht war er in die Richtung gestreunt, aus der er vor über vier Jahren gekommen war. Noch konnte er die Bächlein benennen, die er überquerte. Jashin, Komomoto, Rin. Doch den nächsten schon würde er nicht mehr beim Namen rufen können, einfach, weil er ihm niemals einen gegeben hatte.
Er betrat einen Teil des Waldes weit hinter seiner Hütte, entgegen der Richtung, die zur begrasten Ebene führte, dort, wo es dichter und dunkler war, wo es kein Wasser gab und die Bäume alle Nadeln trugen. Auch war der Boden braun und stachelig, die Sicht begrenzt und die Luft durchtränkt vom Geruch nach klebrigem Harz. Er kämpfte sich durch das Dickicht und hielt nur sehr selten an, wenn er ein Geräusch hörte, das er sich nicht auf Anhieb erklären konnte. So ging es lange. Es musste eine Stunde gewesen sein, vielleicht auch zwei. Erst dann wurde der Wald lichter und das Gezwitscher der Vögel wieder lauter. Früher konnte man von dort aus bereits die Straße hören, denn sie war oft befahren in den alten Tagen. Heute lag sie verlassen da und das Gras wucherte wild an beiden Seiten empor. Chen war nur ein einziges Mal an diesen Ort zurückgekehrt. Damals, um Benzin aus dem Auto zu saugen für seine Lampe. Und auch heute noch stand der Toyota Geländewagen geparkt am Straßenrand. Doch seine Felgen waren noch rostiger geworden, ein großer Ast lag auf der Windschutzscheibe und Brennnesseln schlängelten sich an den Seiten nach oben. Egal, er war nicht wegen des Benzins gekommen, keine Notwendigkeit hatte ihn herbestellt. Es war mehr eine Laune gewesen, ein stiller Ruf, den er empfing, als er an diesem Morgen das Luftschiff gesehen hatte, geradezu ein Bedürfnis. Denn wenn der Wind richtig stand, war das einzige Hindernis für den herrlichen Duft der dichte Wald. Dieser Duft war der Grund für seinen spontanen Ausflug.
Chen überquerte die Straße und ließ dabei seinen Blick kreisen. Das Land ab hier war flacher. Es gab keinen Wald mehr, keine Berge oder Schluchten. Vereinzelt hob sich das Terrain sanft auf und ab, wie die Brust beim Atmen. Nach einer Weile schloss er die Augen. An anderen Tagen hätte ihm das die nackte Angst in die Knochen getrieben, doch jetzt vertraute er auf den guten Willen der Welt, der ihm lange abhandengekommen war. Als er tief einatmete konnte er es riechen, schmecken, sogar fühlen. Das Salz, die Gischt, die Wellen. Wenn der Wind nur richtig stand, wehte er die Seele des Meeres bis an den Waldesrand heran, obwohl die See erst fünfzig Kilometer entfernt begann und von Chens Position aus nicht einmal zu erblicken war. Der Duft nach Freiheit überwältigte ihn. Er warf den Kopf in Nacken und war so überglücklich am Leben zu sein, genoss die Möglichkeit, diesen Augenblick voll und ganz auszukosten. All das nur wegen der Stimme eines alten Mannes? Oder war es die Idee, die in ihm geboren worden war. Die Idee, dass er vielleicht gar nichts zu befürchten hatte? Und wenn er nichts zu befürchten hatte, dann gab es die Möglichkeit, dass irgendwann niemand mehr fürchten musste. Warum hatte er die Begegnung mit den Suicidals überlebt? Einmal könnte Zufall sein, aber zweimal? Nein, so gut meinte es das Schicksal nicht mit ihm. Schicksal… Vielleicht war es genau das. Vielleicht war das der Grund, der Bill zu ihm geführt hatte. Warum sonst juckte ihn dieses starke Bedürfnis, mit einem Fremden alles zu teilen, was er besaß? Und war es überhaupt dienlich, ihm davon zu erzählen, von einer Anomalie, wo doch schon damals alles Böse, alles Dunkle und all das Leiden mit einer ‚Anomalie’ begonnen hatte? Was für einen Unterschied machte es in seinem, in ihrer aller Leben, wenn es nur Chen so erging und die Erprobung dieses Wunders an anderen einem Mord gleichkommen konnte? Doch warum sonst sollte es in ihm so warm sein, wie seit Jahren schon nicht mehr? Warum gerade jetzt und warum so unendlich schön? Zufälle mochte es geben, aber selten fühlten sie sich derart… derart vollkommen an.
Er würde ihm davon erzählen, würde ihn um Rat fragen. Bill war ein Mann der Hoffnung und er würde ihm damit helfen, so wie er ihm letzte Nacht geholfen hatte. Wenn es einen Menschen auf der Erde gab, dem er davon erzählen wollte, dann war er es und weiter: Wenn Bill vielleicht der letzte, echte Mensch auf der Erde war, dann sollte es doch sogar seine Pflicht sein, ihm von diesem sonderbaren Ereignis zu berichten? Eine Pflicht ist eine Aufgabe, ist ein Ziel!
Chen öffnete die Augen und sah vor sich kein Meer. Er nickte, verneigte sich und ging zurück in den Wald. Vielleicht würde Bills Nachricht schon auf ihn warten.