Читать книгу Die letzten Wolkensegler - Lukas Kellner - Страница 6
Gedeih und Verderb
ОглавлениеChen würde ihren Blick niemals vergessen. Sie war sechs Stufen von ihm entfernt plötzlich stehengeblieben. So als hindere sie eine unsichtbare Wand daran, weiter auf ihn zuzujagen. Ihre Augen schienen glückselig, ihre Züge munter, die Hände waren noch immer nach ihm ausgestreckt. Dann ging sie auf die Knie, kippte vorn über und starb.
Chen bekam keine Luft, sein ganzer Körper kribbelte und schmerzte, überall zog und brannte es, Krämpfe durchzogen seine Waden und Zehen, ihm wurde schwindelig. So fühlte es sich also an. Er hatte sich immer gefragt, wie es wohl war, diesen Tod zu sterben, das zu fühlen, was die Hunderttausenden, die Millionen vor ihm gefühlt hatten. Ob es weh tat oder ob es schnell ging. Jetzt glaubte er, diese Antwort zu kennen.
Falsch. Im nächsten Moment begann er zu keuchen. Luft durchströmte aggressiv seine Lungen und das Herz in seiner Brust presste Blut mit aller Gewalt durch seine Adern. Chen sackte zusammen und krachte auf die Stufen. Er starrte auf den Hinterkopf der Frau, die drei Meter vor ihm kollabiert war und ebenfalls in der Schräge auf dem Holz lag.
Er fasste sich an die Brust, wollte sicher gehen. Es schlug. Mit dem nächsten Atemzug konnte er es schmecken. Er leckte sich über die Lippen, hob die Hände vors Gesicht, begutachtete sich, begutachtete das Leben, das ihn durchfloss. Dann brach es aus ihm heraus.
„JA! JAAAAAA!!!“
Er wollte nie mehr aufhören zu schreien. Wie sehr hatte er es vermisst so laut zu sein, das Verbot zu ignorieren, das ihm die Welt und die Angst ausgesprochen hatten. Furcht und Flucht, immer und ständig. Er schrie so sehr, dass es ihm im Hals weh tat und so lange, bis ihm die Stimmbänder versagten. Es dauerte fünf Minuten, bis er wieder einigermaßen bei Sinnen war.
„Tja, dann bin ich wohl unsterblich“, gluckste er mit belegter Stimme. Staksig stieg er über die beiden Leichen und redete dabei unentwegt weiter.
„Für mich müsst ihr früher aufstehen! Ihr seid gruselige Kerle, gruselig, aber ich… ich bin eine Bestie!“ Er spannte jeden Muskel in seinem Körper an, nahm die Arme hoch und pumpte seinen Bizeps auf. Ein Krampf unterbrach den Siegeszug.
„Ha, na gut, vielleicht nicht ganz“, lachte er, während er versuchte seine Arme auszustrecken, um dem stechenden Schmerz ein Ende zu setzen.
„Ich glaube, man sollte so etwas feiern. Sollte man sowas nicht feiern? Doch, man sollte sowas feiern! Und was macht man beim Feiern?“ Er wartete ab, ob vielleicht doch von irgendwoher eine Antwort herbeifliegen würde. Nichts geschah. Es kümmerte ihn nicht.
„Richtig, essen! Haha!“, es dauerte den gesamten Weg hinunter in die Schlucht, bis er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Ernüchterung folgte auf den Fuß. Er drehte sich um und sah die Treppe hinauf. Weit von ihm entfernt konnte er die zwei Körper erahnen, leblos umgefallen, wie Leinensäcke mit Kartoffeln. War es schon so weit mit ihm gekommen? Hatte die neue Welt, die Einsamkeit, das aus ihm gemacht? Zwei Menschen waren tot und für ihn war das ein Grund zu feiern? Auch wenn sie versucht hatten ihn umzubringen, er wollte nicht zu so einem Menschen werden, niemals.
Dabei galt sein Jubel weniger dem Tod der beiden Menschen, mehr der Abwesenheit eines Gefühls. Chen war zwar immer einsam, doch niemals allein. Die Angst war sein ständiger Begleiter und gerade eben hatte er zum ersten Mal seit Jahren keine Angst mehr verspürt. Erst jetzt bahnte sie sich langsam ihren Weg zurück, berührte ihn am Nacken und umgarnte seinen Geist. Ihm kamen Zweifel. Konnte das noch Zufall sein? Zweimal hintereinander? Wieso waren sie überhaupt aufgetaucht? Es war nicht einfach herzukommen, deswegen hatte er ja gerade diesen Ort ausgewählt.
Chen betrachtete seine Hände, während er über die Holzplanken lief, vorbei an den kleinen Häusern, der Leiche im Schaukelstuhl, den Laternenpfosten, deren Lampen schon seit Jahren nicht mehr brannten, zurück zu der Stelle, an der er ein paar Stunden zuvor den Beutel mit Lebensmitteln zurücklassen musste. Damals gab es keine Ausnahme. Hatte es sich vielleicht so sehr abgeschwächt, dass der Tod nicht mehr sicher war und an Gewissheit verlor? Mehr ein Spiel mit dem Zufall, wie bei einem Russisch Roulette? Und man hatte es einfach nicht bemerkt, weil nicht mehr genug zum Bemerken übrig waren? Oder hatte er einfach zwei Mal undenkbares Glück gehabt? Es musste so sein. Die Menschen hätten es mitbekommen, wenn es an Kraft und Letalität verloren hätte. Ohne Zweifel!
Als er die Sachen vom Boden aufhob und seine Pfeile gefunden hatte, bemerkte er abermals, wie sehr ihn der Hunger peinigte. Auf dem gesamten Weg zurück zur Hütte malte er sich aus, wie er sich gleich den Bauch vollschlagen würde. Nur bei den zwei Leichen machte er kurz Halt, kniete sich nieder und schloss die Augen. Zwar sah er sich nicht als Mensch des Glaubens oder der Religion, doch war er der Auffassung, dass man an die Toten denken könne und es würde sie genauso unsterblich machen, wie die Versprechen irgendeines Gottes. Er stellte sich vor, wie die beiden wohl gewesen waren, damals, als es keine Todeswellen gab, als Verzweiflung und Angst keinen bis zur Unkenntlichkeit hin verformten, sodass es fraglich war, ob die Bezeichnung Mensch überhaupt noch zutraf. Konnte man ihnen überhaupt vergeben? Seine Mutter hätte es von ihm verlangt. Wichtig sei das Vergeben, nicht nur für den Empfänger, sondern vor allem für einen selbst. Das hatte sie ihm eingeschärft, mehr als alles andere. Irgendwann, nachdem er eine Weile an die beiden, an seine Mutter und an das Vergeben gedacht hatte, erhob er sich, griff im Aufstehen nach dem Jutebeutel und machte sich eilends in kindlich, hysterischer Vorfreude auf den Weg.
Zurück in der Hütte nahm er sich Zeit. Sehr viel Zeit. Denn er hatte vergessen, wie wunderbar sie schmeckte. Chen fühlte sich, als könnte er Bäume ausreißen und kaute jedes einzelne Stück der Schokolade so lange es ging. Der Zucker gab ihm ein Gefühl der Vitalität, wie er es seit Ewigkeiten nicht mehr verspürt hatte. Er füllte den Behälter der Petroleumlampe nach, öffnete eine Dose Eintopf und sah sich im flackernd gelben Licht weitere Zeitungsartikel an, die er vorhin auf seiner Isomatte hatte liegen lassen.
Es ging damals alles sehr schnell. Jeden Tag verzeichneten Krankenhäuser auf der ganzen Welt mehr und mehr Tote. In den Medien kursierten tausende Theorien, was die Ursache für das Massensterben sein konnte. Auch bei der Shima Shinbun zermarterten sie sich die Köpfe, doch selbst die Experten waren sich allesamt uneins. Chen hatte zu diesem Zeitpunkt noch drei weitere Male mit Doktor Gideon telefoniert und bei jedem Gespräch klang er ratloser und mehr in Sorge als beim Mal zuvor. Auch er konnte sich absolut keinen Reim darauf machen. Auffällig war, dass die Menschen anscheinend immer mindestens im Doppelpack starben. Es waren nie einzelne Todesfälle. Sie starben immer zusammen. Besonders häufig betroffen waren diejenigen, die auf engstem Raum zusammenlebten. Familien, Arbeitskollegen, Paare. Die Todesursache war bei Obduktionen nie eindeutig zu bestimmen. Keines der Organe hatte Schaden genommen, sie schienen schlichtweg ihren Dienst aufgegeben zu haben. Bei ihrem letzten gemeinsamen Telefonat jedoch klang Gideon unerwartet euphorisch.
„Sind die Totenzahlen zurückgegangen?“, fragte Chen.
„Was? Äh nein, nein, verdoppelt. Aber ich habe gestern eine Obduktion selbst durchgeführt und dabei etwas entdeckt. Eine ungewöhnliche Schwellung am Hirnstamm. Ich habe die betroffene Stelle entnommen und mikroskopiert. Ich bin mir noch nicht sicher, ob Bakterium oder Virus, aber etwas scheint sich an der Stelle festgesetzt zu haben und eine Art Entzündung zu verursachen. Das heißt, wir können es heilen, verstehen Sie!“
Gideons Freude war nicht unbegründet. Die Welt reagierte schnell auf die Vorkommnisse. Binnen 48 Stunden hatten die meisten Länder die Maßnahmen wieder aktiviert, die zuletzt bei COVID-19 Anwendung fanden. Die Menschen durften ihre Häuser nicht verlassen, außer um einkaufen zu gehen; Kinos, Gaststätten, Schulen und Universitäten blieben geschlossen. Die Wirtschaft nahm die Situation gelassener hin als noch beim letzten Mal: Man kannte die Situation, es war nichts von Grund auf Neues und es würde vorbeigehen, vor allem, weil man es ja so früh erkannt hatte. Sicher würde es das…
Chen schob sich beherzt einen Löffel kalten Eintopf in den Mund. Die Brühe war fettig, das Fleisch zerfiel im Mund, der salzig-kräftige Geschmack breitete sich aus und stieg ihm in die Nase, es war wie der Himmel auf Erden. Es ließ seine Augen wässrig werden und er schämte sich sogleich, dass ein gewöhnlicher Eintopf ihn derart emotional machte. Schnell lenkte er seine Gedanken zurück auf die Artikel vor ihm. In den Tagen nach seinem letzten Gespräch mit Gideon wurde es zunehmend schlimmer. Was es auch war, es tötete die Menschen in Massen. Zumindest hatte man herausfinden können, dass die Tode immer zusammen auftraten. Bald wurde die Warnung herausgegeben, man dürfte sich einander niemals allzu nahekommen. Ein Mindestabstand von 30 bis 50 Zentimetern sei einzuhalten, auch bei Familien, Kindern und Partnern. Die Maßnahmen hatten kurzzeitig Erfolg. Zwei Tage lang ging die Sterberate leicht zurück. Die Regierungen gaben erste, vorsichtige Entwarnungen, mahnten aber dazu, die Maßnahmen weiterhin ernst zu nehmen, da noch nichts überstanden sei. Nicht einmal vier Stunden nach diesen Meldungen begann es.
Auf der Erde lebten damals rund 7 Milliarden Menschen. Binnen zwölf Stunden waren es nur noch 5,9 Milliarden. Überall Tote, egal wo. Am schlimmsten traf es die Städte. Die Menschen lagen auf offener Straße und in den Supermärkten. Dabei war das nur die Spitze des Eisbergs. Wegen der Ausgangssperre waren die meisten zu Hause in ihren Wohnungen gestorben, gemeinsam hinter verschlossenen Türen, abgeschottet von der Außenwelt. Bestatter konnten der schieren Welle an Leichen nicht mehr gerecht werden und selbst die Hilfe des Militärs war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. In diesen Tagen erhöhten die meisten Regierungen den Mindestabstand auf ein bis zwei Meter.
Die Hälfte des Eintopfs war bereits verschwunden. Chen hoffte, dass er nie den Grund der Dose erreichen würde, genoss jeden Löffel, behielt die flüssig-feste Masse lange in seinem Mund, ließ sie immer zuerst hin und her fließen, ehe er sie hinunterschluckte. An die nächsten Schlagzeilen konnte er sich noch sehr gut erinnern. Die Shima Shinbun war eine der ersten, die über das Phänomen, über sie, berichteten. Allerdings in sachlicher Manier. Die Überschriften, die jetzt vor ihm lagen, konnten sich diese Eigenschaft nicht zuschreiben.
Chaoten umarmen sich in den Selbstmord.
Aus Onlinereligion entsteht größte Mordwelle des 21. Jahrhunderts.
Hüten Sie sich vor den Suicidals - Wie Verrückte Sie in den Tod reißen.
Gleich zu Beginn waren die Social Media Kanäle durchflutet worden von Verschwörungstheorien und Weltuntergangs-Szenarien. Es war wie ein Krebs, der sich langsam durch das Internet zog. Binnen weniger Tage bekam eine Gruppierung namens ‚Suicidals‘ immer mehr Aufmerksamkeit. Sie hatten einen eigenen Twitter-Account, posteten regelmäßig auf Facebook, Instagram, Tik Tok und sogar Snapchat. Ihre Tonalität erinnerte an die der großen Weltreligionen, ihr Produkt waren Hoffnung und Stabilität; Mangelware und gern gesehen. Die Botschaft war einfach: Das Sterben sei notwendig. Die Welt muss heilen. Es ist unumgänglich, dass alle Menschen sterben, wirklich alle. Und am Ende werden diejenigen eine neue Welt begründen, die dieser Wiedergeburt am wenigsten im Wege standen. Sie hielten dazu an, auf andere Menschen „zuzugehen“.
„Dabei sollst du deine Augen mit Sonnenlicht bedecken“, hieß es in mehreren Kommentaren, die sich lasen wie Bibeltexte – von den Rechtschreibfehlern darin einmal abgesehen – und dazu führten, dass Anhänger der Ideologie ihre Augenpartien mit gelber Farbe schminkten. Zu Beginn belächelt von Regierung und Behörden, entwickelte sich die Bewegung mehr und mehr zu einer Bedrohung. Je aussichtsloser die Situation, je länger die Unwissenheit darüber, was das Massensterben verursachte, je widersprüchlicher die Aussagen der Politiker und Wissenschaftler, desto mehr Gehör fanden die Botschaften der Suicidals. Chen erinnerte sich an einen Kommentar unter den Postings dieser Selbstmörder, der ihm aufgefallen war, kurz nachdem die Regierung den Mindestabstand auf einen Meter erhöht hatte: „Ich glaube nicht an euren Bullshit! Aber die Drecks-Politiker haben keine Ahnung. Und wenn ich den Rest meines Lebens allein sein muss, dann bin ich halt lieber tot.“
Als die nächste Sterbewelle die Menschheit auf fünf Milliarden reduzierte, wurden Regierungsvertreter aller Welt aus den Städten evakuiert. Der Präsident der Vereinigten Staaten war bereits tot, genauso wie die Staatsoberhäupter von Frankreich, Großbritannien, Schweden, Mexiko und Polen. Den Menschen wurde jetzt empfohlen, zueinander stets drei Meter Abstand zu halten, was in den Städten so gut wie unmöglich war. Es war der Tag, an dem es wirklich schlimm wurde. Stadtbewohner gerieten in Panik und verließen fluchtartig die urbanen Regionen des Landes. Jeder fürchtete sich vor seinem Nächsten. Der Tod war Mensch geworden, denn jeder Mensch konnte Tod bedeuten. Das führte dazu, dass alle nur noch auf sich bedacht waren, das Ende der Rücksicht, der Nächstenliebe, der Zivilisation. Die Gesellschaft war aufgehoben. Vater, Sohn, Mutter, Tochter, Bruder, Schwester, Kollege und Kollegin, all das gab es nicht mehr. Binnen weniger Tage hatte die Krankheit die Fundamente der Menschheit zerbröckelt, so mühelos und selbstverständlich, als hätte es nie einen Zusammenhalt zwischen Individuen gegeben. Hinzu kamen die Suicidals. Ihre Angriffe wurden immer häufiger. Dabei rannten sie auf flüchtende Menschen zu, umarmten sie und starben mit ihnen. Die Krise hatte sie zum Ding werden lassen, nicht zum Menschen und auch nicht zum Tier, denn kein Tier tut, was sie getan haben, leblos, seelenlos, hoffnungslos.
Die Städte waren jetzt leer. Der Mensch zurück, einen Schritt näher an der Natur, doch noch nicht zur Gänze aus der Zivilisation vertrieben. Die überlebenden Regierungen etablierten ein neues Krisenmanagement. Sie schafften es, essentielle Versorgung aufrecht zu erhalten. Dies war auch der Tatsache geschuldet, dass die existierenden Notfallpläne mittlerweile auf die gesamte Menschheit ausgelegt waren. Auf über sieben Milliarden Menschen, von denen jetzt nur noch vier Milliarden übrig waren.
In den kommenden Wochen trauerte die Erde. Zwar verschlimmerte sich die Lage nicht, doch war sie ohnehin schrecklich genug gewesen. Die Menschen konnten sich nur noch auf zweieinhalb bis drei Meter nähern. Der soziale Kontakt war damit stark eingeschränkt, in einer Zeit, in der sich jeder nach einer Schulter zum Anlehnen verzehrte. Die Trauer war groß. Jeder hatte Tote zu beklagen. Verwandte, Geliebte, Kinder.
Über einen Monat lang versuchten sich die Menschen in Zusammenhalt zu üben. Der Gedanke, der in vielen Wurzeln schlug, gab ihnen Hoffnung: So viel mussten wir leiden, so viel Schmerz und Tod. Von jetzt an wird es besser werden!
Auch Chen war dieser Meinung gewesen und führte seine Arbeit fort. Er war ebenfalls auf das Land geflohen, in das Haus seiner Großeltern. Er erinnerte sich daran, wie ihre Leichen aussahen. Sie hatten sich das Leben genommen, mit einem erfüllten Leben hinter- und der Hölle vor sich. Gestorben, Arm in Arm.
Chen legte im gedimmten Licht seiner Petroleumlampe den letzten Zeitungsartikel weg und sah dann ihr Bild. Er hatte es vorsorglich mit den anderen Erinnerungen weggesperrt. Seit Jahren mied er dieses Foto. Denn ihre Augen verbrannten sein Innerstes und trafen ihn wie einer der Pfeile im Köcher, der neben ihm an der Holzwand lehnte.
Er stellte den leeren Eintopf zur Seite und sah nach draußen. Finsterste Nacht war eingekehrt. Kein Mond, der sein silbernes Licht an die Rinden warf, oder Sterne, deren Glitzern durch die Kronen blitzte und die so vom Bild in seinen Händen hätten ablenken können. Da war nur sie. Mit lautem Lachen und glücklichem Blick. Seine Schwester.
Sie hatte dunkelbraune Haare gehabt, fast schwarz, ähnlich dem geölten Holz des Nussbaums. Ihre Haut, ihre Augen, ihre Wangen und sogar das eine Grübchen auf der rechten Seite kamen von ihrer Mutter. Während Chen eher seinem Vater glich, blass und mit schwarzem Haar, hatte seine Schwester braungebrannte Haut, häufig kombiniert mit einem verschmitzten, frechen Lächeln, das einen herausforderte, nur um im nächsten Moment zu sagen, dass es ja doch alles Spaß war. Ihre blauen Augen strahlten hell wie Leuchtsteine, sogar nachts noch, wenn eigentlich gar kein Licht da war, das hätte reflektiert werden können. Anders als Chen war sie schon als Abenteurerin geboren worden, mit breiter Brust und erhobenem Kinn, mit einem natürlichen, gesunden Selbstbewusstsein, das es ihr ermöglichte, großherzig zu sein und zu vergeben, aber eben auch ‚nein!‘ zu schreien, ‚halt!‘ und ‚stopp!‘ auszurufen, wenn manches nicht richtig lief. Das führte dazu, dass sie sich nur selten etwas gefallen ließ. Als sie Kinder waren, hatte sie Chen einmal verprügelt, weil er ihr die Fernbedienung des Fernsehers entrissen hatte, vollkommen zurecht, wie er sich erinnerte, denn sie durfte an diesem Tag eigentlich das Programm bestimmen. Dabei war es ihr egal, mit wem sie es zu tun hatte und wie groß oder stark derjenige war: Wenn es sein musste, legte sie sich mit jedem an. Seine Schwester war trotz allem der mitfühlendste und sensibelste Mensch, dem er in seinem gesamten Leben begegnet war. Wie keine andere fühlte sie, wenn ihm etwas auf dem Herzen lag und er es einfach nicht aussprechen wollte, weil er sich davor fürchtete oder sich schämte oder beides. Und sie war witzig. Seine Schwester konnte der witzigste Mensch der Welt sein, zumindest, wenn sie Zeit mit ihm verbrachte. Dann erfand sie Sprüche, Pointen und eigene Kalauer als hätte sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan und als sei ihr Geist eine nie versiegende Quelle der Kreativität. So war sie. Seine Schwester. Aya.
Er verlor nach der Flucht in das Haus seiner Großeltern den Kontakt zu Aya. Das Mobilfunknetz funktionierte nicht mehr zuverlässig und es gelang ihm nicht, sie zu erreichen. Bei seinem Vater hatte er mehr Glück. Auch er überlebte die ersten Wellen des Sterbens und drängte darauf, sich bei seiner alten Jagdhütte zu treffen. Weit weg von allen wollte er mit seinem Sohn überdauern, bis es vorbei war. Doch Chen widersetzte sich, obwohl ihm das eigentlich überhaupt nicht ähnlichsah. Zeit seines Lebens hatte er sich in Demut geübt, war hörig geblieben im Angesicht des weisen Alters. Die Welt hatte ihm diesen Respekt diktiert, aber wenn die Welt nicht mehr existierte, dann zum Teufel damit. Er fühlte, dass es noch nicht vorbei war und dass er nicht einfach tatenlos dasitzen wollte. Er versuchte, Kontakt mit den anderen Überlebenden der Shima Shinbun aufzunehmen, ging mit vollem Eifer an die Arbeit, denn ein Ziel war Sinn und Sinn fehlte an allen Ecken und Enden. Die Ernüchterung folgte auf dem Fuß. Neben den Schwierigkeiten, die dem Notstand geschuldet waren – nur sporadisch Strom, Internet und Mobilfunk – stellte sich ihm die Sterblichkeit in den Weg. Gerade einmal zwei der ihm bekannten Mitarbeiter der Zeitung hatten überlebt. Er wusste noch genau, wie es war, als er Dominique erreichte, einen ehemaligen Jungredakteur, mit dem er bis dato nur zwei Mal an der Kaffeezeile geplauscht hatte.
„Dominique, hallo, kannst du mich hören?“
„Hallo?“
„Hallo, Dominique, ich bin Chen. Von der Shima Shinbun, der Chen, der Neue, du…“
„Oh mein Gott, Chen, du lebst, ich fass’ es nicht, du lebst wirklich, oh mein Gott, du…“ Dann brach Dominique in Tränen aus. Das Schluchzen war so laut, dass Chen das Handy eine Handbreit vom Ohr entfernt halten musste. Er wusste überhaupt nicht mit der Situation umzugehen, was gesagt werden sollte oder was man tun könnte, um dem Fluss aus Tränen ein Ende zu bereiten. Dann dachte er an seine Schwester und musste sich schnell auf die Stelle beißen, wo der Daumen an der Hand ansetzte, denn auch ihm stieg es hoch und füllte seine Augen.
Mit Dominique und einem weiteren Redakteur namens Shigeru recherchierte Chen weiter. Er kontaktierte Gideon via Mail, weil das internationale Telefonnetz zusammengebrochen war. Die Lage schien weltweit die Gleiche zu sein. Gideon war in ein Labor geflohen, das noch innerhalb der Stadtgrenzen lag. Er schrieb in Angst und Misstrauen, denn die Einzigen, die sich noch in den Städten herumtrieben, waren Scharen der Suicidals, auf der Suche nach Menschen, die sie mitreißen konnten. Gideon hielt sich versteckt und forschte weiter – sie vereinbarten, in engem Kontakt zu bleiben. Am selben Abend veröffentlichte Chen zusammen mit den anderen beiden einen Online-Artikel über den ‚Helden aus New York‘.
Mit Freude stellte er in den nächsten Tagen fest, dass auch viele Radiostationen ihre Arbeit wieder aufnahmen. Der Funk etablierte sich zum sichersten Kommunikationsmittel und wurde alsbald auch von den Regierungen genutzt. Hierüber wurde kommuniziert, wie es gelingen sollte, dass die Menschen einkaufen gehen können, nämlich durch ein Zeitplansystem, bei dem immer nur der Ladenbesitzer und der Einkäufer im Laden waren, zur vorgeschriebenen Zeit und mit vernünftigem Sicherheitsabstand. Außerdem wurden darüber die nötigsten Lieferketten organisiert und es wurde gewährleistet, dass überhaupt noch etwas zum Kaufen da war. Doch blieb auch die Gegenseite nicht untätig. Anhänger der Suicidals stiegen zahlenmäßig an. Sie warben über das Internet und vereinzelte Radiostationen, die sie ‚erobert‘ hatten. In diesen Tagen hielten sie ihre Anhänger dazu an, nicht andere Suicidals in den Tod zu reißen. Sie wären dazu bestimmt, dem Lauf der Dinge Folge zu leisten. Zwei Suicidals können gemeinsam vier Leben beenden. Wenn sie sich gegenseitig auslöschten, waren es nur zwei. Dieser Gedanke war so pervers, dass Chen noch heute schlecht dabei wurde. Übergeben wollte er sich bei dem Gedanken, bei wie vielen diese Ideologie auf freundliches Gehör gestoßen war.
Chen legte das Bild seiner Schwester zur Seite, denn es tat ihm weh, sie anzusehen. Damit war er beim letzten Blatt Papier aus dem gelben Schuhkarton angekommen. Es war ein Notizzettel, den er geschrieben hatte in jener Nacht, in der die Welt untergegangen war. Gideon hatte ihm am Morgen gemailt. Der Betreff lautete: VIRUS!!!!!
Lieber Chen,
Es ist ein Virus. Es ist doch ein Virus. Es verhält sich anders als alles andere, was ich bisher gesehen habe. Sehr untypisch. Im Grunde erinnert das Muster eher an einen Parasiten, aber es ist bestimmt ein Virus. Wie er sich überträgt und was das mit der Nähe zu Mitmenschen zu tun hat, konnte ich noch nicht entschlüsseln. Ich hoffe ich habe die Zeit, eine Therapie zu finden.
Es ist schlimmer geworden hier. Sehr viel schlimmer. Es gibt Berichte, dass sich Menschen jetzt gar nicht mehr nähern können, ohne zu sterben. Mir wurde von einem Kollegen an der Ostküste empfohlen, nun doch aufs Land zu fliehen. Irgendetwas scheint da passiert zu sein. Doch ich bleibe hier! Ich werde weitermachen. Wir schaffen das!
Liebe Grüße,
Dr. Markus Gideon.
Der Zenit nahte, ohne dass Chen ihn hatte kommen sehen. Gideon versteckte in seiner Mail zwar eine Warnung, doch Chen schenkte dieser keinerlei Beachtung, genauso wenig wie der Doktor selbst. Beide waren geblendet von der Euphorie über die neue Erkenntnis und dem Hauch von Hoffnung, den sie mit sich brachte. Es geschah während des Regens, als der Himmel so grau war wie die trüben Augäpfel einer erblindeten Alten. Als die Radiostationen davon berichteten, war es schon zu spät. Chen packte damals in großer Not Dinge in seinen Backpack, die er zum Überleben brauchen würde. Zahnbürsten, Zahnpasta, die Isomatte, Proteinriegel und Wasser. In panischer Eile vergaß er viele Dinge wie den Laptop oder sein Arbeitshandy von der Shima Shinbun.
Die Ersten waren bereits am frühen Abend tot. Der Rest folgte über Nacht. Der Radius hatte sich auf mindestens zehn Meter vergrößert. Mütter, Kinder, Männer, Frauen, Säufer, Flegel, Diebe und Priester; sie alle starben wie Ungeziefer. Chen hatte sich das Auto seiner Großeltern zu eigen gemacht und war losgefahren. Auf dem Weg sah er unbeschreibliche Dinge. Panik ließ die Menschen erblinden. Suicidals, die anderen nachjagten. Tote Körper, die vom Regen aufgequollen waren und aussahen wie Schwämme. Hysterisch kreischende Kinder, allein und durchnässt, die im nächsten Moment vornüberkippten und ohne erkennbaren Grund mit dem Gesicht auf dem dunklen Teer liegen blieben. Verzweifelte Hilferufe, die ertönten und noch im Schreien wieder verstummten. Es grenzte an ein Wunder, dass er es geschafft hatte. Sein Vater sollte am Ende doch Recht behalten. Die Hütte war der einzig sichere Ort. Und er war töricht gewesen, nicht sofort dorthin zu flüchten.
Chen blickte vom Notizzettel auf und ließ seinen Blick über die dunkelbraunen Dielen gleiten. Das Orange der Petroleumlampe verlieh dem Holz einen erhabenen Schein, wie es sonst nur allerfeinstes Mahagoni besaß. Sein Vater war mit ihm oft hergefahren. Zusammen verbachten sie die Wochenenden im Wald, der Vater allein mit seinem Sohn, zwei Generationen, umgeben von Bäumen und Tieren. Er lehrte ihn, in der Natur zu überleben, welche Kräuter ihm bei Verletzungen am Auge halfen und welche er bei Durchfall verwenden konnte, um nicht an Gewicht zu verlieren. Sein Vater hatte ihm damit unbewusst das Leben gerettet. Denn ohne sein Wissen hätte er die Jahre im Wald nicht überstehen können. Wo war sein Vater, Hashirama Hyuga, jetzt? Er stellte sich diese Frage jeden Tag, obwohl ihm die Antwort dabei stets auf die Schulter tippte. Nie drehte er sich um. Nie sah er ihr in das hässlich-stinkende Antlitz. Er würde es schon geschafft haben. Er kannte ihn. Er war zäh. Ein Mann alter Schule. Er hatte gedient, als Zugführer bei der Kraftfahrer-Kompanie.
„Ein Motor reicht ihm. Er bewegt dir alles überall hin“, erzählte einmal einer von Hashiramas Freunden namens Yuma euphorisch und leicht beschwipst, nachdem er mit ihm von der wöchentlichen Schrauberei in einer gemeinsam angemieteten Hobby-Garage zurückkam. Wenn er, Chen, es geschafft hatte, dann würde es für ihn ein Leichtes sein! Doch täglich tippte ihm die Antwort wieder auf die Schulter und jedes Mal musste er lange mit sich selbst reden oder mit Ashoka oder mit dem Milan, um sich nicht doch aus Versehen umzudrehen.
Genug davon. Genug war es für einen Tag. Oder zu viel. Viel zu viel! Er sperrte die Sachen zurück in den kleinen Karton und stellte ihn in den Schrank. Er löschte das Licht der Lampe und fummelte in der Dunkelheit an den Knöpfen des kleinen, faustgroßen Radios herum, das neben der Isomatte am Boden lag. Um diese Uhrzeit würde er nicht mehr reden, nur noch Musik spielen. Die Radiostationen waren die letzten sendefähigen Überbleibsel einer einst dominierenden Rasse. Nur die Kleinen hatten überlebt. Die, die schon zuvor von Einzelnen betrieben wurden. Viele waren von Suicidals übernommen worden. Über den Funk versprühten sie ihren Hass, gehüllt in einen Umhang aus Hoffnung und Nächstenliebe. Doch nicht so Stan. „Der Große Stan, Shogun der Neuzeit“, wie er sich jedes Mal aufs Neue über das Mikrophon vorstellte, sendete noch regelmäßig. Weiß Gott, wie er an die Informationen rankam, die er jeden Abend verkündete. Vielleicht waren sie auch alle nur erfunden. Chen wäre es egal gewesen. Er lauschte Stan fast täglich, fieberte ihm entgegen, gespannt wie ein Kind am Weihnachtsabend. Die Stimme eines anderen Menschen zu hören – es war wie ein Zauber, den man nur verstand, wenn man die Einsamkeit kannte. Er liebte Stan, die Art und Weise wie er redete, seine Worte, stets in Hast gesprochen, so als müsste er gleich weiter zu einem wichtigen Termin. Sein Lispeln war der kleine Makel, der es vollkommen machte, wie Sommersprossen auf dem Gesicht der schönsten Frau der Welt. Stan hatte ihn so oft schon zum Lachen gebracht, und das, obwohl er meistens über das Leid sprach, das sie alle teilten:
„Leute ich kann’s euch sagen, ich bin heute mit den größten Schmerzen im Mund aufgewacht, Ziehen, Stechen, Drücken, Knacken, Zacken, einfach unglaublich, ich glaube mein Gebiss fault mir einfach weg.“
Eingespielte Lacher eines Publikums.
„Nein, wirklich, erst heute bin ich einem Suicidal begegnet. Nachdem ich Hhhhhhhhhallo gesagt habe, ist er tot umgefallen!“
Wieder Gelächter.
„Hach Leute, ich hoffe, das hört bald auf. Und mit ‚das‘ meine ich den ständigen Hunger, bald können sich die Suicidals bei mir aussuchen wie sie sterben: Vom Gestank oder vom geplatzten Trommelfell. Mein Magen knurrt in einer Tour!“
Ein eingespielter Tusch.
Stan war immer fröhlich in seinen Shows, kam vom hundertsten ins tausendste und ließ nie etwas vom Gefühl der Feindseligkeit ihrer gemeinsamen Welt durch den Äther wandern. Doch manchmal verschwand er unangekündigt, sendete für Tage, Wochen oder Monate gar nichts mehr und ließ Chen in Trauer zurück, weil er dann immer befürchten musste, dass sein Freund – konnte er ihn einen Freund nennen? – dass sein Freund nicht mehr existierte. Er hatte ein genaues Bild von ihm vor Augen, obwohl er ihm nie begegnet war und gar nicht wusste, wo sich seine Station befand.
Orangefarbenes Haar hatte er und er war sehr dünn, schlaksig, blass. Die Nase stand etwas auf, das verlieh ihm Ähnlichkeit zu einem Schwein, doch die Augen waren ganz und gar nicht tierartig, sondern voller Menschlichkeit, hellblau, häufig hin und her zuckend, immer auf der Suche nach einem Detail, dem man ein Lachen abgewinnen konnte. So stellte Chen ihn sich vor, auch jetzt, während er den richtigen Knopf herumdrehte, das batteriebetriebene Radio klickte und ihm die Stimme von Ray Charles sanft entgegen flüsterte. Es musste eine wahrlich einzigartige Frau sein, die er da besang. Hallelujah I just love her so. Bis ans Ende würde sie ihn lieben. Bis ans Ende.
Warum hatte er heute überlebt? Der Suicidal hatte es ernst gemeint. Alle beide hatten es ernst gemeint. Und alle beide waren tot. Und was machte es für einen Unterschied? Keinen. Es wäre immer noch dieselbe Welt. Und in der Welt gab es nur ihn, seinen Wald, Stan und Ray. Mit diesem Gedanken schlief er ein.