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2. Kapitel Sethos-Tempel, Abydos 2. März 2014, 11 Uhr

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Zum ersten Mal spulte Theo zum Schluss einer Führung einfach nur sein Programm ab. Er ärgerte sich über sich selbst, denn die letzte Station, das rätselhafte Osireion, war eigentlich der Höhepunkt der Führung. Die einen sagten, es handle sich um das Scheingrab des Sethos, während die anderen meinten, es mit einem Tempel zu tun zu haben, der älter war als der des Sethos, und es gab sogar Leute, die die Auffassung vertraten, das Osireion sei das Grab des Gottes Osiris selbst, denn angeblich sei hier einst sein Schädel bestattet gewesen. Doch Theo war mit dem Kopf völlig bei dem Felsspalt und der lockeren Steinplatte, ob er wollte oder nicht. Es war das erste Mal, dass er womöglich Zeuge einer archäologischen Entdeckung wurde, und er musste unbedingt dabei sein, wenn Bill Sheridan die Platte entfernte.

Was mochte sich darunter verbergen? Ein Zugang zu unterirdischen Gewölben? Dann dürften die Deep Dry-Leute gleich mal zeigen, was sie konnten, denn solche Gewölbe wären vermutlich voller Wasser. Ein Statuen-Depot wie damals im Tempel von Karnak? Oder vielleicht nur das geheime Versteck eines Tempelnovizen, in dem er das altägyptische Pendant von Murmeln vor seinen gestrengen Lehrern versteckt hatte? Selbst das wäre ein interessanter Fund, der Einblicke geben konnte in Lebensgewohnheiten jener Zeit.

Und wenn dort ein Schatz liegt? Goldschmuck, Edelsteine?

Auch solche Funde hatte es schon gegeben.

Obwohl er abgelenkt war, brachte Theo die Führung zu einem leidlich guten Ende. Jetzt noch rasch die abschließende Fragerunde, bei der er diesmal allerdings nur knappe Antworten gab – gerade so viel, wie nötig war. Doch offenbar hatte er alle Bedürfnisse ausreichend befriedigt, denn sein Trinkgeld bewegte sich im normalen Rahmen. Gratis obendrauf schenkte ihm die schöne Touristin, die er vorhin so unangemessen angestarrt hatte, ein ziemlich anzügliches Lächeln, als er die Leute am Bus wieder in die Gegenwart entließ.

Theo traf gerade rechtzeitig wieder beim Osireion ein, um auf Bill Sheridan zu stoßen.

„Gute Reaktion“, sagte Bill anerkennend, als Theo ihm den Spalt zeigte. „Es war genau richtig, mich zu holen. So eine Fundstelle muss sofort gesichert werden. So was spricht sich immer schnell herum, und ehe man es sich versieht, sind Plünderer dagewesen.“

Ramadan und seine Männer waren schon bei ihnen. Bill hatte die beiden Studenten mitgebracht, die bei ihm ihr Grabungspraktikum leisteten, Fred und Sonja. Theo kannte beide von der Bar des Osiris. Fred war ein lustiger, etwas linkischer Bursche, und auf Sonja hatte Theo mehr als nur einen Blick geworfen, auch wenn er sie etwas jung fand. Doch jetzt galt seine ganze Aufmerksamkeit dieser Fuge zwischen den Steinplatten und nicht Sonjas ausgeprägten Kurven.

Bill Sheridan war ein Mann von 72 Jahren und verfügte über jene enorme Ausstrahlung, die nur ein langes, tatkräftiges und erfolgreiches Leben verlieh. Theo überragte ihn zwar um einen halben Kopf, aber er fühlte sich dennoch klein neben diesem drahtigen Energiebündel. Bills gebräuntes Gesicht war gezeichnet von tief eingeschnittenen Falten unter einer auffallend hohen Stirn. Bei der Arbeit trug er stets eine Baseballkappe mit ihren Salzrändern, die mit dem Schweiß im Material der Kappe aufgestiegen waren wie Wasser in den Kapillaren der Granitpfeiler unten im Osireion. Aus Bills durchgeschwitztem, staubigem Hemdkragen lugte ein faltiger Hals, und auch die übergroßen Ohren wiesen deutlich auf sein Alter hin, doch seine graublauen Augen blitzten Theo klar und mit jugendlichem Schwung an.

Archäologen-Urgestein.

Nirgendwo sonst kam man so umstandslos an Menschen heran wie an einer Bar – und besonders gut funktionierte es, wenn man selbst hinter der Bar stand. Beim leidlich guten Whisky des Osiris hatte Bill genug von seiner Arbeit erzählt, um Theo mit tiefem Respekt vor dem Archäologen zu erfüllen. Bill grub seit zwanzig Jahren für Luxor Archaelogical Research, einem der ältesten Forschungsinstitute der Ägyptologie, das auf eine Tradition von mehr als 150 Jahren zurückblicken konnte. Finanziert wurde es von einer Stiftung der Carnavaughns, einer legendären englischen Adelssippe, die viele Berühmtheiten hervorgebracht hatte: Nobelpreisträger, Unternehmer, Forscher, Weltumsegler, Sportler, Erzbischöfe und sogar einen bekannten Schriftsteller. Sie galten als Philanthropen, und die Ägyptologie war seit eineinhalb Jahrhunderten ihr Steckenpferd – oder zumindest das Steckenpferd einiger von ihnen. Theo hatte sich damals, bevor er das Studium geschmissen hatte, unter anderem bei Luxor Archaeological Research für ein Grabungspraktikum in Ägypten beworben, denn dieses Institut galt als besonders aufgeschlossen für Studierende anderer Nationen – was Theo jetzt dadurch bestätigt fand, dass zwei junge Deutsche begehrte Praktikantenplätze bei einer Grabung dieses Instituts bekommen hatten.

Wenn er doch nur mehr Disziplin im Leib gehabt hätte! Wenn er die Mühlen des verschulten Studiums irgendwie durchgestanden hätte, würde er heute sicher ein Leben führen wie Bill und auf dem Sprung sein, ein renommierter Archäologe zu werden.

Umso mehr freute ihn das Lob aus Bills Mund.

„Das war doch selbstverständlich“, antwortete Theo. „Ich frage mich, wie die Leiterin ihre Leute hier allein lassen konnte.“

„Serafina?“ Bill musterte ihn, als habe er etwas Falsches gesagt. „Sie musste nach Luxor.“

Er kennt diese Serafina?

„Es mag unüblich sein, dass eine Grabungsleiterin sich von ihrer Grabung entfernt“, fuhr Bill fort, „aber ich finde es verzeihlich. Niemand konnte erwarten, hier noch auf etwas zu stoßen. Das Tempelareal ist um 1900 schon einmal ausgegraben worden.“

Theo überlegte, ob er widersprechen sollte, denn es gab genügend Geschichten aus Ägypten, in denen unerwartet Entdeckungen gemacht worden waren. Er fand das Verhalten der Grabungsleiterin alles andere als verzeihlich, und er wunderte sich, dass Bill sie verteidigte. Trotzdem hielt er den Mund.

Nachdenklich stand Bill vor dem Spalt. Die Blicke seiner Leute wanderten zwischen ihm und dem Spalt hin und her, auch Theo wusste in seiner Ungeduld nicht, wohin er sehen sollte. Er zwinkerte Sonja zu, der Praktikantin, als er bemerkte, dass sie ihn beobachtete, und sie zwinkerte zurück.

„Ramadan“, sagte Bill zum Vorarbeiter von Deep Dry, „ihr habt das Gelände sondiert. Irgendwelche Funde außer dem hier?“

„Nichts“, antwortete der Ägypter. „Wir haben haufenweise angewehten Sand weggeschafft, aber darin war nichts von Interesse.“

„Okay, dann wollen wir mal. Fred, was ist jetzt erste Entdeckerpflicht?“

„Fundort dokumentieren“, antwortete der Student wie aus der Pistole geschossen.

Bill zückte sein Smartphone und ließ seine Finger flink über das Display huschen. Dann legte er das Gerät neben den Spalt auf den Boden und berührte eines der Symbole auf dem Bildschirm. Eine Sekunde später hob er das Smartphone wieder auf.

„Wir haben jetzt die genauen GPS-Koordinaten des Spalts“, sagte er mit einem schrägen Blick zum Himmel, als könne er den Satelliten sehen, der das Signal aufgenommen hatte, „und hiermit …“ – erneut wirbelten seine Finger über das Display – „… wurden die Koordinaten auf die Karte des Abydos Mapping Project übertragen.“

Nachdem die Position des Spalts genau dokumentiert war, ging es daran, ihn zu fotografieren. Bill legte einen Zollstock an, und Sonja, die Studentin, schoss Fotos aus verschiedenen Richtungen wie am Tatort eines Verbrechens. Auch diese Bilder würden später in die Datenbank des AMP übertragen werden.

Vorbild für das Abydos Mapping Project war das Theban Mapping Project, in dem alle verfügbaren Daten über das Tal der Könige zu einer digitalen Karte verarbeitet worden waren. All diese Daten waren über das Internet verfügbar, die ganze Welt konnte darauf zugreifen. Zahlreiche Wissenschaftler fügten Wissenschnippsel und Einzelerkenntnisse hinzu, und so war im Lauf von bald zwanzig Jahren eine einzigartige Datenbank entstanden. Nie zuvor war es so einfach gewesen, sich auf den neuesten Stand des Wissens zu bringen – und noch nie waren die Wissenslücken derart offensichtlich zu Tage getreten. Luxor Archaelogical Research hatte etwas Ähnliches für Abydos vor, aber das Projekt steckte noch in den Kinderschuhen und war bisher nicht veröffentlicht. Theo hätte es sich sonst natürlich längst angesehen.

Bill ging auf die Knie, zog einen Pinsel aus einer der Taschen seiner Cargo-Hose und begann, Staub und Sand aus den Fugen zu fegen, die links und rechts vom Spalt im rechten Winkel von ihm fortführten. Sonja und Fred halfen ihm mit eigenen Pinseln, alle Fugen im Umkreis des Spalts freizulegen. Ungeduldig sah Theo ihnen zu. Konnten sie nicht etwas schneller pinseln?

Schließlich war Bill zufrieden.

„Das ist unser Kandidat“, sagte er und klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers auf die große, von der Sonne erwärmte Steinplatte, deren Abmessungen sie mit ihren Pinseln erkundet hatten. „Ramadan – die Stemmeisen bitte!“

Der Vorarbeiter reichte ihm eines der Stemmeisen, die er geistesgegenwärtig bereitgehalten hatte. Bill stieß die stählerne Zunge auf die Steinplatte hinab. Außer dem Geräusch, das entstand, wenn Stahl auf Stein kratzte, war ein leiser, dumpfer Nachhall zu hören.

„Darunter ist ein Hohlraum“, stellte Bill fest und reichte Theo eines der Stemmeisen. „Da sind kräftige Männer gefragt. Willst du die Ehre haben?“

Natürlich wollte Theo! Er legte seinen Rucksack ab, in dem sich die Wasservorräte für seine Touristen befanden, und setzte sein Stemmeisen am Ende des Spalts an. Bill am anderen Ende, Ramadan in der Mitte. Es knirschte leise, als der Stahl zwischen die uralten Steinplatten glitt. Theo klopfte das Herz bis zum Hals. Bill hingegen wirkte völlig gelassen, als habe er so was schon Dutzende Male erlebt.

Die Steinplatte knirschte und knurrte in den Fugen, als die drei Männer sich ins Zeug legten, und langsam, sehr langsam begann sie, sich aus dem Rahmen zu heben, in dem sie wahrscheinlich jahrtausendelang gelegen hatte. Theo brach der Schweiß aus, während auf Bills Stirn nicht ein Tropfen zu sehen war.

Sie hebelten die Platte so weit in die Höhe, dass die Arbeiter Holzkeile drunterschieben konnten, für die der vorausschauende Ramadan gesorgt hatte. Das verschaffte ihnen eine Atempause. Dann stemmten sie erneut, und nun packten die Arbeiter zu und schoben die Platte mit vereinten Kräften zur Seite auf den Boden des Tempelareals.

Theos schwitzte mehr vor Aufregung als vor Anstrengung. Er zog eine Wasserflasche aus seinem Rucksack und bot sie Bill an. Der Archäologe nahm sie, schraubte sie gemächlich auf und trank, während er mit Blicken die Kammer sondierte, die sich vor ihren Füßen aufgetan hatte. Dann reichte er die Flasche an Theo zurück und schob sich die Baseballkappe in den Nacken. Erleichtert registrierte Theo die Schweißtröpfchen, die nun doch auf Bills Stirn erschienen waren und die in der trockenen Luft so schnell verschwanden, dass man ihnen beim Verdunsten zusehen konnte.

Auch Theo löschte seinen Durst, während Sonja die Kammer und ihren Inhalt fotografierte. Die Mittagssonne schien in das Gelass, eine einfache Grube von vielleicht achtzig mal achtzig Zentimetern. Ihr Boden war unter zahllosen Tonscherben nicht zu erkennen, so dass unklar blieb, wie tief sie war. Oben auf der Scherbenschicht lagen zwei Tonkrüge, die unversehrt wirkten. Ein dritter, der zum Teil in der Schicht aus Scherben steckte, wies bei genauerem Hinsehen Sprünge auf.

„Das sieht nicht gerade nach einem goldenen Grabschatz aus“, sagte Sonja. Sie klang enttäuscht.

„Niemand hat erwartet, ein Grab zu finden“, erwiderte Bill. „Nicht hier. Das ist der Tempelbezirk, der zu Sethos‘ Totentempel gehörte. Hier bestattete man keine Toten, sondern hier verwaltete und gewährleistete man ihre Verehrung. Du musst dir diese Tempel ungefähr wie mittelalterliche Klöster vorstellen. Sie waren wichtige Faktoren in der damaligen Wirtschaft, sie besaßen Felder und Dattelhaine, hatten Werkstätten, Backstuben, Braueieren, Apotheken, Gärten für Heilkräuter, Schreibstuben, Magazine und Depots, und das alles war von einer hohen Umfassungsmauer umgeben. Ein ganzer Haufen Priester hat hier abgeschieden von der Welt gelebt und gearbeitet. Und einer dieser Herren scheint uns etwas ziemlich Interessantes hinterlassen zu haben …“

Bill ging auf die Knie und spähte in die Grube, als könne er das Geheimnis der Tonkrüge erfassen, indem er sie aus größerer Nähe betrachtete.

„Sonja, wenn das hier kein Grab ist – was ist es dann?“

„Sieht aus wie ein Depot von Tonkrügen“, antwortete die Studentin.

Theo lachte leise. Sonja hatte nur das Offensichtliche ausgesprochen. Sie sandte ihm dafür einen erbosten Blick.

Bill war Theos Lachen nicht entgangen.

„Und du, Theo, was meinst du?“

Bin ich jetzt zum Praktikanten aufgerückt?

„Sonja hat recht“, antwortete Theo und zwinkerte Sonja versöhnlich zu, „aber die eigentlich interessante Frage ist nicht die, was es ist, sondern die, warum es hier ist – unter einer Steinplatte verborgen, als ob es versteckt worden wäre.“

„Interessanter Gedanke“, kommentierte Bill. „Wir haben es hier also mit einem ziemlich spannenden Fund zu tun. Irgendjemand wollte etwas verstecken, was seiner Meinung nach nicht in die Archive und Magazine des Tempels gehörte. Das wirft Fragen auf: Vor wem wollte er es verstecken? Warum hat er es im Innern des Tempelbezirks versteckt und nicht irgendwo draußen in der Wüste?“

„Warum sollte jemand Scherben verstecken?“, fragte Fred und deutete in die Grube hinab. „Ich sehe zwei Krüge und sonst nichts als Scherben …“

Heute sind das Scherben“, antwortete Bill, dem nicht anzumerken war, ob er Freds Einwand dumm oder intelligent fand. „Damals, vor mehr als dreitausend Jahren, waren das mit Sicherheit keine Scherben, sondern intakte Krüge.“

„Und warum sind sie jetzt kaputt?“

„Dafür kann es viele Gründe geben. Dreitausend Jahre sind eine lange Zeit. Der größte Schädling für Altertümer, egal ob für kleine Tonkrüge oder hohe Tempelsäulen, ist und bleibt Wasser. Selbst hier in Abydos regnet es manchmal, und das Regenwasser könnte sich in dieser Grube gesammelt haben. Was passiert mit Tonkrügen, die im Wasser liegen?“

Sie verrotten. Und die tiefer liegenden Reste bilden mit der Zeit eine Art natürliche Drainage für die Krüge, die oben liegen.

„Die im Dunkeln sieht man nicht“, murmelte Theo, ohne selbst auf Anhieb sagen zu können, woher ihm diese Worte auf die Zunge sickerten. Doch dann erinnerte er sich wieder.

Brecht, Dreigroschenoper.

Theo grinste, weil seine Assoziation nicht auf Tonscherben zu passen schien.

Bill klatschte in die Hände.

„Das Detektivspiel beginnt, nachdem der Tatort gesichert ist. Achtung …“

Er griff in die Grube und zog einen der beiden unversehrten Tonkrüge heraus. Das bauchige Gefäß hatte etwa die Größe eines Handballs. Es handelte sich um ein schmuckloses Gebrauchsgefäß – nichts Besonderes, Massenware jener Zeit. Bill untersuchte es von allen Seiten.

„Wahrscheinlich ein tempeleigenes Produkt“, überlegte er.

Dann stellte er den Krug vor sich auf den Boden, blickte hinein und runzelte die Stirn. Aus einer seiner Taschen zog er eine LED-Leuchte, die kaum dicker und länger war als ein Kugelschreiber, und leuchtete in den Tonkrug. Die Praktikanten, Theo und die Arbeiter scharten sich enger um Bill, damit ihnen ja nichts von dem entging, was Bill entdeckte. Der Archäologe ließ sie nicht lange im Unklaren.

„Das war schon mal nichts“, sagte er und stellte den Krug beiseite, um sich den zweiten zu angeln.

„Was ist denn da drin?“, fragte Theo.

„Papyrusreste, vermute ich. Schwer zu sagen. Ziemlich verrottet. Sind wahrscheinlich nass geworden. Vielleicht kann man mit moderner Technik noch was erkennen, aber …“

Bill stockte, als er in den zweiten Krug blickte.

„Das sieht doch schon ganz anders aus.“

Mit spitzen Fingern griff Bill in den Krug und zog eine Rolle, ein Bündel hervor. Die äußere Schicht von braunschwarzem Material zerbröselte dabei, darunter kam helleres Material zum Vorschein. Bill achtete darauf, dass alle Brösel wieder im Krug landeten.

Eine Papyrus-Rolle!

Bill legte sie vor sich hin und starrte sie an, als sei er unschlüssig, was nun zu tun sei. Dann seufzte er, blickte zu seinen Praktikanten und zu Theo auf und sagte:

„Ihr erlebt mich in einer Zwangslage, in die auch ihr vielleicht irgendwann einmal kommt. Eigentlich dürfte ich dieses Bündel nicht einmal anfassen. Ich müsste es sofort ins Labor geben, damit es nach allen Regeln der Kunst konserviert und ausgerollt wird. Andererseits könnte es aber sein, dass diese Papyri ohnehin bei der ersten Berührung zerfallen. Sie lagen immerhin geschätzte dreitausend Jahre lang eingerollt in diesem Krug. Ich könnte der letzte sein, der jemals die Chance hat, einen Blick darauf zu werfen. Keine einfache Entscheidung, nicht wahr? Ich würde sagen: Riskieren wir einen ganz kurzen, ganz vorsichtigen Blick, um herauszufinden, worum es geht, und geben das Ganze dann ins Labor – einverstanden?“

Natürlich waren alle einverstanden!

Vorsichtig rollte Bill die äußere Papyrus-Lage ab. Das Material war extrem brüchig, und mehrmals brachen kleinere Stücke ab, doch keines ging verloren.

Die Außenseite des Papyrus war dunkler als die Innenseite. Gebannt verfolgte Theo, wie Bill diesen äußeren Papyrus extrem vorsichtig von der Rolle herunterzog, ihn zwischen seine spitzen Finger nahm und ihn langsam und andächtig in eine Form zog, in der man einen Blick auf die beschriebene Seite werfen konnte. Das Material knirschte dabei vernehmlich. Theo erkannte Schriftzeichen, als er über Bills Schulter spähte, aber er konnte sie nicht zuordnen. Es waren keine Hieroglyphen. Vermutlich Zeichen der Gebrauchsschrift, in der im damaligen Ägypten schnelle Notizen gemacht worden waren.

Erneut runzelte Bill seine Stirn.

„Mach es nicht so spannend“, verlangte Sonja. „Ich will wissen, was da steht.“

Damit sprach sie Theo aus der Seele.

„Dreißig Körbe Datteln“, las Bill vor. „Vierzig Scheffel Korn. Hundert Krüge Ziegenmilch.“

„Wie bitte?“, fragte Fred, der seinen Ohren offensichtlich nicht traute – und damit war er in bester Gesellschaft.

„Zehn Krüge Weihrauch aus Punt“, fuhr Bill fort, „fünfzig Amphoren Wein aus Kadesch, zwanzig Körbe … ich würde das als Räucherwerk übersetzen, vielleicht auch als duftende Kräuter, jedenfalls aus Nubien.“

„Was ist das – ein Lieferschein?“, fragte Theo.

„Oder ein Inventar“, bestätigte Bill. „Es geht um Waren, die an den Tempel geliefert wurden oder die hier gelagert waren. Der Papyrus listet sie auf, und zu jedem Posten gibt es ein Datum, vielleicht das Datum der Anlieferung. Aber was ich nicht verstehe …“

„Ja, was?“

Theo konnte kaum ertragen zu verfolgen, wie Bill in den Anblick des Papyrus versank und seine Umgebung dabei für lange Sekunden einfach ignorierte.

Sonja machte ein paar Fotos von Bill, der den Papyrus anstarrte. Fred gähnte demonstrativ. Ramadan schaute skeptisch zur Sonne hinauf, die heiß auf sie herabbrannte, und die ägyptischen Arbeiter warfen sich achselzuckend Blicke zu. Na gut, ein Lieferschein.

„Was ich nicht verstehe, ist das hier“, sagte Bill, deutete auf eine Stelle des Papyrus‘ und übersetzte: „Gegeben zum Opfer an Men-Maat-Re Leben! Gesundheit! Wohlstand! im Monat Schemu, drei Überschwemmungen nachdem du, großer Herr! Leben! Gesundheit! Wohlstand! in den Westen gegangen bist.“

„Und was ist daran so elektrisch?“, fragte Fred, der die Starre, in die Bill verfallen war, offenkundig nicht begriff.

Theos Gedanken dagegen rasten. Men-Maat-Re? Opfergaben? Drei Jahre nach dessen Tod?

Das dürfte wohl kaum wahr sein.

Aber dies war ein Original-Papyrus!

„Der Papyrus verzeichnet eine Liste von Opfergaben, die für Men-Maat-Re in diesem Tempel angeliefert wurden“, antwortete Bill auf Freds Frage. „Men-Maat-Re ist der Thronname von Sethos I., des Pharaos, der diesen Tempel erbaut hat, und Opfergaben brauchte man für den Totenkult.“

„Okay, soweit ist mir alles klar“, erwiderte Fred, „aber ich verstehe immer noch nicht, warum diese Liste so … so … sorry, so elektrisch ist.“

Bill Sheridan ließ den Papyrus vorsichtig in die ihm deutlich bequemere Haltung als Rolle zurückkehren, während er sagte:

„Der Punkt, junger Fred, ist, dass man für einen Totenkult Tote braucht. Sethos I. wurde aber nach allem, was man weiß, im Tal der Könige bestattet, im Grab Nr. 17, und dort in Theben hat er auch sein Haus der Millionen Jahre, anderes Wort dafür: Totentempel. Die Frage ist also: Was sollen Opfergaben für den Totenkult des Sethos hier in Abydos, wenn er doch in Theben bestattet wurde?“

„Das weiß ich natürlich nicht, aber hast du vorhin nicht gesagt, dass das hier sein Totentempel ist?“

Zu diesen Worten deutete Fred über den Tempelbezirk und das Osireion hinweg auf die rückwärtige Mauer des Sethos-Tempels.“

„Fred, halt doch einfach mal das Maul“, fuhr Sonja den Studenten an, „und hör dir an, was die Leute sagen.“

„Ich bin ja schon still.“

Aber auch Bill war still, ebenso Theo, sie sagten überhaupt nichts. Theo sah allerdings, wie es in Bill arbeitete.

Was sollen Opfergaben für den Totenkult des Sethos hier in Abydos, wenn er doch in Theben bestattet wurde?

So blöd war die Bemerkung des Studenten gar nicht, auch wenn Sonja ihn dafür abgekanzelt hatte. Die Frage war: Warum hatte Sethos zwei Totentempel – einen konventionellen dort in Theben und einen wesentlich schöneren und originelleren hier in Luxor? Das war eine Frage, die Theo umtrieb, seit er in den alten Mauern unterwegs war. Zu einem Totentempel gehörte ein Totenkult – und den Beweis dafür, dass es diesen Totenkult für Sethos gegeben hatte, hatten sie soeben gefunden. Das aber bedeutete…

Es gab eigentlich nur eine Möglichkeit: Sethos war nicht in Theben bestattet worden, dort in seinem großen offiziellen Grab, das heute als „King Valley Nr. 17“, kurz KV 17, geführt wurde, sondern er war hier in Abydos bestattet worden.

Es gibt ein Königsgrab des Sethos hier in Abydos!

Das wäre eine archäologische Sensation.

Theo starrte in die Grube hinab, und plötzlich kam ihm der Gedanke, dass ein solches Grab vielleicht auch damals schon eine Sensation gewesen wäre. Ein unerhörter Bruch mit Konventionen. Weshalb alles, was darauf hinweisen könnte, vor den Augen der Autoritäten, die über die Konventionen wachten, versteckt werden musste, zum Beispiel in solchen Gruben wie dieser.

Bill richtete sich plötzlich auf.

„Niemand fasst hier etwas an!“, befahl er, und der Ton seiner Stimme hatte so gar nichts mehr von dem des geduldigen Ausbilders an sich. Die Arbeiter zogen die Köpfe ein, die Praktikanten blickten sich erstaunt an. Theo kam es so vor, als sei er außer Bill der einzige, der die Tragweite des Fundes verstand, dieser scheinbar harmlosen kleinen Liste von Opfergaben. „Ich muss telefonieren.“

„Nach Luxor?“, fragte Theo schüchtern.

„Genau“, antwortete Bill abwesend, während er schon mit seinem Smartphone hantierte. Dann hob er das Gerät ans Ohr, wandte sich ab und ging, während er zu sprechen begann, Richtung Wüste davon.

Theo hätte zu gern gewusst, was Bill nach Luxor durchgab – und mit wem er sprach. Doch er hatte immerhin einen Verdacht.

Dort sitzen seine Chefs. Die berühmten Carnavaughns!

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