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4. Kapitel Inspektorat der Altertümerverwaltung, Sohag 2. März 2014, 13 Uhr
ОглавлениеAhmed Nur ed-Din residierte in einem unauffälligen, funktionalen Bau aus der Nasser-Zeit am Westufer des Nils. Die Fenster der oberen Geschosse, die sich über die verkehrsreiche, nach Mohammed Ali Pascha benannten Allee erhoben, boten Aussicht auf die Al-Akhnim-Brücke, die den Nil auf ihren gedrungenen Pfeilern überspannte, und auf unzählige Feluken und Kähne, die im gleißenden, klaren Licht der Mittagssonne auf dem Fluss unterwegs waren. Linkerhand hätte der Inspektor auf die Südspitze der Insel blicken können, an der der Nil sich teilte, und gegenüber am Ostufer erhoben sich die Gebäude der Universität von Sohag. Doch Nur ed-Din sah selbst an einem schönen Tag wie diesem nur selten aus dem Fenster. Sohag, die Provinzhauptstadt, langweilte ihn entsetzlich.
Auf seinem Schreibtisch stapelten sich einige Mappen mit den Februar-Berichten der Grabungsteams, die zurzeit in seinem Bezirk forschten. Das Zeug kam per Mail herein, seine Sekretärin druckte es aus und legte es ihm Anfang jedes Monats vor, einsortiert in diese albernen Mappen, wie sie es seit zwanzig Jahren machte. Früher Berichte, die per Kurier oder per Post hereinkamen, heute Ausdrucke von Mails. Vielleicht konnte er diese Frau bald loswerden. Jetzt brachen Zeiten an, in denen Frauen besser zu Hause blieben, und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Regierung ein Gesetz beschloss, das weiblichen Staatsangestellten vorschrieb, künftig vollverschleiert zur Arbeit zu kommen. Die dürftige Gestalt der Sekretärin nicht mehr erblicken zu müssen, wäre sicher kein Verlust, doch Nur ed-Din wollte in Gesichter blicken und nicht in Sichtschlitze. Wenn es so weit war, würde er sich von dieser dummen, Mails ausdruckenden Person trennen und sich einen Sekretär zulegen. Mit seinen Verbindungen könnte das vielleicht sogar klappen. El-Kebir war schwer krebskrank, und Tedritov sagte, dass der Direktor nicht mehr lange leben werde.
Die Grabungsberichte interessierten Nur ed-Din nicht. Monat für Monat dieses Geschwätz über Tonscherben und die Schichten, in denen sie gefunden wurden, über Inschriften, beschädigt oder nicht, und nur ausnahmsweise kamen auch einmal ein Goldblättchen oder ein kleiner Türkis oder Lapislazuli vor – auf Dauer eine Zumutung. Natürlich zeigte Nur ed-Din sich nach außen interessiert, bisweilen sogar angetan, doch in Wirklichkeit kotzte ihn dieser kleinkarierte Routine-Betrieb an, und er konnte den Moment nicht erwarten, da sie endlich losschlugen, so wie Tedritov es ihm vor zwei Jahren angekündigt hatte. Bis dahin musste er seine Pflichten erfüllen und durfte sich nichts anmerken lassen, so schwer ihm dies auch fiel.
Ihm als Inspektor der Altertümerverwaltung oblag die Überwachung aller archäologischen Aktivitäten im Distrikt Sohag, der allerdings außer Abydos nur unbedeutende Stätten aufwies. Die Wissenschaftler, die unter Nur ed-Dins Aufsicht standen, interessierten sich für nichts außer Inschriften in Beamtengräbern und sammelten mit Vorliebe Erkenntnisse über das alltägliche Leben im frühen Ägypten. Nur ed-Din hätte ihnen etwas über das alltägliche Leben im heutigen Ägypten erzählen können. Er war lange genug Diener des ägyptischen Staates, so wie die Inhaber jener Gräber, für die sich die Herren Wissenschaftler so sehr interessierten, treue Beamte des pharaonischen Ägyptens gewesen waren. Im Unterschied zu ihnen allerdings war er weit davon entfernt, sich auch nur annähernd ein ähnliches Grabmal leisten zu können wie das, das Weni der Ältere, Wesir mehrerer Pharaonen des Alten Reichs, sich in Abydos hatte errichten lassen. Wenn Nur ed-Din so was denn gewollt hätte. Doch das Leben im Jenseits interessierte ihn eigentlich kaum. Er lebte hier und heute, und das Leben war teuer.
Inschriften! Wie wäre es stattdessen mit einer echten Sensation in seinem Bezirk, so dass ein bisschen Glanz auf ihn abfiele? Ein Pharaonengrab mit einem Goldschatz in Abydos, das wäre nach seinem Geschmack – am besten ausgegraben von ihm selbst, und noch besser unter völligem Ausschluss der Öffentlichkeit. Doch leider war so was ausgeschlossen, denn jene Pharaonen, die sich mit nennenswerten Mengen von Gold hatten bestatten lassen, hatten zu Zeiten gelebt, in denen Friedhöfe wie der von Abydos die längste Zeit Königsfriedhöfe gewesen waren. Diese Pharaonen waren fast ausschließlich am Westufer von Luxor bestattet, im Tal der Könige, und für diesen Distrikt war Nur ed-Din nicht zuständig.
Manchmal wünschte er sich die Zeiten der Belzonis und Drovettis zurück. Heutige Archäologen hatten nicht mehr den Biss dieser Pioniere. Sie gingen nicht hin und gruben einfach, sondern sie hielten sich an die Regeln, die ihnen Nur ed-Dins Behörde und das Einmaleins der Archäologie vorgaben, und gossen den Sand fingerhutweise durch Siebe, damit ihnen kein Fundstück entging, selbst das geringste nicht. Sie dokumentierten jeden abgebrochenen Zeigefinger einer hölzernen Kriegerstatuette, wie sie fast jedem mittelmäßigen Beamten zeitweise massenhaft ins Grab mitgegeben worden waren, und gewannen auf diese Weise, wie überraschend, Erkenntnisse über massenhafte Grabbeigaben von Kriegerstatuetten in Gräbern ägyptischer Beamter vor 3800 Jahren. Wundervoll! Und wehe, einer wie Weni der Ältere, der vor mehr als 4200 Jahren gestorben war, hatte es gewagt, biographische Texte in die Wände seines Grabmals, seiner Mastaba, hauen zu lassen! Da erwachte der Genauigkeitsfimmel erst recht, denn man musste ja schließlich Klarheit darüber haben, in welchen Dattelhain der Wesir damals geschissen hatte, links oder rechts vom Osiris-Schrein?
„Also ein Tonscherbenarchiv.“ Nur ed-Din dehnte die Worte des Mannes auf der anderen Seite seines ausladenden Schreibtischs, als er sie wiederholte. „Aus der Zeit des Echnaton.“
Gamal zog den Kopf zwischen die Schultern. Er spürte die Verstimmung des Inspektors, doch er nickte tapfer und fügte hinzu:
„Ich glaube, dass sie es außer Landes schmuggeln wollen.“
Das war wenigstens mal eine Information! Nur ed-Din waren die Berichte seiner Agenten wesentlich lieber als die ausgedruckten Mails. So bekam er gleich noch eine Einschätzung obendrauf.
Es würde ihn nicht wundern, wenn Archäologen wieder versuchten, gegen geltende Regeln zu verstoßen und Funde wie zu Belzonis Zeiten auf eigene Faust aus dem Land zu bringen. In Ägypten wähnten sie ihre Entdeckungen nicht mehr sicher, und vermutlich lagen sie damit sogar richtig. Möglicherweise kippte irgendeine Gruppe von fanatischen Anhängern der Partei des Lichts – auf Arabisch Al-Nur – dieses dreitausendjährige Tonscherbenarchiv demnächst einfach in den Nil.
Tonscherben!
Nur ed-Din seufzte.
Da sah er aus den Augenwinkeln, dass das Display seines Handys aufblinkte. Das Gerät lag verborgen vor Gamals Blicken unter dem Schreibtisch auf einem Rollcontainer.
Tedritov!
Solange Nasser el-Kebir krank und außer Dienst war, war Bernard Tedritov Nur ed-Dins höchster Vorgesetzter – und noch ein bisschen mehr als das. Der Inspektor reagierte schnell. Wenn sein Chef auf dem Handy anrief, war es eilig, und dann war es besser, wenn niemand zuhörte.
„Es ist gut“, sagte Nur ed-Din zu Gamal und winkte, damit der Agent ging. Erst als Gamal die Tür von außen hinter sich geschlossen hatte, nahm Nur ed-Din das Gespräch entgegen.
„Warum hat das so lange gedauert?“, zischte ihn die wohlbekannte Stimme an. Nur ed-Din ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Die Stimme seines Chefs hatte immer einen leicht zischenden Klang, mal mehr, mal weniger, je nachdem, wie ungeduldig oder verstimmt er war. Daran hatte sich Nur ed-Din gewöhnt.
„Ich musste erst jemanden loswerden.“
„Das muss beim nächsten Mal schneller gehen!“
„Verstanden.“
„Erinnern du dich daran, was wir besprochen haben?“
Ein kalter Schauer rieselte Nur ed-Dins Rücken hinab. Wie könnte er das vergessen? Diese Worte konnten nur eines bedeuten: Sie würden endlich loslegen. Die Zeit war gekommen!
Augenblicklich spannte sich sein hagerer Körper, und seine Augen begannen zu tränen, wie immer, wenn er erregt war. Diese Augen! Er hasste seine großen, stets entzündet wirkenden Augen und die schwer herabhängenden Lider, aber er wusste auch um den Vorteil, dass er ihretwegen schon oft unterschätzt worden war. Wer in diese Augen blickte, hielt ihn fast automatisch für einen langsamen, begriffsstutzigen Menschen. Zudem bewegte Nur ed-Din sich linkisch und träge, um diesen Eindruck noch zu unterstützen. Es war gut, unterschätzt zu werden.
Er wischte die Tränen weg. Natürlich erinnerte er sich an Tedritovs Worte!
Vor fast zwei Jahren, kurz nachdem Omar el-Malak, der Muslimbruder, ägyptischer Staatspräsident geworden war, hatten sie sich in Tedritovs Büro in Gizeh getroffen. Tedritov war da noch Inspektor der Altertümerverwaltung für den Bezirk al-Dschiza gewesen, zu dem der Pyramidenbezirk von Gizeh gehörte, aber auch das Gebiet von Memphis, der altägyptischen Hauptstadt Men-Nefer – ein bedeutender Posten also. Doch Tedritov wollte mehr.
Sie kannten sich lange genug, und Tedritov hatte immer wieder Andeutungen gemacht, dass er etwas plane – etwas Bedeutendes, etwas, das Ägypten umkrempeln würde. Nur ed-Din hatte sehnsüchtig auf den Tag gewartet, an dem Tedritov endlich alle Karten auf den Tisch legte. Er selbst war damals nur stellvertretender Inspektor in der Provinzhauptstadt Sohag – ein Posten, den Tedritov ihm verschafft hatte. Der Mann sorgte für seine Leute. Trotzdem hockte Nur ed-Din immer noch in Sohag, wenn auch inzwischen als Inspektor. Tedritov hingegen war währenddessen in atemberaubendem Tempo erst Oberinspektor für das Delta und dann stellvertretender Direktor der Altertümerverwaltung geworden.
Dort, in Tedritovs Büro, waren Worte gefallen, die Nur ed-Din niemals im Leben vergessen würde. Entscheidende, verschworene Worte, die das Bündnis zwischen ihnen besiegelten. Nach der Revolution und der Machtübernahme der Islamisten hatte Ägypten begonnen, sich zu verändern, und Tedritov plante, auf der Gewinnerseite zu stehen und gemeinsam mit Nur ed-Din ein lohnendes Geschäft aufziehen.
Tedritov hatte ihm eine Landkarte auf dem Monitor seines Laptops gezeigt. Nur ed-Din erkannte auf den ersten Blick, dass es sich um einen Plan der uralten Nekropole von Abydos handelte. All die markanten Tempelbauten, voran der große Totentempel des Sethos, waren mit blauer Farbe eingetragen, doch daneben gab es zahlreiche Markierungen in Rot. Es dauerte ein Weilchen, bis Nur ed-Din verstand, was das bedeutete, doch dann stellten sich seine Nackenhaare auf. Während er jeder blauen Markierung ein Grab, einen Tempel oder eine andere archäologische Fundstätte zuordnen konnte, gelang ihm dies bei den roten Markierungen nicht. Doch es gab Dutzende roter Markierungen in Abydos!
Dutzende noch nicht entdeckte Gräber!
Gold!
Nur ed-Din hatte natürlich wissen wollen, woher das Wissen über diese unentdeckten Gräber stammte, ob die Informationen verlässlich seien, und Tedritov hatte ihm versichert, dass die Daten aus einer verlässlichen Quelle stammten und dass sie echt waren: Alle roten Markierungen standen für antike Fundstätten, die bisher noch keinerlei Kontakt mit den Spaten der Archäologen gehabt hatten. Dabei konnte es sich um jede Art von Ruine handeln, um Tempelreste, Statuendepots, Scheingräber – aber eben auch um unentdeckte altägyptische Gräber. Und das bedeutete, dass da immer noch massenhaft Schätze lagerten. Wenn nicht in Form von Gold, dann in Form von Kunstschätzen, die sich zu Geld machen ließen.
Natürlich kannte Nur ed-Din die Gerüchte, dass es wesentlich mehr antike Stätten in Ägypten gab, als die Altertümerverwaltung die Welt wissen lassen wollte. Mehr als dreitausend Jahre lang hatten Menschen Gräber am Rand des Niltals angelegt und darin Gold und Kunstgegenstände verbuddelt. Doch wie viele Gräber hochrangiger Persönlichkeiten waren bisher bekannt, alle zusammengenommen? Dreitausend? Eher dreißigtausend. Eine einfache Kopfrechnung zeigte, dass das nicht alles sein konnte. Sollten in jenen dreitausend Jahren der altägyptischen Zivilisation tatsächlich nicht mehr als zehn reiche Menschen pro Jahr gestorben sein?
Doch wohin sollte die Altertümerverwaltung mit all dem Gold und den Kunstschätzen? Die Museen des Landes waren längst vollgestopft mit dem alten Zeug. Das alte Ägypten überforderte die Möglichkeiten des heutigen Ägyptens.
Tedritov hatte ihm noch eine andere, nicht weniger markante Karte gezeigt, die Nur ed-Din ebenfalls im Schlaf einzuordnen wusste: das Tal der Könige. Hier überwogen die blauen Markierungen, denn das Tal war die am besten erforschte Region Ägyptens. Doch selbst hier gab es rote Markierungen, unter anderem eine, die Nur ed-Din sofort ins Auge stach: Grab Nr. 17. Sethos I.!
Korridor K!
Das Grab des ersten Sethos war bis heute nicht vollständig erforscht. Bis in die Grabkammer war alles geklärt, aber dort begann Korridor K, der in bisher unbekannte Tiefen jenseits der Kammer führte – und die lag schon mehr als hundert Meter tief im Fels! Drei Versuche, den Korridor bis an sein Ende zu erforschen, waren gescheitert – der erste durch Giovanni Belzoni, dem Entdecker des Grabes, der zweite durch Howard Carter, dem Entdecker des Grabes von Tut-ench-Amun, und der dritte vor fünfzig Jahren durch die Rassul. Dieser Clan von Grabräubern hatte damals auf abenteuerlichen Wegen eine Grabungsgenehmigung für den Korridor erhalten, aber sie war ihnen wieder entzogen worden, nachdem mehrere Männer entkräftet zusammengebrochen waren. Zu gefährlich, hieß es. Der Korridor stieß in eine Schicht von Tonschiefer-Gestein vor, die als porös und einsturzgefährdet galt, und tatsächlich war dort unten alles voller Schutt, so dass es kein Durchkommen gab. Es war heiß dort, und wer auch immer dorthin vorstieß, hatte überdies mit dem Problem mangelhafter Luftzufuhr zu kämpfen. Daher galt Korridor K als unerforschbar – und zugleich als eines der letzten ganz großen Rätsel Ägyptens.
Zugleich wussten sowohl Tedritov als auch Nur ed-Din, dass der Grabschatz des mächtigen Sethos nie entdeckt worden war.
„Das ist deine langfristige Planung?“, hatte Nur ed-Din gefragt. „Du willst da runter?“
Wieder hatte Tedritov genickt und ihm dann ein paar erstaunliche Dinge über den Pharao erzählt – der nächste Brocken, den er ihm zu schlucken gab. Sethos I., sagte Tedritov damals, sei nicht nur auf dem Schlachtfeld ein listenreicher Fuchs gewesen. Auch was die Sicherung seines Weiterlebens im Jenseits betraf, habe er sich einiges einfallen lassen. Um Grabräuber zu täuschen, habe er sich gleich mehrere Gräber anlegen lassen, von denen mindestens eines bis heute nicht entdeckt sei – und dieses eine müsse seinen Grabschatz enthalten. Es könne sich um ein Grab in Abydos handeln, von dem Tedritov behauptete, Kenntnis zu haben – er deutete auf einen gerahmten Original-Papyrus, der an der Wand seines Büros hing –, das aber schwierig zu finden sei. Darum wolle er sich kümmern, sobald er Direktor der Altertümerverwaltung geworden sei. Es könne sich aber auch um die Grabkammer handeln, die sich am Ende von Korridor K des Sethos-Grabes im Tal der Könige befinde.
So wurde Nur ed-Din Tedritovs Verbündeter, und er hatte es bisher alles in allem nicht bereut, auch wenn es nur langsam voranging. Im Hintergrund lief vermutlich noch viel mehr. Tedritov hatte oft genug davon gesprochen, dass er die Wirren ausnutzen wollte, die durch die Machtübernahme der Muslimbrüder entstanden, und dazu brauchte er ein Netzwerk von Verbündeten und musste Hindernisse aus dem Weg räumen. Doch er kam nur langsam voran, und die schwierigsten Brocken lagen noch vor ihm. Nasser el-Kebir etwa, der ehrenwerte Direktor. Und natürlich Maliki, Nur ed-Dins unmittelbarer Vorgesetzter, Oberinspektor für den Landesteil Oberägypten, der von Assuan bis Sohag reichte. Maliki war ein gewissenhafter Mann, der sich niemals für Tedritovs Ziele einspannen lassen würde. Dessen Posten wollte Nur ed-Din haben!
Bei ihrem letzten Telefonat hatten sie über Maliki gesprochen. Daher erwartete Nur ed-Din, dass es auch jetzt wieder um den Oberinspektor gehen würde. Mit tränenden Augen stand Nur ed-Din am Fenster seines Büros, nachdem er Gamal weggeschickt hatte, und blickte auf die hässlichen, massigen Pfeiler der Akhnim-Brücke und die anmutigen Segel der Feluken, die darunter hindurchglitten, und er hörte Tedritovs Worte:
„Erinnerst du dich daran, was wir besprochen haben?“
Da wusste Nur ed-Din, dass es nicht um Maliki gehen würde.
„Es ist so weit?“
„Ja, Ahmed, es ist so weit“, zischte Tedritov in Kairo. „Wir fangen jetzt an, Ägypten in Unordnung zu bringen. Du musst etwas organisieren. Einen Überfall auf ein Grabungsteam. Mir schwebt vor, ein Exempel zu statuieren.“
„Kein Problem.“
„Es muss echt aussehen. Friedliche Wissenschaftler, die lediglich nach Erkenntnis streben, sind ein perfektes Ziel für einen Überfall von religiösen Fanatikern.“
„Zweifellos.
„Die Art von Erkenntnis, nach der Ungläubige aus dem Westen streben, ist nicht identisch mit der Erkenntnis, nach der ein aufrechter Muslim strebt.“
„Genau“, antwortete Nur ed-Din einsilbig. Er war selbst Muslim. Tedritov allerdings ebenfalls, wenn auch noch nicht so lange.
„Also wirst du eine Gruppe von aufrechten Muslimen dazu bringen, eine Grabung zu überfallen.“
„Perfekt. Du darfst dir eine Grabung aussuchen.“
„Wie freundlich von dir“, schnurrte Tedritov. „Wer ist uns denn der schärfste Dorn im Auge? Wen wollen wir am liebsten aus Ägypten vertreiben? Wen würden wir denn am liebsten auf den Koran urinieren lassen?“
„Verstanden.“
Nur ed-Din grinste. Er wusste genau, auf wen Tedritov anspielte.
„Sie graben zurzeit in Abydos, Amarna und Pi-Ramesses“, sagte Tedritov. „Abydos oder Amarna – eine dieser Grabungen sollte es sein.“
Nur ed-Din musste nicht lange überlegen. Die Carnavaughns und ihre Luxor Archaeological Research waren das perfekte Ziel für einen Überfall, der das hinterhältige Ziel verfolgte, alles durcheinanderzubringen. Mit ihrer staatstragenden Art und ihrer Kungelei mit den Mächtigen waren sie Nur ed-Din schon lange ein Dorn im Auge. Am liebsten wäre ihm die Grabung in Abydos. Er konnte Bill Sheridan nicht leiden! Doch nach Amarna hatte Nur ed-Din die besseren Kontakte. Dort gab es islamistische Gruppen, die sich in ihrer radikalreligiösen Borniertheit leicht instrumentalisieren lassen würden. Die Grabungsstätte lag in Mittelägypten nahe Asyut, einer Großstadt, in die sich schon lange keine Touristen mehr trauten, einer Gegend, in der die religiösen Eiferer Oberwasser hatten.
„Chef, wie weit sollen sie gehen?“
„Es muss krachen. Die Nachricht von diesem Ereignis muss in jeder Hauptnachrichtensendung der Welt gebracht werden.“
„Das heißt …“
„Lass sie einfach von der Leine. Anschließend kannst du sie sowieso nicht mehr kontrollieren.“