Читать книгу Der Osiris-Punkt - Lutz Büge - Страница 8
5. Kapitel Carnavaughn House, Luxor 2. März 2014, 14:30 Uhr
ОглавлениеArchibald Carnavaughn behauptete gern, dass die Carnavaughns ein Geschlecht von miserablen Futterverwertern seien, denn sie neigten dazu, lang zu werden, aber dünn oder gar dürr zu bleiben, egal wie viel sie aßen. In der Steinzeit wären sie zum Aussterben verurteilt gewesen, meinte er, Männer wie Frauen, weil ihnen die Fähigkeit fehlte, Speck als Energiereserve für magere Zeiten aufzubauen. So gesehen wäre Archibald für das Leben in der Steinzeit prädestiniert gewesen, denn er war ein ausgezeichneter Futterverwerter und legte mit Leichtigkeit Energiedepots an.
Charles mochte den beleibten Mann. Vermutlich konnte niemand außer ihrer alten Tante Anabelle genau erklären, um wie viele Ecken ihres Familienstammbaumes Charles und sein Vater mit Archibald verwandt waren. Auch dies war eine Familiengeschichte, die Charles nur in ihren Grundzügen kannte. Archibalds Familienzweig hatte sich vor Generationen vom Hauptstamm der Familie abgespalten, als seine Vorfahren in die USA gegangen waren und die Familiensitte, die guten Kontakte zu pflegen, ignoriert hatten. Manchmal fiel der Apfel weit vom Stamm: Erst hundert Jahre später hatte Archibald irgendwo im staubigen Südwesten der USA nicht nur sein Interesse an seiner Herkunft, sondern auch ein gewisses dramatisches Talent entdeckt, das ihn befähigte, Romane über englische Lords zu schreiben. Was er dann ausgiebig getan und dabei Stoffe aus der Familiengeschichte der Carnavaughns verarbeitet hatte – und zwar ebenso langatmig wie respektvoll und niemals reißerisch. Darum war keiner seiner Romane jemals ein Bestseller geworden, zum Glück, aber zumindest eines der Bücher war in Tante Anabelles liebende Hände gelangt. Anabelle verschlang solche Schmonzetten und hatte es sich außerdem zur Lebensaufgabe gesetzt, die Familie zusammenzuhalten. Sie holte Archibald in den Schoß der Familie zurück, indem sie ihm zunächst den uferlosen Auftrag erteilte, eine Familienchronik der Carnavaughns zu schreiben. Inzwischen bekleidete er den Posten des Leiters des Familienarchivs und lebte in London. Seitdem hatte er keine Zeit mehr, Romane zu schreiben. Ein weiser Schachzug von Tante Anabelle, denn Archibalds Erzählungen lagen so nah an der Realität, dass ihre Protagonisten wiedererkennbar waren, wenn man sich ein bisschen auskannte.
So kam es, dass sich niemand besser in der Familiengeschichte der Carnavaughns auskannte als „der Amerikaner“, wie sie Archibald nannten.
„Karl! Wilhelm!“, begrüßte Archibald sie freudig. „Schön euch zu sehen.“
Charles und William tauschten Blicke – William indigniert, Charles belustigt. Sie saßen nebeneinander am Schreibtisch in Williams Arbeitszimmer, unter den gestrengen Blicken einer Büste von Lord George Carnavaughn, die am Kopf des Schreibtischs stand. Vor ihnen summte das Notebook und zeigte Archibald in seinem Büro in London, der gerade schwitzend seine Krawatte lockerte. Charles hatte inzwischen geduscht und sich frische Sachen angezogen, Jeans und ein sauberes, weißes Sommerhemd mit halben Armen. Seine Haare trug er nun sauber gescheitelt.
„Entschuldigt, ich komme von einem Symposium mit deutschen Historikern. Karl der Große – Mensch, Charles, bist du gewachsen!“
„Ich wachse nicht mehr, Archie, im Gegensatz zu dir“, gab Charles lachend zurück.
„Und du, Wilhelm?“
„William!“, knurrte William. „Gegen Wilhelm haben wir mal Krieg geführt. Das sollte selbst ein Amerikaner wissen.“
„Oh je, du hast völlig recht. Du wächst also auch nicht mehr.“
„Es ist schön, dich in ausgelassener Stimmung anzutreffen, Archibald“, versetzte William in einem säuerlichen Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, dass er das Gegenteil von dem meinte, was er sagte, „und wir möchten deine kostbare Zeit gewiss nicht vertrödeln. Ich darf zu unserem Anliegen kommen?“
„Aber gewiss doch.“
William berichtete, was vorgefallen war, und spätestens als der Name Sethos fiel, wurde der schalkhafte Archibald mit einem Schlag ernst.
„Puh“, machte er, als William geendet hatte, lehnte sich zurück und tupfte sich Schweiß mit seinem Einstecktuch vom Gesicht.
„Puh?“, wiederholte William verständnislos.
„Wisst ihr, diese Geschichte hätte das Zeug zum ganz großen Drama. Englischer Lord begegnet der Liebe seines Lebens. Zufällig handelt es sich dabei zwar um einen Mann, aber wo die Liebe nun mal hinfällt … Leider wird dieser ziemlich robuste schottische Bursche unerwartet ermordet, und der englische Lord wird fast wahnsinnig vor Schmerz und entwickelt fortan irre Theorien, die ihn in den Augen der Welt lächerlich machen … Findet ihr das nicht auch interessant, vom psychologischen Standpunkt gesehen? Ich wollte darüber mal einen Roman schreiben.“
„Lassen wir mal die Psychologie beiseite“, sagte William trocken, „denn sie gehört offenbar nicht zu deinen Kernkompetenzen. Es gibt Dutzende von Geschichten über männliche Carnavaughns mit männlichen Liebhabern, und keiner von ihnen ist deswegen irre geworden. Die meisten von ihnen haben Nachkommen gezeugt und sind liebende Väter geworden.“
Charles blickte seinen Vater erstaunt von der Seite an. War der Alte vielleicht doch nicht so verknöchert, wie er geglaubt hatte? Sprach er möglicherweise sogar von sich selbst?
„Ich rede nicht über Liebhaber, sondern über Liebe“, erwiderte Archibald genauso ernst, „vielleicht sogar über die Liebe seines Lebens. Außerdem ist meines Wissens kein anderer Carnavaughn-Liebhaber derart rabiat aus dem Leben geschieden. So was kann durchaus traumatisierend wirken.“
„Ich glaube“, schaltete Charles sich ein, „Archibald will uns sagen, dass wir nach den Motiven von Onkel George fragen sollten, seine Theorie derart unbeirrt zu verfolgen.“
Archibalds Brauen hoben sich, er nickte und sagte:
„Das nenne ich eine klare Formulierung. Charles, ich habe ganz vergessen, was du studiert hast …“
„Nehmen wir einmal an“, fuhr Charles lächelnd fort, ohne auf die indirekte Frage einzugehen, „dass der Mord an Robert Hays wesentlich dazu beigetragen hat, dass Onkel George nicht von seiner Theorie abzubringen war. Was ist aber mit dem Papyrus?“
„Du meinst den Sethos-Papyrus?“
„So nannte Onkel George das Dokument. Ich kann nicht beurteilen, ob es diesen Namen zu Recht trägt.“
„Dann solltet ihr euch die Kopie ansehen, die wir besitzen.“
„Das werden wir nachher tun“, sagte Charles, „aber so viel wir wissen, ist sie unzureichend, so dass Onkel George das Grab nie fand.“
„Ja, sie ist unzureichend, weil Gabriel Fairbanks, Georges Sekretär, sehr vorsichtig beim Kopieren war. Man könnte ihn auch als zaghaft bezeichnen. Ich habe vor längerem einen Zeitzeugenbericht aus seiner Feder gelesen, in dem er niedergeschrieben hat, was damals geschehen ist. Ich weiß nicht mehr, wie er sich genau ausgedrückt hat, aber offenbar hatte der Papyrus unleserliche Stellen, vielleicht durch die Einwirkung von Wasser oder Schimmel. In den Übergangsbereichen zu diesen dunklen Stellen muss dennoch etwas zu erkennen gewesen sein, was Fairbanks sich allerdings nicht zu kopieren getraute. Er hielt das für gefährlich, er hatte Angst, den Papyrus unangemessen zu interpretieren, wenn er Zeichen kopierte, die er nicht genau erkennen konnte. Es wäre hilfreich gewesen, wenn er Hieroglyphen hätte lesen können, aber über diese Fähigkeit verfügte er nicht. Das war 1834, in der ersten der beiden Nächte, in denen sich der Papyrus in eurem trauten Heim befand, und zu dieser Zeit konnte man erst seit etwa zehn Jahren Hieroglyphen lesen. In der folgenden Nacht verschwand das Schriftstück.“
„Wie kommen wir an diesen Zeitzeugenbericht?“, fragte Charles. „Ich würde ihn gern lesen.“
William sah seinen Sohn erstaunt von der Seite an.
„Keine Sorge, ich bin völlig gesund“, feixte Charles.
„Ich werde ihn euch zumailen“, antwortete Archibald. „Der Mörder von Robert Hays wurde übrigens nie gefasst, wusstet ihr das? Es gibt ein knappes Dutzend Kandidaten, die es getan haben könnten. Die Villa in Luxor war ein Anlaufpunkt für allerlei abenteuerliche Gestalten, die Ägypten bereisten. Onkel George war daran gelegen, möglichst viel aus allen Winkeln des Landes zu erfahren, daher führte er ein offenes Haus, aber dabei ging es wohl nicht immer ganz konfliktfrei zu. In seinem Bericht schreibt Fairbanks, dass George und Robert Hays sich wegen des Papyrus‘ beinahe zerstritten haben.“
„Auch du glaubst also, dass der Papyrus das Mordmotiv war?“
„Das liegt nahe. Auch Onkel George hielt ihn für wertvoll.“
„Weil er einen Hinweis auf ein Sethos-Grab in Abydos enthält, das es nicht geben dürfte?“
Archibald antwortete nicht gleich, sondern musterte Charles und William ausgiebig, während er nachzudenken schien.
„Ich möchte zu Protokoll geben, dass ich kein Archäologe bin“, begann er langsam. „Ihr werdet euch die Abschrift des Papyrus selbst ansehen und euch ein Bild davon machen, und ihr habt Fachleute, die euch dabei helfen. Meines Wissens enthält der Papyrus einen ziemlich klaren Hinweis auf ein Grab des Sethos in Abydos, genau wie du sagst, aber bis heute war das der einzige Hinweis auf dieses Grab. Der Papyrus selbst scheint nicht unglaubwürdig zu sein, aber da George seine Theorie mit Emphase, um nicht zu sagen: mit Verbissenheit vertrat, hat es niemals eine wirklich neutrale Beschäftigung mit dem Papyrus gegeben, oder besser: mit der Abschrift. Jetzt hat euer Bill Sheridan einen weiteren Hinweis auf ein Sethos-Grab in Abydos gefunden, wie William sagt. Angesichts der Vorgeschichte und voller Respekt vor Onkel George müsst ihr sorgfältig abwägen, wie ihr diese Sache anfasst.“
„Natürlich“, sagte William. „Wir wissen, was wir unserer Familie schuldig sind.“
„George hat sich damals heftige Auseinandersetzungen mit namhaften Leuten geliefert“, fuhr der Amerikaner fort, „und dabei seinen Ruf beinahe ruiniert. Wenn ihr diese Debatte jetzt wieder aufleben lasst, müsst ihr euch absolut sicher sein.“
„Was für namhafte Leute?“, fragte Charles.
„Zum Beispiel Bernardino Drovetti.“
„Nie gehört.“
„Ich schon“, warf William ein, und seine Miene verdüsterte sich. „Das war ein ziemlich durchtriebener Mistkerl, der unseren Diplomaten das Leben schwer gemacht hat. Drovetti war unter Napoleon und später unter Karl X. französischer Konsul in Kairo, und seine Bubenstücke gehören zur Ausbildung an der Diplomatenschule.“
„Drovetti war zweifellos ein begabter Diplomat und Patriot, genau wie du, William“, versetzte Archibald lachend, „nur eben für die andere Seite.“
„Ist das noch so eine Familiengeschichte, die ich kennen müsste?“, stöhnte Charles.
„Eher etwas für den Hintergrund. Im 19. Jahrhundert lieferten sich England und Frankreich einen Wettlauf um Einflusssphären und Kolonien, und zwar mit allen Mitteln unterhalb der Schwelle zum offenen Krieg. Du darfst dir diesen Konflikt ganz ähnlich vorstellen wie den Kalten Krieg im letzten Jahrhundert – natürlich ohne Atomwaffen. Mitunter mündete dieser Konflikt in Stellvertreterkriege. Wenn du so willst, ist der Wettlauf um ägyptische Altertümer so ein Stellvertreterkrieg gewesen. Beide Seiten versuchten zu glänzen, indem sie großartige Kunstschätze aus Ägypten raubten und in ihren Hauptstädten glanzvoll präsentierten. Darum stehen heute in vielen damaligen Hauptstädten altägyptische Obelisken. Bernardino Drovetti war unter anderem dafür zuständig, Napoleon mit repräsentativen Altertümern zu versorgen, und dafür schickte er seine Agenten durch Ägypten und grub auch gelegentlich selbst. Sein Gegenspieler war Generalkonsul Henry Salt, unser Mann, der es genauso machte und übrigens einen berühmten Angestellten hatte, der sehr erfolgreich bei der Jagd nach Altertümern war: Giovanni Belzoni.“
„Diesen Namen habe ich schon mal gehört“, gestand Charles selbstironisch.
„Belzoni war der effektivste Antiquitätenjäger überhaupt, auch wegen seiner ruppigen Methoden. Den Zugang zur Chephren-Pyramide sprengte er sich beispielsweise mit Dynamit frei, und wohl kaum ein anderer wäre zur damaligen Zeit dazu fähig gewesen, den tonnenschweren Kopf einer Kolossalstatue des Ramses oder ganze Obelisken außer Landes zu schaffen.“
„Und wer hat diesen Wettlauf gewonnen?“
„Wir!“ William nickte. „Natürlich.“
„Aber die Franzosen waren auch nicht schlecht“, erwiderte Archibald. „Ein Beleg dafür ist der Obelisk auf der Place de la Concorde in Paris. Der steht dort nämlich schon seit 1836 als Sinnbild kolonialer Macht. Wir konnten diese Scharte erst 1878 auswetzen.“
„Wissenschaft und Prestige.“ Charles schüttelte den Kopf. „Damals schon so dicht beieinander wie heute.“
„Es ging meistens nicht um Wissenschaft, jedenfalls nicht, bis die Preußen kamen“, erwiderte Archibald. „Die brachten dann aber schnell System in die Sache.“
„Zurück zu Onkel George und dem Sethos-Grab“, mahnte William. „Wie realistisch ist es, die Existenz eines solchen Grabes anzunehmen?“
„Wenn man den Sethos-Papyrus beiseitelässt?“, fragte Archibald.
William nickte.
„Wie gesagt, ich bin kein Archäologe, aber ich kenne die Fakten. Als Giovanni Belzoni das Sethos-Grab im Tal der Könige im Jahr 1817 fand, war es so gut wie leer. Er fand lediglich einen wunderbaren, aber leeren Alabaster-Sarkophag in der Grabkammer. Keine Königsmumie und auch keinen Grabschatz, wie wir ihn beispielsweise aus dem Grab des unbedeutenden Pharaos Tut ench-Amun kennen. Bis heute ist mir nichts davon bekannt, dass Fundstücke aus dem Grabschatz des Sethos an die Öffentlichkeit gedrungen wären. Die Mumie des Sethos jedoch wurde 1881 gefunden, durch einen Deutschen namens Emil Brugsch. Sie befand sich in einem Mumiendepot in der Nähe des Tempels der Hatschepsut in Deir el-Bahari nahe Theben und ist die besterhaltene Pharaonen-Mumie, die bisher geborgen wurde.“
Charles hielt die Luft an, während er Archibald zu folgen versuchte. Das alles war ein Haufen Information auf einen Schlag. Er bereute, dass er sich noch nicht besser mit Ägypten vertraut gemacht hatte. Ein Tagestripp hinüber ans Westufer ins Tal der Könige, eine Besichtigung des Karnak-Tempels und natürlich seine Besuche in Kairo und Abydos, um als Chef von Deep Dry bella figura zu machen – das war bisher alles.
„Ich habe irgendwo mal gelesen“, sagte William, „dass die Sethos-Mumie wie auch andere Mumien vor Grabräubern in Sicherheit gebracht worden ist und dass die Priester sie deswegen in dem Mumiendepot eingelagert haben. Das würde erklären, warum kein Grabschatz des Sethos gefunden wurde: Er wurde geplündert, und das Gold wurde eingeschmolzen.“
„Das ist eine Theorie, die ziemlich plausibel klingt, die sich aber nicht beweisen lässt“, antwortete Archibald. „Ein Grabschatz besteht ja nicht nur aus Gold. Den Toten wurden Möbel und alle möglichen kostbaren Gebrauchsgegenstände ins Grab mitgegeben, die oft mit Königskartuschen gekennzeichnet waren, also den Namen der Toten, denen sie dienen sollten. Und nicht zu vergessen die vier Kanopenkrüge, in denen die mumifizierten Eingeweide ins Grab gestellt wurden. Nichts davon wurde im Fall Sethos jemals gefunden oder tauchte bei irgendeinem Kunsthändler im Lauf der letzten zweihundert Jahre auf. Deswegen kann man mit absoluter Sicherheit nur eines sagen: Die Mumie wurde nicht in ihrem eigenen Grab aufgefunden – warum auch immer. Fakt ist also: Es gibt ein seit langem bekanntes Königsgrab, das leer aufgefunden wurde. Und es gibt die Mumie des Königs, die an einem völlig anderen Ort gefunden wurde. Streng genommen muss man daraus folgern, dass das Grab Nr. 17 zwar mit Sicherheit das Sethos-Grab war, dass man aber nicht mit Sicherheit sagen kann, dass er tatsächlich dort bestattet wurde.“
„Und warum war das Grab Nr. 17 mit Sicherheit das Sethos-Grab?“
„Es wäre einfach unsinnig, etwas anderes anzunehmen. Es ist das längste und schönste Grab im Tal der Könige, und dafür wurde ein immenser Aufwand getrieben, den man sich hätte sparen können, wenn Sethos sich dort gar nicht hätte bestatten lassen wollen. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass Sethos ja nur elf Jahre lang Pharao war. Er hatte gar keine Zeit, woanders ein weiteres Grab zu planen und zu bauen – es sei denn, die Bauarbeiten wären parallel gelaufen. Und warum sollte man das annehmen? Wenn der Pharao entschieden hätte, sich woanders bestatten zu lassen, dann wären die Arbeiten am ersten Grab natürlich eingestellt worden.“
„Das klingt alles ziemlich logisch“, überlegte Charles. „Trotzdem hat Onkel George an seiner Idee festgehalten, denn der Sethos-Papyrus behauptet etwas anderes.“ Er runzelte die Stirn. „Ich frage mich gerade, ob Sethos überhaupt frei war in der Wahl des Ortes für sein Grab.“
„Wie meinst du das?“, fragte sein Vater. „Er war Pharao – ein Gottkönig. Wer hätte ihm etwas vorschreiben können?“
„Ich weiß nicht.“ Charles zuckte die Schultern. „Vielleicht die Tradition? Denk mal an Liz. Was glaubst du, was los wäre, wenn sie plötzlich entscheiden würde, nicht mehr im Buckingham Palace wohnen zu wollen?“
„Das ist doch etwas völlig anderes!“
„Nein, das ist Tradition. Wenn alle Vorgänger des Sethos im Tal der Könige bestattet worden sind, wird er vermutlich einen gewissen Druck gespürt haben, sich ebenfalls dort ein Grab zu bauen, selbst wenn er das eigentlich nicht wollte.“
„Das wäre ein weiteres Argument gegen ein Grab in Abydos“, versetzte William mürrisch. „Ich glaube, wir vergessen die Angelegenheit besser. Wir können nicht gewinnen. Ich habe keine Lust, als irrer William in die Geschichte einzugehen.“
„Die Einschätzung ändert sich, wenn ihr den Sethos-Papyrus und den neuen Hinweis berücksichtigt, den Bill Sheridan heute gefunden hat“, wandte Archibald fröhlich ein. „Der Sethos-Papyrus gibt einen klaren Hinweis auf ein Grab in Abydos. Onkel George hat durch seine Sturheit leider dafür gesorgt, dass die Wissenschaft diesen Papyrus nicht zur Kenntnis genommen hat. Im aktuellen Kenntnisstand ist er also nicht berücksichtigt. Das kann sich ändern, wenn man den Angaben des Papyrus‘ streng wissenschaftlich nachgeht. Also werft die Flinte mal nicht zu früh ins Korn, ihr zwei. Es gibt da nämlich außerdem noch weitere Ungereimtheiten …“
„Heraus damit!“, forderte Charles.
„Ich muss aber vorher zugeben, dass mich Onkel Georges Theorie fasziniert hat“, sagte Archibald. „Sonst hätte ich mich vermutlich nie näher mit den Hintergründen beschäftigt. Ich bin also nicht unbefangen.“
„Registriert. Schieß los.“
„Nun gut. Ich habe Zweifel, ob die Wissenschaft die Rolle des Sethos in seiner Zeit richtig deutet. Man kann Sethos nicht richtig verstehen, wenn man falsche Annahmen über seine Hintergründe trifft. Dann kommt man natürlich zu falschen Einschätzungen. Als Sethos Pharao wurde, hatte das Reich gerade eine Zeit von religiösen Wirren hinter sich, und die Menschen waren traumatisiert. Damals spielte die Religion eine ungleich wichtigere Rolle als heute …“
„Sag so was nicht“, unterbrach Charles, „bevor du nicht im heutigen Ägypten gewesen bist.“
„Charles, wir reden jetzt nicht über Islamisten“, rügte William, „sondern über Echnaton, wenn ich mich nicht irre.“
„Das ist richtig“, antwortete Archibald, „aber trotzdem danke für den Einwand. Wenn man hier in London lebt, könnte man zu dem Schluss kommen, dass sich die Aufklärung weitgehend durchgesetzt hat.“
„Aber nur, wenn man mit zwei geschlossenen Augen durch die Stadt geht“, versetzte Charles. „Auch in London gibt es religiöse Spinner. Und schau dir erst die USA an!“
„Ich spreche nicht von religiösen Spinnern oder Fanatikern“, widersprach Archibald, „sondern von zutiefst religiösen Menschen, die es gewohnt waren, ein einfaches und friedliches Leben zu führen, in dem alles klar geordnet war. Dieser Gott war für dieses zuständig, jener für jenes, die Götter waren anschaulich und volksnah. Und nun kam ein Pharao und räumte radikal mit dieser Vielgötterei auf, um einen einzigen Gott namens Aton einzuführen. Es war der erste Versuch einer Ein-Gott-Religion in der Weltgeschichte, und sie traumatisierte die einfachen Ägypter ebenso wie die Priester und Hohepriester, die plötzlich alle Macht und jeden Einfluss verloren. Aton wurde den Ägyptern einfach verordnet und übergestülpt. Pharao Echnaton baute eine neue Hauptstadt, Amarna, und krempelte das ganze Land um. Wenn in dieser Geschichte einer ein Fanatiker war, dann Echnaton.“
„Eine Revolution von oben also.“
„Die sich aber nicht durchsetzte. Nach dem Tod des Pharaos wurden die Änderungen rückgängig gemacht, wenn auch zunächst nur zögerlich. In diese Zeit fällt die Regentschaft des Kindkönigs Tut-ench-Aton, der sich in Tut-ench-Amun umbenannte, aber erst Sethos I. machte radikal Schluss mit Aton. Seine Vorgänger waren dem Ketzerkönig noch verbunden gewesen – sei es, dass sie sein leiblicher Sohn waren wie Tut-ench-Amun, sei es, dass sie Echnaton als General gedient hatten wie Pharao Haremhab. Erst Sethos hatte diese Nähe zu Echnaton nicht mehr.“
„Auch damals gingen Menschen also schon für ihren Glauben über Leichen.“ Charles schüttelte den Kopf.
„Vergiss nicht, dass Religion Orientierung bietet“, sagte William. „Religiöse Menschen sind nicht zwangsläufig fanatisch. Im Gegenteil – ich habe im Lauf meines Lebens viele bewundernswerte religiöse Menschen getroffen.“
„Ich rede auch eher von Dogmatikern“, erwiderte Charles, „so wie dieser Echnaton einer gewesen sein muss.“
„Nun begebe ich mich auf das Feld der Spekulation“, fuhr Archibald fort. „Ich glaube nicht, dass Sethos ein entschiedener Amun-Befürworter war, obwohl er den Amun-Kult restauriert hat. Ich glaube, dass er mindestens im gleichen Maß ein großer Verehrer eines anderen Gottes war, nämlich Osiris. Der wurde in Abydos verehrt – und damit steht und fällt das Bild von Sethos, das die heutige Wissenschaft hat.“
„Was bringt dich zu dieser Einschätzung?“
„Ich gebe zu, dass ich nur einen einzigen Hinweis anführen kann, aber dieser Hinweis ist etwa 160 Meter lang, 60 Meter breit und 16 Meter hoch: der Totentempel, den Sethos in Abydos errichtet hat. Schon Onkel George glaubte, dass Sethos eher dem Osiris verschrieben war als dem pompösen Reichsgott Amun. Ich gebe also keine eigenen Ideen wider. Seiner Theorie wohnt eine gewisse Logik inne.“
Charles und William sahen sich an.
„Klingt gar nicht so irre, was der irre George da geglaubt hat, oder?“, fragte Charles seinen Vater.
„Nein. Das sollten wir gründlich mit Bill besprechen.“
„Es gibt noch einen zweiten Hinweis dafür, dass die Wissenschaft mit ihrem Sethos-Bild vielleicht ein bisschen zu voreilig ist“, fuhr Archibald fort, während die beiden Männer am Schreibtisch in Luxor schon meinten, nun auf dem Stand der Dinge zu sein. „In der Grabkammer des Sethos-Grabes im Tal der Könige beginnt ein Korridor, der tief in den Berg führt und der bis heute nicht vollständig erforscht wurde.“
„Korridor K“, entfuhr es Charles.
„Genau. Es hat in zwei Jahrhunderten exakt drei Versuche gegeben, diesen Korridor zu erkunden, und alle sind gescheitert. Offenbar gleichen die Bedingungen da unten denen, mit denen Tiefseetaucher fertigwerden müssen. Mir kommt es allerdings sonderbar vor, dass der Forschungseifer bisher vor diesen Extremen zu kapitulieren scheint. Niemand weiß, was sich am Ende dieses Korridors befindet, und niemand scheint es noch wissen zu wollen. Vor diesem Hintergrund finde ich es äußerst merkwürdig, wenn die Wissenschaft trotzdem behauptet, ein rundes Bild von diesem Pharao zu haben.“
„Mir schwirrt der Kopf“, klagte Charles. „Ich brauche jetzt etwas zu trinken.“
„Sind wir an das Ende dieser Geschichte gekommen?“, fragte William nach London.
„Ganz sicher nicht“, antwortete Archibald, „aber an das Ende dessen, was ich euch erzählen kann – es sei denn, ihr wollt noch mehr über Onkel George und sein Leben wissen.“
„Vorerst nicht“, sagte William, „aber wir dürfen uns doch sicher wieder an dich wenden, wenn wir Fragen haben?“
„Gewiss.“ Archibalds rundes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. „Aber nur, wenn ihr meine Kompetenzen in Vulgärpsychologie nie wieder anzweifelt!“
Sie lachten, verabschiedeten sich und loggten sich aus.
„Der Tempel selbst als Hinweis auf ein Grab – dieser Gedanke hat was“, überlegte Charles. „Das Offensichtliche übersieht man leicht … War das wirklich alles neu für dich?“
„Nein, vieles davon wusste ich“, antwortete William, „aber es ist doch immer wieder erhellend, wenn jemand mit Überblick die vielen Schnipsel in den richtigen Zusammenhang rückt. Die Teile fügen sich zusammen, und man hat ein Aha-Gefühl.“
„Ich hätte mich viel früher darum kümmern sollen.“
„Du hast andere wichtige Dinge getan, mein Junge – zum Beispiel hast du studiert. In jungen Jahren setzt man andere Prioritäten.“
Es klopfte, und Elroy streckte seinen Kopf durch die Tür des Arbeitszimmers.
„Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Sir. Mr. Sheridan ist eingetroffen.“
Ihnen schwirrte noch der Kopf von den vielen Informationen, doch als Charles und William den Archäologen im Foyer trafen, kehrten sie schlagartig in die Gegenwart zurück. Bill machte ein ernstes Gesicht, wirkte gar verstört.
„Ich habe vielleicht einen Fehler gemacht“, bekannte er nach der Begrüßung. „Eigentlich wollte ich nur die Bestimmungen einhalten und habe daher das Inspektorat in Sohag über den Fund informiert. Der Inspektor reagierte aber völlig verärgert.“
„Ahmed Nur ed-Din?“, fragte William.
Bill nickte.
„Seit eineinhalb Jahren ist Nur ed-Din als Inspektor für Abydos zuständig, und seitdem gab es nichts als Probleme. Der Mann hat keine Gelegenheit ausgelassen, uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Bisher konnte er uns nicht ernsthaft am Zeug flicken, weil uns keine Regelverletzungen nachzuweisen waren, aber diesmal …“
„Die Tonkrüge“, vermutete William und deutete auf die Kiste, die im Foyer stand.
„Ich sollte nach Abydos zurückfahren“, sagte Bill, „und zwar schnellstmöglich. Nur ed-Din war auf 180, als er erfuhr, dass ich die Krüge von der Fundstelle entfernt habe, um sie ins Labor zu bringen. Ich habe ihn von unterwegs angerufen. Noch wütender wurde er, als ich ihm erzählte, dass ich nicht der zuständige Grabungsleiter bin, sondern nur in der Eile herbeigeholt wurde. Er hat eine sofortige Inspektion der Fundstelle angekündigt und mir befohlen, die Krüge auf der Stelle zurückzubringen.“ Er sah auf die Uhr und seufzte dann. „Inzwischen müsste er in Abydos eingetroffen sein. Oh Gott, Serafina …“
„Serafina ist vor Ort?“, fragte Charles.
„Sie hat vor einer halben Stunde durchgegeben, dass sie beim Osireion angekommen ist, und ich habe sie darauf vorbereitet, was ihr drohen könnte.“
„Dann machen Sie sich keine weiteren Sorgen. Serafina wird mit jedem fertig.“
„Das ist es ja. Sie könnte alles noch schlimmer machen.“
„Sie haben richtig gehandelt, Bill“, sagte William nach kurzer Überlegung. „Die Verwaltung ist in letzter Zeit ziemlich rüde mit uns umgesprungen. Was Sie berichten, passt zu meinen eigenen Wahrnehmungen von den Vorgängen in dieser Behörde. Wir rammen also mal einen kleinen Pflock ein und zeigen diesen Leuten, dass wir nicht alles mit uns machen lassen. Immerhin haben wir es auch früher schon so gehandhabt, dass sensible Artefakte schnell und unbürokratisch in unser Labor gebracht wurden, auch wenn das vielleicht nur dem Geist der Regeln entsprach, nicht aber ihrem Wortlaut.“ Er runzelte die Stirn. „Allerdings kann ich nicht verhehlen, dass ich ein mulmiges Bauchgefühl habe. Charles, was hältst du davon, ein paar unserer Sicherheitsleute nach Abydos zu beordern? Zwei oder drei Mann?“
„Gute Idee, Vater. Ich werde das gleich mit Sean besprechen.“
„Und wir zwei, Bill“, sagte William, während Charles sich entfernte, „bringen inzwischen diese interessante Kiste ins Labor. Wie alt, sagten Sie, sind diese Krüge?“
„Wenn sie in die Zeit gehören, die ihr Inhalt vermuten lässt, sind sie knapp 3300 Jahre alt.“
„Verdammt!“, entfuhr es William. „Hoffentlich zerbrechen sie nicht auf den letzten Metern.“
Vorsichtshalber beförderten sie die Kiste per Küchenlift in den Keller.