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3. Kapitel Carnavaughn House, Luxor 2. März 2014, 13 Uhr
ОглавлениеAuf der Straße vor der Villa, einer zweistöckigen Residenz im besten Vorort Luxors, stritt sich in der Mittagshitze ein Taxifahrer mit einem Eseltreiber lautstark um das Privileg der Vorfahrt, doch im Garten hinter der Villa war es schattig und ruhig. Die warme Luft war gesättigt vom erfrischenden, harzigen Duft mächtiger alter Pinien und erfüllt vom Konzert der Grillen.
Auf der von blühenden Hibiskushecken gesäumten, schattigen Veranda saß ein älterer Mann, dessen auffälligstes Merkmal neben seiner gepflegten, absolut perfekt sitzenden Kleidung ein mächtiger Zinken von Nase in einem hohen, schmalen Gesicht war. Trotz der tropischen Temperatur trug er Weste und Hemd vorbildlich geschlossen, nur auf das Jackett seines Anzugs hatte er verzichtet. Manschettenknöpfe blitzten auf dem blütenweißen Stoff der Hemdsärmel, und die burgunderfarben getüpfelte, im Grundton braune Fliege saß exakt horizontal. Der Mann studierte die Inhalte einiger Mappen aus dünnem Karton, die vor ihm in zwei Stapeln auf dem Tisch lagen; von dem einen nahm er sie herunter, auf den anderen legte er sie weg. Obwohl diese Mappen in tadellosem, sauberem Zustand waren, wirkten sie in dieser Umgebung staubig und deplatziert. Daneben standen einige Gläser und eine Karaffe auf dem Tisch, deren kristallklarer Inhalt kalt genug war, um sie beschlagen zu lassen.
William Edward Francis Carnavaughn hatte sich im Laufe seines langen Arbeitslebens angewöhnt, sich nach dem Lunch beim Studium von Geheimdienstdossiers auszuruhen, und von dieser Gewohnheit wollte er auch im Ruhestand nicht lassen. Anstelle von geheimdienstlichen Einschätzungen und Bulletins las er nun allerdings Berichte von den Unternehmungen der Carnavaughns, ob hier in Ägypten oder sonst wo auf der Welt. Dieses Material stellte Elroy für ihn zusammen, der Majordomus und Privatsekretär. Und weil William ein traditionsbewusster Mensch war, bestand er darauf, dieses Material in den gewohnten braunen Pappmappen vorgelegt zu bekommen.
Er hob kaum den Kopf, als ein zweiter Mann durch die Schiebetür, die er hinter sich wieder schloss, auf die Veranda trat, aber seine Mundwinkel zuckten missbilligend, als er registrierte, dass der Ankömmling lediglich mit Boxershorts und einem zerknitterten T-Shirt bekleidet war. Der Anblick der nackten Beine und Füße irritierte William, und er blickte schnell wieder in seine Mappe, sagte jedoch nichts. Er wollte sich nicht erneut den Vorwurf anhören, altmodisch und verknöchert zu sein.
„Guten Morgen, Vater“, sagte der Ankömmling.
„Guten Tag, Charles.“
Charles Edward Francis Carnavaughn ging auf die Kritik nicht ein, die in dieser Begrüßung unverhohlen mitschwang, sondern machte ein paar unbeholfene Klimmzüge am Verandadach und reckte ausgiebig seine schlaksige, jungenhafte Gestalt. Der junge Mann, der vielleicht einmal den klangvollen Titel des Lord Carnavaughn führen würde, war erst 29 Jahre alt. William war spät Vater geworden, und lange Zeit hatte es so ausgesehen, als ob es nie klappen würde. Charles war sein einziges Kind.
Der junge Carnavaughn schenkte kühles Wasser aus der Karaffe in ein Glas, ließ sich auf einen der freien Stühle am Tisch sinken und legte seine Füße auf die Sitzfläche eines anderen Stuhls. Das blonde Haar hing ihm wirr in die Stirn, ohne dass er etwas dagegen unternahm. Während er trank, blickte er seinen Vater über den Rand des Glases aus seinen grünen Augen an, den Augen seiner toten Mutter, doch er sagte nichts.
„Ist Serafina gegangen?“, fragte William betont nebensächlich, ohne von der Mappe aufzusehen, deren Inhalt er gerade studierte.
„Das ist ein bisschen blöd gelaufen“, antwortete Charles. „Kurz nachdem sie abgereist war, wurde in Abydos etwas entdeckt. Sag mal, was war dieser Sethos für ein Typ?“
William hob den Blick und sah seinen Sohn überrascht an.
„Typ?“
„War das einer, der klar heraus sagt, was er denkt, oder einer, der einem frech ins Gesicht lügt und hinterher Intrigen spinnt?“
William räusperte sich und nahm diese starre Haltung an, die Charles so an ihm hasste und zugleich bewunderte, diese Haltung, in der William zahllose diplomatische Schlachten für Liz und das Vereinigte Königreich geschlagen hatte. Immerhin legte er die Mappe beiseite.
„Charles, was ist passiert?“
„Bisher noch nicht viel. Serafina war nicht vor Ort, und Bill ist aus dem Häuschen.“
„Es muss schon einiges passieren, damit Bill aus dem Häuschen gerät“, versetzte William, „und bis du mich nach Sethos fragst.“
„Na ja, das sind alte Geschichten, oder? Aber wenn Bill sagt, dass der irre George vielleicht doch recht hatte, dann klingt das interessant, und wenn etwas interessant klingt, fange ich an, mich damit zu beschäftigen. Außerdem sagt Bill nichts ohne Grund, das weißt du genau.“
„Bill hat gesagt, dass George vielleicht doch recht hatte?“
„Ja.“
„Und wieso erzählt er dir das und nicht mir?“
„Weil ich ihn am Telefon hatte, während du hier deine Geheimdienstberichte gelesen hast“, antwortete Charles schnippisch.
„Elroy!“, rief William so laut, dass die Grillen im Garten für Sekunden aufhörten zu zirpen.
„Lass Elroy aus dem Spiel. Er kann nichts dafür. Ich habe ihm das Telefon abgenommen, er konnte gar nichts machen. Es ist auch gar nichts Dramatisches geschehen. Bill hat in Abydos irgendwelche alten Papyri gefunden, aus denen hervorzugehen scheint, dass es dort einen Totenkult für Sethos gegeben hat, und das irritiert ihn. Er meint, das dürfte nicht sein. Nun weiß ich aber ziemlich genau, dass es in Abydos einen Totentempel des Sethos gibt, denn eine gewisse Firma mit dem bescheuerten Namen Deep Dry, deren Geschäftsführer ich pro forma seit einem Monat bin, wird in eben diesem Totentempel bald Grundwasser absaugen. Und was wäre ein Totentempel ohne Totenkult, nicht wahr?“
„Ich glaube, ich rufe Bill lieber persönlich an“, erwiderte William misstrauisch, „und höre mir das aus erster Hand an. Deine Zusammenfassung befriedigt mich nicht.“
„Bitte sehr. Elroy!“
„Sie haben gerufen?“
„Das ist korrekt“, sagte Charles in gedehntem Tonfall, seinen Vater parodierend, als Elroy zu ihnen auf die Veranda trat.
Der Majordomus der Carnavaughns war ein schlanker, feingliedriger Waliser mit zurückweichendem Haar und einem gepflegten Schnauzbart. Seit fünfzehn Jahren hielt er den Betrieb der Residenz in Luxor in all seinen Facetten aufrecht, und damit hatte er eine Menge zu tun. Das Personal, das er zu überwachen und dessen Einsatz er zu planen hatte, umfasste zehn Köpfe, vom Küchenjungen bis zu den Wissenschaftlern im Labor. Als Williams Sekretär sortierte und beantwortete er außerdem dessen gesamte Korrespondenz, auch die der Carnavaughn-Stiftung. Einen ganz speziellen Blick hatte er darauf, dass das Zimmer im ersten Stock, in dem vor 180 Jahren ein schottischer Abenteurer und Landschaftsmaler namens Robert Hays ermordet worden war, sorgfältig verschlossen blieb. So verlangte es die Familientradition und das Vermächtnis von George Carnavaughn: Der Tatort sollte verschlossen bleiben und erst wieder betreten werden, wenn Methoden zur Verfügung standen, mit deren Hilfe der Mord aufgeklärt werden konnte. Die Leidenschaft, mit der die Carnavaughns diese Aufklärung betrieben, hatte allerdings nach Georges Tod beträchtlich nachgelassen, und für William und Charles war der Mord an Robert Hays nur noch eine dieser Geschichten, an denen ihre Familie so reich war und die mit ihnen persönlich nicht sonderlich viel zu tun hatten. Allerdings gab es da oben im ersten Stock tatsächlich dies verschlossene Zimmer, und jedes Mal, wenn sie daran vorbeigingen, erinnerten sie sich daran, was unter dem Dach dieses Hauses damals vorgefallen war. Trotzdem hatten weder William noch Charles sich jemals ernsthaft gefragt, ob inzwischen die Methoden zur Verfügung standen, auf die George gehofft hatte.
Sie nannten ihn den „irren George“, doch er war nicht verrückt gewesen, nur besessen, und dafür war Robert Hays verantwortlich, das Mordopfer. George musste diesen jungen Luftikus wie wahnsinnig geliebt haben. Immerhin hatte Hays fast ein Vierteljahr mit George hier in Luxor zusammengelebt, ehe das Verbrechen geschehen war. In dieser Geschichte spielte ein Papyrus eine Rolle, den Hays damals entdeckt hatte und der genau zwei Nächte in der Residenz verblieben war – denn seinetwegen war Hays ermordet worden. Zumindest war der Papyrus an jenem Morgen des 2. März 1834 verschwunden, als die Leiche des jungen Schotten gefunden wurde, und so lag dieser Zusammenhang nahe.
„Elroy“, fragte William den Majordomus mit hochgezogenen Augenbrauen, als er das Telefon entgegennahm, „mir kommt gerade der Gedanke, ob es wohl sein kann, dass es heute auf den Tag genau 180 Jahre her ist?“
„So ist es, Sir. Am 2. März vor 180 Jahren fand man die Leiche.“
„Erstaunlich. Und ausgerechnet heute findet Bill Sheridan einen Papyrus?“
„Es hat den Anschein.“
Charles lachte auf.
„Da besteht zweifellos ein Zusammenhang“, spottete er sanft.
„Wer weiß“, gab sein Vater trocken zurück. „Von Zufall reden oft nur die Bequemen, die zu müde sind, sich Zugriff auf alle Fakten zu verschaffen.“
Charles kniff die Lippen zusammen. Er war nicht müde oder gar faul, aber diese Geschichte klang einfach zu ungewohnt für seine Ohren. Ihm war völlig klar, dass er sich seit einem Monat in einem Land mit vieltausendjähriger Geschichte aufhielt, die mit der Geschichte seiner eigenen Familie eng verwoben war, aber um diese Hintergründe hatte er sich bisher kaum gekümmert.
Meinte Bill wirklich, dass der irre George mit seiner fixen Idee recht gehabt haben könnte? Und was war das für ein Papyrus, den Bill gefunden hatte? Charles bedauerte, vorhin am Telefon nicht genauer nachgefragt zu haben. Anscheinend war er immer noch nicht richtig in Ägypten angekommen.
Charles wusste von dieser alten Geschichte nur so viel: Onkel George hatte damals die These vertreten, dass das wahre Grab des Sethos in Abydos liegen müsse und nicht im Tal der Könige bei Luxor. Damit hatte er sich ins wissenschaftliche Abseits manövriert, denn die Tatsache war nicht von der Hand zu weisen, dass der Pharao im Tal der Könige ein riesiges, prachtvolles Grab hatte, das schönste im ganzen Tal, entdeckt von das Belzoni im Jahr 1817. Dennoch hatte Onkel George sein Leben lang an seiner Theorie festgehalten und nach Beweisen für ihre Richtigkeit gesucht, ebenso wie er jahrzehntelang versucht hatte, den Papyrus wiederzuerlangen, den Grund für den Tod seines geliebten Robert. Er nannte das Dokument „Sethos-Papyrus“. Wegen dieser Besessenheit nannten sie ihn „irrer George“. Und das war auch schon alles, was Charles über die Hintergründe dieser Geschichte wusste. Aber er nahm sich vor, sich zu informieren. Er hasste Wissenslücken, insbesondere dann, wenn sie ihn hilflos aussehen ließen. Sein Vater jedenfalls schien die Sache ernstzunehmen.
Charles verfolgte das Telefonat, das William mit dem Archäologen führte, und studierte die ernste Miene seines Vaters, die scharfen Gesichtszüge, den gewiss nicht attraktiven, aber eindrucksvollen Charakterkopf. Während Charles in den USA studiert hatte, hatten sie sich oft monatelang nicht gesehen. Jetzt wohnten sie seit einem Monat unter einem Dach. Daran hatte er sich immer noch nicht gewöhnt.
Schließlich gab William das Telefon in die Hände des Majordomus zurück, blieb aber still sitzen. Elroy stand abwartend neben ihnen. Man hatte ihm kein Zeichen gegeben, dass er sich entfernen solle.
„Bill wird gegen drei Uhr hier eintreffen“, sagte William schließlich. „Er bringt seinen Fund mit. Er hat ein ganzes Bündel von Papyri gefunden, die hinter dem Sethos-Tempel in einer Grube versteckt waren. Die Schriftstücke müssen extrem vorsichtig behandelt und restauriert werden. Elroy, das können wir doch in unserem Labor machen, oder?“
„Gewiss, Sir. Soll ich alles Nötige veranlassen?“
„Warten Sie bitte noch einen Moment, Elroy“, sagte Charles und wandte sich wieder an seinen Vater. „Meint Bill wirklich, dass Onkel George recht gehabt haben könnte?“
„Er hat sich vorsichtiger ausgedrückt, aber er hält es anscheinend für möglich.“
„Er glaubt also, dass Sethos ein Grab in Abydos hatte, so wie es auch in dem alten Papyrus von Robert Hays behauptet wird, im Sethos-Papyrus?“
„Nicht irgendein Grab“, erwiderte William, „sondern sein wahres Grab, und der Papyrus war nicht von Robert Hays, sondern Robert Hays war lediglich sein Entdecker.“
„Sein wahres Grab“, wiederholte Charles. „Also das Grab, in dem er nach seinem Tod bestattet wurde. In Abydos. Bisher bot der Sethos-Papyrus den einzigen Hinweis auf dieses Grab, richtig? Deswegen hat niemand an Onkel Georges Theorie geglaubt – so ist doch die Geschichte, oder?“
William bestätigte stirnrunzelnd jede Einzelheit.
„Keine Angst, Vater, ich rekapituliere nur, was ich über diese Angelegenheit weiß und was ich nicht verstehe. Also, der einzige Hinweis war bisher der Sethos-Papyrus, der in jener Mordnacht verschwunden ist. Aber wir haben eine Kopie davon, nicht wahr?“
„Richtig. Onkel George ließ damals, als der Papyrus sich in unserem Haus befand, seinen Sekretär eine Kopie erstellen. Er hielt den Papyrus wohl für bedeutend. Die Kopie befindet sich in unserem Besitz. Sie ist allerdings unzureichend, was auch der Grund dafür ist, dass Onkel George das Grab damals nicht finden konnte.“
„Wieso ist sie unzureichend?“
„Das weiß ich nicht“, gab William zu. „Ich habe mich mit diesen Dingen leider auch nur sehr oberflächlich befasst. Elroy, können Sie diese Frage beantworten?“
„Bedaure, Sir.“
„Macht nichts“, sagte Charles, „das finden wir ganz schnell heraus. Also, der Papyrus gibt einen Hinweis auf das Grab, der aber bisher nicht verifiziert werden konnte.“
„Falsifiziert übrigens auch nicht“, warf William ein, der plötzlich ganz neue Seiten an seinem Sohn entdeckte – systematisch, zielstrebig, darauf konzentriert, sich ein klares Bild zu machen, wie jemand, der in einen maßgeschneiderten Anzug schlüpfte. „Ich habe mir das von Bill einmal erklären lassen. Danach kann man eine Theorie unendlich oft verifizieren, also beweisen – aber eine einzige Falsifikation reicht aus, sie trotzdem für alle Zeit zu erledigen. Onkel Georges Theorie konnte nicht bewiesen werden, aber widerlegt ist sie ebenfalls nicht.“
„Das ist ja wohl auch schlecht möglich mit einer solchen Theorie“, erwiderte Charles. „Die könnte man nur widerlegen, indem man ganz Abydos aufgräbt.“
„Mach weiter mit deiner Rekapitulation“, forderte William ihn auf. „Der Papyrus gibt einen Hinweis auf die Existenz des Grabes – ja. Wie auch immer dieser Hinweis genau aussieht. Weiter?“
„Bill meint jetzt, einen zweiten Hinweis gefunden zu haben, was die Theorie glaubhafter machen würde, aber ich verstehe nicht, was es mit diesem Totenkult am Tempel von Abydos auf sich hat. Wieso soll das ein Hinweis auf das wahre Grab sein?“
„Weil die Liste, die Bill gefunden hat, erstens große Menge von Gütern und Opfergaben verzeichnet“, antwortete William, „und weil darunter kostbare Güter sind, zum Beispiel Weihrauch, und zwar gleich zehn Krüge davon, und das ausdrücklich für den Totenkult des Sethos! Weihrauch war schon damals ein extrem wertvolles Luxusgut. Zehn Krüge Weihrauchgranulat stellten ein enormes Vermögen dar, sagt Bill. Das sei ein deutlicher Hinweis darauf, dass dort in Abydos der eigentliche Totenkult stattgefunden hat. Und das bedeutet, sagt Bill, dass Sethos in Abydos bestattet worden sein muss.“
„Okay“, sagte Charles gedehnt und atmete tief aus, „jetzt habe ich es verstanden.“
William seufzte und musterte seinen Sohn mit einer Mischung aus Anspannung und Belustigung, doch ehe er etwas sagen konnte, schaltete sich Elroy ein.
„Wenn Sie die Einmischung gestatten, Mylord, Sir“, sagte der Majordomus: „Soll ich eine Kopie der Abschrift besorgen, damit Sie sie nachher gemeinsam mit Mr. Sheridan ansehen können?“
„Darum würde ich Sie gern bitten, Elroy“, antwortete William. „Und sorgen Sie auch dafür, dass Bills Fund im Labor mit Priorität behandelt wird. Vielleicht enthält die Schriftrolle wichtige Hinweise.“
„Sehr gern.“
Jetzt erhielt der Majordomus das Zeichen, dass er sich entfernen durfte. Als sie allein auf der Veranda waren, sagte William in fast feierlichem Ton:
„Charles, die alten Geschichten holen uns wieder ein.“
„Nicht zu fassen.“ Charles schüttelte den Kopf. „Und ich bin nicht vorbereitet. Vater, wenn es dieses Grab wirklich gibt, dann sollten wir es zu finden versuchen!“
„Zuerst einmal sollten wir uns kundig machen, und zwar gründlich. Ich fürchte, wir beide haben ein gutes Stück Arbeit vor uns. Lass uns nachher Archibald anrufen, möglichst noch bevor Bill eintrifft, damit wir vor ihm nicht wie dumme Schuljungen dastehen.“
„Und dann werden wir graben“, sagte Charles, und seine Augen leuchteten, „und eine sensationelle Entdeckung machen. Vielleicht finden wir sogar einen Goldschatz wie Howard Carter im Grab des Tut-ench-Amun. Das Grab in Abydos muss unberührt sein, wenn niemand davon gewusst hat.“
So wenig er sich bisher für die alten Geschichten interessiert hatte, so aufgeregt war er jetzt. All diese Familiengeschichten hatten bisher nicht viel mit ihm zu tun gehabt – einem jungen Mann, der im Hier und Jetzt ein privilegiertes Leben führte und sich noch nicht entschieden hatte, in welche Richtung es ihn führen sollte. Er hatte viele Interessen, aber keine davon war so ausgeprägt, dass sie ihm ein Lebensziel nahelegte. Der Geschäftsführerjob von Deep Dry war etwas, was er machte, um überhaupt etwas zu machen und um, da war er ehrlich zu sich selbst, vor seinem Vater nicht gar so nutzlos dazustehen. Aber die Projekte, die Deep Dry verfolgte, gefielen ihm. Überall in Ägypten waren antike Stätten vom steigenden Grundwasserspiegel bedroht – eine direkte Folge des Assuan-Staudamms, der für einen gleichbleibenden Wasserpegel des Nils sorgte. Zu altägyptischen Zeiten hingegen hatte der Pegel im Durchschnitt niedriger gelegen als heute. Deep Dry bot eine Technologie an, die relativ kostengünstig helfen konnte, die alten Bauwerke zu schützen. Darum war das eine gute Sache, mit der Charles sich angefreundet hatte, zumal sich damit auch noch Geld verdienen ließ. Doch jetzt geschah plötzlich noch etwas anderes: Die alten Geschichten seiner Familie bekamen einen Sinn für ihn. Etwas, was mit ihm zu tun hatte, ganz direkt und persönlich. Vor Erregung hielt es ihn nicht auf seinem Stuhl. Er sprang auf und machte erneut ein paar Klimmzüge.
Sie würden in die Fußstapfen des irren George treten! Charles wurde beinahe schwindlig.
Ein sanfter, heißer Wind aus der Wüste ließ die Pinien im Garten erzittern.
„Lass uns einen kühlen Kopf bewahren“, sagte William. „Es gibt da nämlich ein Problem. Das mit der Grabung wird nicht so einfach.“
„Was meinst du?“
„Ich glaube nicht, dass wir eine Grabungsgenehmigung bekämen. Es gibt derzeit massive Probleme mit der Altertümerverwaltung.“
„Und ohne offizielle Genehmigung?“
„Würden wir eine Straftat begehen. Nach ägyptischem Recht wäre das gleichzusetzen mit Grabräuberei und Plünderung, und die wird schwer bestraft. Das ist die Konsequenz aus den vielen Plünderungen in der Geschichte der Ägyptologie.“
Charles ließ die Schultern sinken. Sein Vater war über jeden Zweifel erhaben, was seine Fähigkeiten betraf, mit störrischen Beamten umzugehen. Wenn er die Lage derart skeptisch beurteilte, dann war sie vermutlich wirklich aussichtslos.
William Carnavaughn hatte vor einem Jahr, nachdem er als Diplomat ihrer Majestät offiziell in den Ruhestand entlassen worden war, im Auftrag der Familie den Vorsitz der Carnavaughn-Stiftung übernommen. Vorher war er britischer Botschafter im Libanon, in Jordanien und zuletzt in Ägypten gewesen und hatte beste Kontakte zu verschiedenen Geheimdiensten gepflegt. Jetzt verteilte er Fördergelder für archäologische Projekte, und an gewissen Tagen, an denen er sich schwach fühlte, empfand er es als erniedrigend, aufs Altenteil abgeschoben worden zu sein. Doch er wusste, dass die Führung der Carnavaughn-Stiftung eine verantwortungsvolle Aufgabe war, denn es ging dabei um viel Geld!
Auch die Carnavaughn-Stiftung war ein Erbe des irren George. Der Lord hatte einen für damalige Verhältnisse irrwitzigen Betrag in dieser Stiftung angelegt und verfügt, dass dieses Geld nur ausgegeben werden durfte, um die Entwicklung der Ägyptologie zu fördern. Seitdem finanzierte die Carnavaughn-Stiftung Grabungen in ganz Ägypten, auch Projekte der Luxor Archaelogical Research, des in Luxor ansässigen Forschungsinstituts der Familie. Damit blieb – ein durchaus erwünschter Nebeneffekt – ein Teil der Förderung in der Familie. Besonders gern wurden natürlich Grabungen in Abydos gefördert. Es stand zwar nicht ausdrücklich in der Stiftungssatzung, aber es entsprach dem Geist, aus dem heraus die Stiftung gegründet worden war, deren Satzung schrulligerweise mit dem ersten Satz des Sethos-Papyrus begann:
„Ehre dir, vergöttlichter Osiris in all Deiner Herrlichkeit!“
Damit war allen Beteiligten klar, dass George Carnavaughn mit der Gründung der Stiftung ein Ziel verfolgt hatte, auch wenn er dieses Ziel nirgends direkt benannte.
Nicht immer im Verlauf der Jahrzehnte hatten sich lohnende Projekte gefunden, die gefördert und finanziert werden konnten, viel Geld war in der Stiftung geblieben – und in den geschickten Händen einiger Carnavaughns, die es zu vermehren verstanden. Das Stiftungskapital war seit ihrer Gründung derart gewachsen, dass man einen nennenswerten siebenstelligen Betrag zum Neubau des Archäologischen Museums in Kairo hatte beisteuern können, ohne hinterher wesentlich schlechter dazustehen. Und Jahr für Jahr flossen große Beträge zur Unterstützung an die Altertümerverwaltung, jener Behörde, die alle archäologischen Aktivitäten im Land koordinierte und überwachte. Wer auch immer in Ägypten nach Altertümern zu graben gedachte, brauchte ihre Genehmigung und ihren Segen. Das Verhältnis der Carnavaughns zur Altertümerverwaltung konnte nur als blendend und unkompliziert bezeichnet werden.
„Was ist passiert?“, fragte Charles.
William seufzte.
„Ich kenne mich nicht mehr aus“, gab er zu – ein Bekenntnis, das Charles niemals von ihm zu hören erwartet hätte. Das strenge, klare Gesicht seines Vaters wirkte plötzlich schlaff und müde. „Dieses Land verändert sich, und ich verstehe die Entwicklung nicht mehr.“
Er, der internationale Fahrensmann, der mit allen Wassern der Diplomatie, auch den dreckigsten, Gewaschene, er, der Jassir Arafat, das größte Schlitzohr des Nahen Ostens, ausmanövriert hatte, dieser Mann gab zu, der Entwicklung nicht mehr folgen zu können? Charles war erschüttert.
„Auch mir fällt es schwer, die religiösen Fanatiker zu verstehen“, sagte Charles nach einer kurzen Pause der Befangenheit.
„Ich übertreibe nicht“, entgegnete William. „Meine Drähte zur Altertümerverwaltung sind wie abgestorben. Und zwar seitdem Direktor el-Kebir im Krankenhaus ist. Ich habe keine Ahnung, was in der Verwaltung vor sich geht, und das bin ich nicht gewohnt. Nehmen wir Hassan Maliki. Ich bekomme ihn einfach nicht ans Telefon. Mal lässt er sich verleugnen, mal werde ich vertröstet.“
Hassan Maliki war Oberinspektor der Altertümerverwaltung für den Landesteil Oberägypten. Er kontrollierte die Inspektoren, denen die einzelnen Bezirke wie Assuan, Edfu, aber auch Theben oder Abydos unterstanden, und war unmittelbar dem Direktorium der Behörde unterstellt. Ein Freund der Familie, wenn man so wollte. Sein Verhalten war daher zumindest ungehörig.
„Davon hast du nichts erzählt“, sagte Charles.
„Ich messe dem erst seit kurzem größere Bedeutung bei“, entgegnete William ebenso würdevoll wie schwammig, „erst seit mir klar wurde, dass wir unangemessen im Dunkeln tappen. Ich erfahre einfach nichts mehr darüber, was in der Verwaltung vorgeht, rein gar nichts. Wenn ich mich nicht täusche, verlieren wir gerade unsere guten Beziehungen zu ihr.“
„Sieh dir an, was in diesem Land passiert. Die religiösen Fanatiker sind überall auf dem Vormarsch.“
„Ich habe Bernard Tedritov bisher nicht für einen religiösen Fanatiker gehalten.“
„Tedritov? Ist das …“
„… el-Kebirs Stellvertreter, ja. Er leitet die Behörde zurzeit kommissarisch, und seit er das Ruder in der Hand hat, laufe ich gegen eine Wand. Wie hast du vorhin so schön gesagt: Da besteht zweifellos ein Zusammenhang.“
Charles spürte, wie er einen roten Kopf bekam. Es rächte sich eben immer wieder, wenn er seinen Vater auf den Arm zu nehmen versuchte.
„Tedritov … Sagt mir nichts. Kennen wir den?“
„Kaum. Wir wissen, dass er gebürtiger Franzose ist und irgendwann die ägyptische Staatsbürgerschaft angenommen hat. Außerdem ist er zum Islam konvertiert.“
„Wann?“
„Kurz nachdem El-Malak nach der arabischen Revolution ägyptischer Staatspräsident wurde.“
Charles lachte verächtlich.
„Ein Opportunist und Karrierist, oder? Ein Trittbrettfahrer.“
„Der uns nicht mag und uns das derzeit überdeutlich spüren lässt. Ich habe keine Ahnung, was er gegen uns hat.“
Das Schweigen, das diesen Worten folgte, dehnte sich. Schließlich schüttelte Charles unwillig den Kopf.
„Dann sollten wir auf anderen Wegen versuchen, uns eine Grabungsgenehmigung zu besorgen“, sagte er.
William sah auf, erstaunt über den bestimmenden Tonfall seines Sohnes. Dieser Wir-Ton! Wir Carnavaughns! Das war neu an Charles. Bisher hatte William geglaubt, einen Sohn zu haben, der sich um dieses mitunter recht einschüchternde Wir nicht kümmern wollte, es sei denn, es schränkte ihn ein und zwang ihn, sich zu wehren.
Charles bemerkte das Staunen und erklärte:
„Wir haben nicht über Jahrzehnte hinweg Millionen in die Altertümerverwaltung fließen lassen, nur um jetzt eiskalt abserviert zu werden. So läuft das Spiel nicht.“
William nickte zustimmend – er wusste genau, wie dieses Spiel eigentlich funktionierte. Weder Charles noch die Carnavaughns als Familie hatten tatsächlich Geld ausgegeben oder verloren, indem sie die Altertümerverwaltung unterstützt hatten – es handelte sich um Stiftungsgelder, um die Früchte sorgfältiger, nachhaltiger Geldanlagen, die einem Zweck zugeführt wurden, so wie der alte George es vorgesehen hatte. Trotzdem war es ihr Geld, denn Onkel George war einer der ihren, auch wenn er in wissenschaftlicher Hinsicht einen zweifelhaften Ruf genoss.
„Was ist mit el-Kebir?“, fragte Charles.
„Dem Direktor? Er ist schwer krebskrank und liegt in Kairo im Krankenhaus. Heilung fraglich.“
„Er war dein guter Draht in die Verwaltung, stimmt’s?“
„Ja. Nicht ausschließlich, aber der Kontakt zu ihm war ausgezeichnet.“
„Dann sollten wir diesen Draht nutzen, ehe es nicht mehr möglich ist. Ein Krankenbesuch wäre gewiss nicht unhöflich.“
„Ein Krankenbesuch?“
„Ja – um eine Grabungsgenehmigung zu bekommen. Der Direktor wird dir diesen Wunsch nicht abschlagen können.“
„Sicher nicht, aber …“ Der alte Lord seufzte. „Ich mag es nicht, wenn die Dinge sich zu überschlagen drohen. Man muss immer versuchen, Klarheit zu erlangen und Ruhe zu bewahren. Nachdenken, bevor man schießt.“
„Du kannst gern in Ruhe nachdenken“, entgegnete Charles kühl, „aber wenn wir demnächst Klarheit darüber brauchen, was notwendig ist, um dieses Grab zu finden, dann sollten wir mit uns im Reinen sein und wissen, was zu tun ist. Also denke nicht zu lange nach.“
„Charles, du verblüffst mich! Du erscheinst plötzlich so zupackend.“
Charles lachte leise auf.
„Kann es sein, dass du mich gar nicht richtig kennst?“
Jetzt war es an William, die Lippen zusammenzukneifen.
„Ich erscheine nicht nur zupackend“, fuhr Charles fort, „sondern ich bin es – wenn auch vielleicht nur hin und wieder. Wenn ich von etwas gepackt bin. Wenn Bill Sheridan mich überzeugt, werden wir graben. Das ist mein Entschluss. Und das heißt, dass wir eine Grabungsgenehmigung brauchen. Vielleicht schon bald.“
„Ich begrüße deine Entschiedenheit, auch wenn sie mich überrascht“, entgegnete William. „Trotzdem rate ich: Höre auf einen alten Mann und seine Erfahrung und lass uns nichts überstürzen. Ehe wir nicht alle erreichbaren Fakten kennen, sollten wir nichts unternehmen. Und vor allem sollten wir Tedritov nicht unterschätzen! Es wird Gründe dafür geben, dass er es zum stellvertretenden Direktor gebracht hat. Er wird Fähigkeiten haben.“
„Was auch immer das für Fähigkeiten sein mögen“, versetzte Charles düster. „Wann fliegst du nach Kairo?“
„Bald.“ William lächelte angesichts der Ungeduld seines Sohnes. „Erst werde ich es aber auf einem anderen Weg versuchen.“