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Kapitel 4
ОглавлениеIn der Schwebe
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Es war verführerisch, sich einfach treiben zu lassen, nicht völlig bewusstlos, aber restlos erschöpft. Eingehüllt in den Balsam der Feen, verbrachte sie heilsame Stunden im Dämmerzustand. Es tat so gut, aber tief in ihr wusste etwas, dass sie hier nicht allzu lange verweilen durfte, dass sie wieder in Gefahr war. Daher wurde sie zunehmend unruhiger und spürte bald, wie jemand nach ihr rief.
›Thea... Thea... hab keine Angst. Du bist in Sicherheit.‹
›Nein, nicht in Sicherheit... Gefahr... muss fort...‹, dachte Althea, immer noch nicht ganz wach.
Ti’Anan, der ihre Hand hielt, sie die ganze Zeit gehalten hatte, seit sie Althea durch das Tor gezogen und geheilt hatten, umfasste ihren Kopf und sprach beruhigend auf sie ein.
›Was ihr wohl widerfahren ist?‹, fragte eine andere, dunklere Stimme.
Die Königin sagte darauf: ›Sie hat ein Kind geboren und wurde schlimm gequält. Ihre Welt ist kein Ort für sie.‹
›Wir werden sie zu einer Auserwählten machen.‹
»Nein!«, stöhnte Althea und warf sich unruhig herum.
›Schscht, seid doch still‹, bat die Königin. ›Ihr macht ihr Angst.‹
›Jaaahh, das sollte sie auch haben, denn es ist ihr sicherer Tod‹, entgegnete Ti’Anan böse.
Sofort schwoll um ihn herum der Zorn der Feen an. ›Ti’Anan!‹ Die Stimme des Königs war streng. ›Du lässt sie jetzt schlafen!‹ Gleich darauf wurde sie dazu gezwungen. In ihrem geschwächten Zustand konnte sie sich nicht dagegen wehren.
Als sie das nächste Mal wach wurde, war sie allein. Zumindest in dem Raum, in dem sie inmitten weicher Kissen lag. Aber allein gelassen hatte man sie nicht. Etwas strich beständig um ihren Geist herum und wachte über jede ihrer Regungen. Kaum hatte sie sich aufgerichtet, die wie magisch schimmernde Decke von sich heruntergezogen und sich untersucht, ihre verschorften, fast verheilten Wunden betrachtet, erschien neben ihr auf einem Felsvorsprung etwas zu essen und zu trinken. Ausgehungert, wie sie war, griff sie sofort zu und entdeckte, dass sogar ihr Zahn wieder nachgewachsen war. Also war sie vollständig geheilt worden, dachte sie und ließ sich Zeit bei ihrem Mahl. Denn sie musste überlegen, was sie jetzt tun wollte. Zeit schinden, dachte sie und schirmte diesen Gedanken sorgfältig ab. Die Worte der Feen hatte sie noch gut in Erinnerung.
Doch viel Zeit war ihr nicht vergönnt. Kaum hatte sie den letzten Bissen heruntergeschluckt, kam Bewegung in ihre Umgebung. Herein schwebte die Feenkönigin, und hintendrein schlich – heimlich, das mochte sie wetten – Ti’Anan. Er kümmerte sich nicht um die deutlich spürbare Missbilligung der Königin, sondern stürmte zu Althea und umarmte sie. ›Wie sehr hatte ich gehofft, dass du mich hörst‹, dachte sie und erwiderte die Umarmung fest.
›Was ist dir nur geschehen? Wer hat das getan?‹
Althea ließ ihn los. ›Die Feinde meiner Familie. Ich war unvorsichtig, und sie haben mich... mich...‹ Sie konnte nichts dagegen tun. Das Bild ihrer kleinen Tochter in den Händen der alten Hexe kam wieder in ihr hoch, es gelang ihr nicht, es zu verbergen. Ti’Anan und die Königin sahen überdeutlich, was geschehen war.
›Meine liebe Althea...‹, die Königin schwebte zu ihr und umfing sie sanft, ›deine Welt ist wahrhaftig ein grausamer Ort. Es ist gut, dass du hier bei uns und in Sicherheit bist.‹
Dem neuen Ansturm ihres Leids war Althea nicht gewachsen. Ein Gedanke schoss in ihr hoch, sie konnte ihn nicht zurückhalten: ›Jaah, das möchte ich wetten, dass Ihr das denkt‹, dachte sie.
Sofort ließ die Königin sie los. Sie schien anzuschwellen, vor Ärger und auch vor Misstrauen. Es bestärkte Althea darin, diesen Wesen nicht zu trauen. Vorsichtig raffte sie die Decke um ihre bloßen Schultern und wich bis an die Wand ihrer Schlafstätte zurück.
Ihr Verhör begann sofort. ›Du hast also dein Versprechen erfüllt und Nachkommen geboren?‹
Das konnte Althea nicht leugnen. Es war einfach zu viel für sie. Sie schluchzte auf. ›Ich weiß nicht, ob meine Tochter überlebt hat. Sie waren so grausam. Warum sollten sie sie am Leben gelassen haben? Oh, warum nur, warum?‹, schrie sie verzweifelt auf und kauerte sich an der Wand zusammen.
Ti’Anan war sofort bei ihr und stellte sich schützend zwischen sie und die Königin. ›Lasst sie in Ruhe!‹, fauchte er und bleckte seine spitzen Zähne.
›Oh nein, das werden wir nicht! Diese Fragen müssen beantwortet werden.‹ Ein Wink mit der durchsichtigen Hand der Königin, und Ti’Anan wurde von Althea fortgerissen zur gegenüberliegenden Wand, wo er nicht eben sanft abgesetzt wurde. Althea ballte die Fäuste, als die Königin zu ihr schwebte. ›Im Schlaf hast du von zwei weiteren Kindern geträumt, zwei Jungen. Wer war das?‹
Althea presste die Augen zusammen, aber es half nichts. Es floss einfach so aus ihren Gedanken heraus. ›Kjell und Bjarne. Meine Söhne.‹
›Hast du herausfinden können, ob sie begabt sind?‹
Althea schluckte. ›Nein, wir... wir haben es noch nicht, und ich weiß nicht, ob meine Tochter...‹
Ein erneuter Wink der Königin unterbrach sie. Wie an Fäden gezogen stand Althea auf und ging zu ihr, nur bekleidet mit der Decke, die sie wie ein Umhang umgab. ›Das werden wir herausfinden. Jetzt gleich.‹
Sie ließ ihr wirklich keine Wahl. Keine Rücksicht auf ihren Zustand, auf die kaum verheilten Wunden. Mehr ungläubig als verzweifelt lief Althea hinter der Königin her, nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Oder verhinderten sie es?
Bald darauf standen sie in einer großen Höhle. Sie waren allein hier, und selbst wenn sie es nicht gewesen wären, Althea hätte wohl niemandem Beachtung geschenkt. Denn an der dem Eingang gegenüberliegenden Wand schimmerte eine leuchtende Fläche. War es ein Tor? Aber es sah so merkwürdig aus, nicht diese silberne, seidige Fläche, die sie sonst kannte. Nein, dieses hier leuchtete in einem Rausch aus Farben, den sie schon einmal gesehen hatte, wie sie sich nun erinnerte: Es war in der Höhle unter Temora gewesen, die Wolke, in der die toten Feen schwebten.
›Ist das... ein Tor?‹
›Das hoffst du, nicht wahr?‹ Die Königin schwebte langsam darauf zu und wandte sich dann zu ihr um. ›Nein, es ist kein Tor in dem Sinne. Durch diesen Schleier ist die Verbindung zwischen unseren Welten sehr dünn. Es ist keine reelle Verbindung, sondern eine des Geistes. Die Auserwählten nutzen sie seit Anbeginn der Zeit, um ein letztes Mal den mit ihrer Seele Verbundenen Lebewohl zu sagen, bevor sie den Weg ihrer Bestimmung gehen.‹
›Bevor sie sterben. Ich verstehe.‹ Althea schluckte und spürte Ti’Anans Hand in ihrem Rücken, wie er sie stärkte. ›Was wollt Ihr, das ich tue?‹
Das Wort ‚sterben’ erboste die Königin. ›Wie kannst du es wagen! Diese Dinge sind heilig.‹
›Ich glaube nicht an heilige Dinge. Sie sind nur eine Erfindung, eine Form von Macht. Tut mir leid‹, beschied Althea knapp. Sie trat auf die Fläche zu. ›Sagt, kann ich durch die Fläche nach meinen Kindern sehen? Nach meiner Tochter?‹ Fast schon hob sie die Hand, um sie darauf zu legen, aber die Königin hielt sie zurück.
›Ja, das kannst du, und das ist es, was ich möchte. Wenn deine Tochter begabt ist, wird sie dich erkennen. Aber gib Acht. Verweile nicht zu lange dort drüben. Ti’Anan hier wird dich festhalten, denn wenn du den Halt verlierst, wird deine Seele auf immer zwischen den Welten wandern. Das ist fast ebenso schlimm wie ein Opfer des Todesringes oder SEINER Wesen zu werden.‹
›Ich bleibe bei dir, Thea, was auch immer geschieht‹, sagte Ti’Anan und trat zu ihr.
Dankbar lächelte sie ihm zu, während sie im abgeschirmten Teil ihres Verstandes fieberhaft nach einer Möglichkeit des Entkommens suchte. ›Und was hilft es, wenn meine Tochter begabt ist? Es gibt niemanden, der sie lehren kann. Mit mir geht das Geheimnis der Druidai verloren‹, wandte sie mit einem erneuten Versuch ein.
Die Königin erhob sich in den Raum. ›Du wirst sie von hier lehren, während du das Kind des Königs trägst. Es bleibt genug Zeit. Mehr als genug Zeit.‹ Und damit schwebte sie hinaus.
»Sie werden dich trotzdem überwachen«, flüsterte Ti’Anan fast unhörbar.
Althea sah ihn erstaunt an, die ausgestreckte Hand, die sich schon auf das Tor legen wollte, verharrend. Sie hatte fast vergessen, dass er als Halbmensch ja richtig sprechen konnte, und welche Wirkung ihre Sprache in dieser Welt hatte. »Warum nur sind sie auf einmal so...?« Althea fand keine Beschreibung dafür.
»Kein Gedanke, keine Regung entgeht ihnen, selbst nicht diejenigen der wandernden Seelen. Als du dem Tode nahe warst, hat dir Asklepia gezeigt...«
»Du hast uns gehört?« Althea mochte es kaum glauben.
»Nein«, er bleckte die Zähne, »aber meinen Vater und den Rat, wie sie sich über Asklepia erbosten. Sie nennen sie eine Verräterin.«
»Weil sie mir ihre Sicht der Dinge gesagt hat? Und ich eigene Gedanken dazu hatte? Dass sie die Auserwählten nicht wirklich brauchen? Ja, denken sie denn, wir sind dumm? Aus Stein? Und jetzt wollen sie mich um jeden Preis hierbehalten, damit ich keinem mehr davon berichten kann? Dafür ist es längst zu spät. Ich habe die Geschichte aufgeschrieben. Ha!« Das letzte Wort kam lauter heraus als beabsichtigt. Es wehte wie ein heftiger Windzug durch die Höhle.
»Schscht, sei still, sonst merken sie noch etwas. Ich werde dir helfen, aber zunächst muss du erst einmal tun, was sie sagen. Zeit gewinnen müssen wir...«
»Diese Zeit habe ich aber nicht!«, schrie Althea fast lautlos heraus. Sie rieb sich rastlos über das Gesicht. »Mit jeder Stunde, jedem Tag, vergeht dort drüben ein ganzes Jahr. Ich... ich... oh bitte, Ti’Anan, hilf mir!« Sie brach fast zusammen. Aber nur fast. Ti’Anan fing sie auf und schüttelte sie. Sein eindringlicher Blick aus den goldenen Augen gemahnte sie, sich nicht gehen zu lassen. Mit einem fast übermenschlichen Willen schaffte sie es, die aufkommende Panik zu verwinden. Einmal, zweimal atmete sie tief durch. Dann nickte sie ihm zum Dank zu, legte die Hand auf das Tor und konzentrierte sich.
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Für Jeldrik begann die schlimmste Zeit seines Lebens. Der Sieg über die Goi, die nun sichere Grenze, die Tatsache, dass die Ethenier klein beigaben, weil ihnen die Verbündeten abhandengekommen waren, und dass die Saraner ihn feierten, all dies war in seinen Augen nur Hohn. Denn seine Seelenhälfte, der strahlende Mittelpunkt seines Lebens fehlte, und ohne sie war alles nur düster und leer. Jeldrik hatte vor sich selbst das Gesicht verloren, als er ohne die Geliebte nach Hause kam und nicht erklären konnte, was mit ihr geschehen war. In seinen Ohren klang es mehr als wahnsinnig zu behaupten, sie lebe noch und würde einst heimkehren. Also schwieg er, wurde wortkarg und in sich gekehrt. Und weil er seine Angst um sie, seine Trauer und seinen Zorn irgendwie in den Griff bekommen musste, stürzte er sich in seine Arbeit, um wenigstens einige Zeit am Tag zu vergessen, so sehr, dass es vielerorts für Kopfschütteln sorgte.
Natürlich gab es Gerede. Zu merkwürdig war das Verhalten von ihm und seinen Freunden auf dem Heereszug gewesen. Warum trauerte er nicht in aller Öffentlichkeit um seine Frau? Warum gab es keinen Todesritus, nicht einmal eine Erklärung, was geschehen war? Es dauerte nicht lange, da kam dieses auch Sylja und damit Roar zu Ohren. Der Clansführer nahm sich seinen Sohn vor. Er solle dem Clan keine Schande bereiten und ein für alle Mal einen Schlussstrich ziehen und Althea für tot erklären. Voller Zorn warf Jeldrik daraufhin seinen Vater hinaus. Einen solchen Verrat mochte er nicht begehen.
Seine Söhne, die einen liebevollen, manchmal sogar fröhlichen Vater kannten und sehnsüchtig auf eine Erklärung warteten, verstörte es vollends. Natürlich hörten sie die Gerüchte und bekamen jedes Wort mit, aber Jeldrik verschwieg ihnen, was wirklich geschehen war. Wie sollte er ihnen erklären, dass ihre Mutter zurückkehren würde? Bald... irgendwann? Ohne dass sie es jemandem verrieten, ihren verehrten Großeltern zum Beispiel? Es zerriss Jeldrik fast, ihnen nicht diese Hoffnung geben zu können, die ihn aufrecht hielt, die ihn weitermachen ließ Tag für Tag für Tag.
So begann sich ein Riss durch die Familie zu ziehen, unmerklich für den in sich gekehrten Jeldrik. Rike, die sich mehr schlecht als recht in der Rolle der Ersatzmutter für alle drei Kinder zurechtfand, wusste nicht, was sie tun sollte. Kjell zürnte mit seinem Vater, weil der ihm nicht die Wahrheit sagte, fühlte sich von ihm und von seiner Mutter verraten. Er suchte Zuflucht bei seinem Großvater, der sich die Gelegenheit natürlich nicht entgehen ließ, seinen ältesten Enkel und künftigen Erben vollends zu vereinnahmen. Bjarne dagegen entwickelte sich zu einem zweiten Regnar. Er trieb sich herum, im Hafen, in den Sümpfen, oft den ganzen Tag lang, sodass sie ihn manchmal abends suchen mussten. Keine Althea war da, die die Familie zusammenhielt und ihnen Geborgenheit gab, und wo einst ein warmes Heim gewesen war, gab es nur noch einen Schlafplatz, einen Unterschlupf gegen Regen und Sturm.
Als Rike sich endlich ein Herz fasste und sich Jeldrik vornahm und ihn zurechtstutzte, war es bereits tiefer Winter und fast zu spät. Es war für Jeldrik, als hätte ihm jemand in eiskaltes Wasser geworfen. Voller Selbstvorwürfe wollte er sich wieder seiner Jungen annehmen und stellte fest, dass sie ihm mit Misstrauen gegenüberstanden. Würde er ihre eigenmächtigen Streifzüge unterbinden, so würde er sie vollends verlieren, das wurde ihm klar. Also begann er sie zu locken, mit etwas, das andere Jungen in Saran so nicht bekamen: Wissen. Er begann sie zu unterrichten und schränkte damit ihre freie Zeit ein. Es war eh längst Zeit dafür, ihnen Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Natürlich war Kjell noch immer oft bei seinem Großvater anzutreffen und Bjarne im Hafen, aber sie sahen ihren Vater wieder als das, was er war: ihr Familienoberhaupt.
Die kleine Faye war es schließlich, welche ihre drei ‚Männer’ zusammenhielt und sie wieder zu einer Familie werden ließ. Je älter sie wurde, desto mehr forderte sie ihre ganz eigene Art an Aufmerksamkeit und gab sich nicht damit zufrieden, still den Tag mit den anderen Frauen zu verbringen. Ließen ihre ‚Männer’ sie allein, gab es ein Geschrei, dass es die Wände des Hauses zum Wackeln brachte. So verbrachte jeder von ihnen einen Teil des Tages mit ihr, sei es im Haus, im Hafen oder auf dem Sitz des Clansführers, trotz allen Spottes ihrer Altersgenossen. Bald wurde Faye zum Liebling aller, des gestrengen Clansführers eingeschlossen. Ihr Lachen, das Strahlen ihrer blauen Augen, ihre unabdingbare Liebe war Balsam für ihre Seelen, und sie brauchten dies alle bald so sehr wie die Kleine. Wie sie wuchs und gedieh, so wuchs auch diese Zuneigung und damit der Halt ihrer Familie.
Selbst nachts ließen die Jungen ihre kleine Schwester nicht mehr von ihrer Seite, und das war gut so. Denn eines Nachts, da war der Winter schon fast vorüber und der Frühling nahte, geschah etwas, das sie alle niemals vergessen sollten.
Da sie dicht bei Faye schlafen wollten, hatten sich die Jungen eine Ecke des Wohnraumes als Schlafplatz für sich hergerichtet. Ursprünglich war die umlaufende Schlafbank genau dafür gedacht gewesen, nur dass Jeldrik und Althea die ‚gildaische’ Variante mit einzelnen Schlafräumen vorgezogen hatten, so, wie es Bajan und Phelan einst auch in diesem Haus getan hatten.
Kopf an Kopf lagen die beiden Jungen bei Faye, und so hörten sie auch sofort, wenn sie sich zu rühren begann. Doch in dieser Nacht war etwas anders. Faye gluckste und lachte. Kjell, der den leichteren Schlaf von beiden hatte, war sofort wach.
»Ach Faye, was ist denn?« Er richtete sich auf und rieb sich die müden Augen.
Sie jedoch reagierte nicht wie sonst auf ihn, wandte nicht einmal den Kopf. Die Arme nach oben gestreckt, strahlte und brabbelte sie fröhlich vor sich hin und strampelte mit ihren Beinchen.
»Du spinnst wohl«, brummelte Kjell und wollte sich wieder hinlegen, da wurde auch Bjarne wach.
Er sah erst Kjell an, dann Faye, und dann wanderten seine Augen an ihren Armen nach oben. Mit einem Aufschrei fuhr er zurück.
»Bani, was ist denn?« Kjell sah verwundert zwischen seinem Bruder und seiner Schwester hin und her.
Doch Bjarne hörte ebenso wenig auf seine Frage. Seine Augen wurden immer größer. »Mama?«, flüsterte er, und Faye lachte, sie strahlte geradezu.
»Was zum... Bani! Was soll das?«
»Siehst du sie denn nicht? Mama!« Bjarne sprang auf und breitete die Arme aus, als wolle er jemanden umarmen. Prompt verlor er das Gleichgewicht und fiel von der Schlafbank, was Faye unheimlich komisch fand. Sie quietschte drauflos, als Bjarnes Schmerzensschrei durch die Hütte hallte.
»Sag mal, hast du von dem Met getrunken?!«, herrschte Kjell seinen Bruder an.
»Neeeein! Mama... Mama!« Plötzlich schrie Bjarne auf. Es war ein Schrei, so laut, dass er auch Jeldrik und Rike weckte. Der Schrei wurde zu einem wilden Geheul. »Neein, Mama, nein, bleib hier! Sei vorsichtig... aaaah!«
Als Jeldrik gefolgt von Rike in den Wohnraum stürzte, dachte er, seine Kinder seien unter die Räuber gekommen, aber dort war niemand außer Kjell, der seinen sich wie wild gebärdenden Bruder zu bändigen versuchte, und eine heulende Faye. »Was ist hier los? Bjarne!« Jeldrik packte seinen Jüngsten und hob ihn auf die Arme, während sich Rike um die Kleine kümmerte. »Hast du schlecht geträumt? Ist ja gut.« Bjarnes Schreie wurden zu einem leisen Schluchzen.
Als es Rike nicht gelang, Faye zu beruhigen, trug sie das Mädchen hinüber in die Sklavenunterkunft zu ihrer Amme. Jeldrik lief indes beruhigend brummend mit Bjarne auf dem Arm auf und ab, eifersüchtig beobachtet von Kjell. Solche Gesten waren selten geworden bei ihrem Vater, und am liebsten hätte er sich auch an ihn gedrängt, aber gleichzeitig wollte er sich diese Blöße vor seinem jüngeren Bruder nicht geben.
Nur langsam ließen Bjarnes Schluchzer nach, doch irgendwann war er ruhig, den Kopf an Jeldriks Schulter gekuschelt. »Magst du mir erzählen, was du geträumt hast?«, fragte Jeldrik schließlich und setzte sich mit ihm neben Kjell.
Bjarne machte eine Bewegung, halb Kopfschütteln, halb Nicken. »Kein Traum. Mama war hier.«
Jeldrik durchfuhr ein schmerzhafter Stich. Er warf seinem Ältesten einen überraschten Blick zu. Der hob die Schultern. »Was meinst du damit, Mama war hier?« Eine Bewegung in der Tür ließ ihn aufsehen. Rike stand dort, die Hände ineinander verkrampft. »Bjarne! Keine Angst, du kannst es uns ruhig sagen. Bei deiner Mutter ist alles möglich.«
Da schluckte der Kleine tapfer und richtete sich auf. »Sie wollte Faye sehen und herausfinden, ob sie so ist wie sie.«
»Und du, hast du sie auch gesehen?«
Feierlich nickte Bjarne. »Ja, ich auch. Sie hat geweint und gesagt, dass sie zu uns zurückkommen möchte, aber es wird schwierig. Sie wollen sie nicht fortlassen. Und dann... und dann...« Bjarne verzog das Gesicht, als wolle er gleich wieder losheulen. Er barg den Kopf an der starken Schulter seines Vaters.
»Was, Sohn? Was geschah dann?« Jeldrik wagte kaum zu fragen. Alles in ihm schmerzte, so sehr, dass er am liebsten die Wände hochgegangen wäre. »Sag schon!«, knurrte er, bewusst streng diesmal.
»Dann... dann kam das Monster und zog sie weg.«
»Das Monster, Bani?« Rike setzte sich endlich zu ihnen.
»Jaaahh...«
»Hmm«, brummte Jeldrik, »und wie sah es aus?« Kjell hob überrascht den Kopf bei den Worten seines Vaters. Er nahm dieses wirre Gerede ernst?
»Es... es hatte ganz spitze Finger... Klauen wie Urgroßvater. Und ebensolche Zähne und... Flügel. Große Flügel.«
»Oh.« Jeldrik musste wider Willen lächeln, und es war ein erleichtertes Lächeln. »Es mag zwar schrecklich aussehen, aber das war kein Monster, sondern ein Freund. Ein Freund eurer Mutter, und er heißt Ti’Anan. Er versucht mit Sicherheit, ihr zu helfen, so, wie er es das letzte Mal auch schon getan hat.«
»Das letzte Mal? Was soll das bedeuten?«, fragte Rike. Kjell klappte seinen Mund wieder zu, der eben dieselbe Frage aussprechen wollte.
Jeldrik zögerte nicht mehr. Jetzt erzählte er seinen Söhnen endlich die Geschichte der Druidai, mit allen Einzelheiten. Bjarne und Rike lauschten ihm mit Augen, die immer größer wurden. Kjell jedoch verschränkte die Arme und wich immer weiter zurück. »Ihr seht also, sie versucht, zu uns zurückzukehren, und sie wird es schaffen. Wenn es einer schafft, dann eure Mutter«, schloss Jeldrik und flehte inständig, dass dies wahr werden möge.
Mittlerweile hatte sich Bjarne auf dem Schoß seines Vaters zusammengerollt, den Daumen im Mund. Jetzt nahm er ihn heraus. »Oh jaaah, das wird sie«, sagte er, »wir haben es gesehen.«
»Nein!«, entfuhr es Kjell. Er sprang auf. »Nichts habe ich gesehen, rein gar nichts! Ihr seid ja alle verrückt! Mama ist tot, sagt Großvater, und sie wird es bleiben!«, schrie er außer sich vor Zorn und stürzte hinaus.
Rasch schob Jeldrik Bjarne von seinem Schoß zu Rike hinüber und stürmte hinter ihm her. Der Zorn, dass sein Ältester ihm nicht glaubte, stritt mit Mitleid in ihm. »Kjell! Bleib stehen!« Am Ende ihres Hofes zu Beginn der Weiden erwischte er ihn und hielt ihn fest. »Bleib hier!«
»Nein!« Voller Zorn begann Kjell auf seinen Vater einzuschlagen, er steigerte sich in einen richtigen Wutanfall hinein.
»Kjell, hör auf!« Jetzt wurde Jeldrik richtig laut und schüttelte den Jungen grob, was seine Wirkung nicht verfehlte. Im Dunkeln konnte Jeldrik die Miene seines Sohnes nicht sehen, aber er ahnte, dass sie trotzig und zornig war. »Warum bist du so wütend? Sprich mit mir! Kjell!«
»Weil... weil... warum hat sie uns im Stich gelassen? Warum zeigt sie sich nur Bani und Faye? Warum nicht dir und mir?« Plötzlich brach Kjell in Tränen aus, etwas, das er schon lange nicht mehr getan hatte. Er fand, er war zu groß dafür, deswegen schluckte er dergleichen meist herunter.
»Schscht, ist ja gut.« Zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit, so schien es Jeldrik, war er seinem Ältesten etwas näher gekommen. Er hatte ihn wirklich fast verloren, dachte er voller Trauer, als er merkte, wie der Junge sich gegen seine Umarmung sträubte. Also setzte er sich mit ihm an den Weidezaun, fasste ihn aber nicht an.
»Weißt du, dass deine Mutter sich nur den beiden zeigt, hat nichts damit zu tun, dass sie uns nicht liebt. Sie ist meine Seelenhälfte, ohne einander ist unser beider Leben nur unvollständig. Aber wir beide haben nicht ihre Gabe geerbt wie Bjarne und Faye. Deswegen sehen sie sie, und wir können es nicht. Es ist ein wenig unheimlich, stimmt’s?«
»Jahh... schon.« Kjell lehnte seinen Kopf an die Schulter seines Vaters. Endlich.
»Ich weiß, dass dein Großvater mich für verrückt hält, so wie er alles für verrückt hält, was mit ihr zu tun hat. Aber wir tun das nicht, ich und meine Freunde hier und in Temora und Gilda, und weißt du auch, warum?«
»Nein. Ich möchte es wissen. Bitte, Vater.« Das kam aus vollem Herzen, und deshalb störte sich Jeldrik nicht daran, dass es mitten in der Nacht war und der Junge eigentlich ins Bett gehörte. Er sprach mit ihm über ihre Familie, wie er Althea und Phelan kennengelernt hatte und sie über all die Jahre miteinander und füreinander gekämpft hatten. Es ging ihm darum, Kjell begreiflich zu machen, wie tief ihr Vertrauen zueinander war. Er verschwieg dabei auch nicht die grausamen Details der Kämpfe beim Fall Gildas und die Schwierigkeiten, die er und Althea am Anfang in Saran gehabt und wie sie wieder zueinandergefunden hatten. Und er verschwieg ihm auch nicht die Rolle, die sein Großvater Roar bei diesen Schwierigkeiten gespielt hatte.
Als Kjell hörte, wie der alte Clansführer mit Althea umgesprungen war, rückte er von Jeldrik ab. »Das... das glaube ich nicht!« Für ihn war sein Großvater unantastbar.
Jeldrik brummte unwirsch. »Du kannst es ruhig glauben, und wenn nicht, dann frag Sylja. Sie wird dir zwar sagen, ›Junge, rühre nicht an diesen alten Dingen‹«, er ahmte so treffend ihren Tonfall nach, dass Kjell grinsen musste, »aber wenn du hartnäckig bleibst, dann wird sie es dir bestätigen. Dein Großvater ist ihr damals nachgeritten, um sie zurückzuholen und den Bund mit ihr einzugehen. Er hat deine Mutter verletzt und allein zurückgelassen, und nur dank ihrer Gabe seid ihr beide ohne Schaden daraus hervorgegangen. Das ist es, was ich ihm nie verzeihen werde. Er hat Hand an meine Frau gelegt und versucht, unseren Bund zu zerstören, und zudem fast unser Kind getötet. Auch wenn du ihn über alles verehrst, Kjell, denke immer daran, er tut nie etwas ohne Eigennutz. Lass dich nicht von ihm ausnutzen, sonst wirst du irgendwann feststellen, dass du dir selbst nicht mehr treu sein kannst. So, wie es mir einmal fast ergangen ist. Nur dank meiner besten Freunde Phelan und Althea bin ich nicht gescheitert.«
Da schwieg Kjell, so lange sogar, dass Jeldrik sich schon fragte, ob er eingeschlafen war, doch er war es nicht. Kjell war gehörig ins Grübeln geraten. »Er hat mich gefragt, ob ich bei ihm wohnen will«, flüsterte er plötzlich.
»Wer? Roar?«
»Hmm... ich werde es nicht tun. Ich werde bei Faye bleiben und auf sie aufpassen. Und wenn... und wenn ihr recht habt... dann kommt Mama zurück. Irgendwann.«
Jeldrik durchrieselte es kalt und warm zugleich, als er das hörte. Er würde mit seinem Vater ein ernstes Wort reden müssen, soviel war klar, aber jetzt drückte er seinen Sohn kurz an sich, dann stand er auf. »Komm, gehen wir noch ein wenig schlafen, bevor es hell wird. Weißt du, passe nur immer gut auf deine Geschwister auf. Wir, sowohl dein Großvater als auch ich, haben einst nicht gut auf deine Tante Jorid aufgepasst, und sie hat einen furchtbaren Preis dafür bezahlt. Aber das erzähle ich dir ein andermal«, fügte er schnell hinzu, als Kjell schon zu einer neuen Frage ansetzte. Gemeinsam kehrten sie ins Haus zurück.
Althea zeigte sich in diesem Winter nicht mehr, und auch als die Stürme und der ewige Regen endlich nachließen, kam kein Zeichen von ihr. Aber es war ein wenig Licht in ihr Heim zurückgekehrt, ein Schimmer der Hoffnung, der sich auf alle übertrug.
Von da an hingen seine Söhne mit unabdingbarer Treue an Jeldrik. Vorbei die Zeiten, da sie ihn mieden und zu Großvater und Spielkameraden in den Hafen flüchteten. Sie blieben bei ihrem Vater – und bei ihrer Schwester – halfen ihm, lernten bei ihm. Das sorgte natürlich für Spott bei ihren Altersgenossen, aber auch für Anerkennung bei den älteren Kindern. In diesen Wochen wurden Kjell und Bjarne spürbar älter. Bald waren sie ihren Altersgenossen weit voraus, denn nun lernten sie auch zu kämpfen, mit Worten, Fäusten und Waffen. Es erinnerte Jeldrik so sehr an seine eigene Kindheit, dass er mit Schrecken feststellte, dass er drauf und dran gewesen war, denselben Fehler seines Vaters zu begehen. Er hatte geschwiegen und so beinahe die Liebe seiner Söhne verloren. So wie Roar einst versucht hatte, ihm seine Vergangenheit und damit einen Teil seiner Identität vorzuenthalten. Aus anderen Gründen, das redete Jeldrik sich ein, weil er den Schmerz fortsperren wollte, aber es erschreckte ihn dennoch. Althea war kaum ein halbes Jahr fort, und er war fast zu seinem Vater geworden.
Dass Jeldrik nun so oft seine Jungen bei sich hatte und oft genug auch Faye, erntete anfangs so manches Kopfschütteln bei den übrigen Männern, aber bald wagte niemand mehr, etwas Spöttisches darüber zu sagen, sondern einige schauten mit Neid auf seine gescheiten Söhne. Den Frauen jedoch entlockte es so manch sehnsüchtigen Seufzer. Ein Mann, der sich derart um seine Kinder kümmerte und es nicht anderen Frauen überließ, stieg erheblich in ihrem Ansehen. Und so stellte Jeldrik eines Tages fest, dass er einen nicht unerheblichen Teil an Aufmerksamkeit von weiblicher Seite bekam, wenn er sich in der Siedlung zeigte. Erst dachte er, sie wollten seine Tochter besehen, die mit ihren blauen Augen, den roten lockigen Haaren und dem fröhlichen Lachen der Liebling aller war, aber so war es nicht. Manch eine wurde regelrecht zudringlich.
Als er Rike davon erzählte, lachte sie ihn aus und schalt ihn einen Dummkopf. Althea galt als tot, und die Saraner machten nicht viel Gewese darum, einen mächtigen, wohlhabenden Witwer wieder an die Frau zu bringen.
Jeldrik konnte darüber nur den Kopf schütteln. Doch als Sylja ihm sagte, dass es auch über ihn und Rike Spekulationen gab – schließlich lebte Rike als einzige Frau in seinem Haus und weigerte sich immer noch, einen ihrer vielen Verehrer zu erhören – spätestens da wurde Jeldrik klar, dass das Ganze kein Spaß war, sondern bitterer Ernst. Diese Spekulationen stellten ihn und Rike vor ein Dilemma, denn auch sie wurde von Syljas Worten peinlich überrascht. Was sollte sie tun? Jeldriks Haus verlassen, die Jungen und Faye? Allein leben mochte sie nicht, zurück zu ihrem Vater auch nicht, in die düsteren Berge, zumal Merte dort bereits als Heilerin lebte und in Saran dringend eine zweite gebraucht wurde. Also tat sie das, was sie schon öfter getan hatte, sie sprach mit Jeldrik offen über das Problem, und sie kamen überein, nichts auf das Gerede zu geben und weiterzumachen wie bisher, bis Althea zurückkehrte oder ein gewisser Jemand aus dem Osten sich endlich rührte. Ihr Belan hatte seit der geplatzten Reise im Herbst und ihrem Brief nichts mehr von sich hören lassen. Sie begann nun ernsthaft zu fürchten, dass sie ihn mit der Bekenntnis, dass sie an den Zeremonien ihres Volkes teilgenommen hatte, verschreckt hatte. So wurde sie stetig nervöser, je näher das Frühjahr rückte und mit ihm die Rückkehr der vielen Winterfahrer und Händler und den Briefen, die sie bringen mochten.
Für Jeldrik waren diese neuen Probleme das Zeichen, wieder etwas Entscheidendes in seinem Leben zu ändern. Von da an wies er jeden Annäherungsversuch in wahrhaft saranischer Manier von sich, wurde hart und verschlossen gegenüber Leuten, die nicht zu seiner engsten Familie und Freunden gehörten, und brachte das auch seinen Söhnen bei. Sie sollten von Anfang an lernen, was es bedeutete, eine Stellung im saranischen Volke zu behaupten.
Roars Streben ging auf, wenn auch auf andere Weise, wie er es vermutlich gedacht hatte. Ungewollt erfüllten Jeldrik und seine Söhne den Wunsch, das Ansehen des Clans zu mehren, erst recht, als etwa ein Dutzend Tage vor der Frühjahrsversammlung Segel am westlichen Horizont gesichtet wurden, derart viele, dass es nur eines bedeuten konnte: Regnar und Ohin kehrten heim und mit ihnen wohl auch etliche andere Winterfahrer. Das gab einen Massenauflauf wie schon lange nicht mehr. Boten wurden in die übrigen Siedlungen gesandt, und alles Volk strömte zu den Palisaden und Wachtürmen an der Hafeneinfahrt.
Die Jungen konnten vor lauter Aufregung kaum stillstehen. Plötzlich krähte Bjarne, der auf den Schultern seines Vaters saß: »Da ist Uropa!«
»Donnerschlag!«, kam es von den Umstehenden.
»Wie kannst du das wissen?!«, rief Kjell, der neben ihm auf Roars Schultern hockte. »Ich sehe nichts! Das kann gar nicht sein.«
»Ich weiß es einfach«, behauptete Bjarne trotzig, und Jeldrik glaubte ihm. Wenn der Junge die Gabe seiner Mutter geerbt hatte, dann war er Regnar ähnlicher, als sie alle bisher gedacht hatten. Er traute ihm alles zu.
»Lass gut sein, Kjell, wir werden es bald wissen«, sagte er, als Kjell seinen Bruder wieder angehen wollte. Auch er war nervös, auch wenn niemand das aus seiner unnahbaren Miene hätte schließen können.
Bald schälten sich die Konturen der einzelnen Schiffe heraus. »Deine Seeschlange ist auch dabei«, brummte Roar. »Sie müssen von der Insel kommen.« Jeldriks größtes Schiff war nicht auf die Expedition gefahren, sondern stellte die Versorgung und den Schutz der Insel sicher.
»Da ist Vater. Den Göttern sei Dank!« Oren stieß einen erleichterten Seufzer aus und hob den Arm zum Gruß.
Jeldrik brummte eine zufriedene Antwort. Alle seine Schiffe waren dabei, und sie hatten noch einige kleinere im Schlepptau, fremde Schiffe, die sie offenbar aufgebracht hatten. Als sie diese besser erkennen konnten, wartete eine Überraschung auf sie. »Da soll mich doch... Oren, siehst du das? Das sind Ragai-Schiffe!«
»Und dahinter ist Uropa! Sag ich doch!« Bjarne stieß seinen Bruder an und erntete einen harten Stoß zurück, dass sie fast die beiden Männer aus dem Gleichgewicht brachten.
Bevor es in ernste Handgreiflichkeiten ausarten konnte, packten die Männer die beiden Unholde und setzten sie unsanft auf dem Boden ab. Jeldrik hielt seine Söhne an den Kragen ihrer Hemden auseinander. »Warten wir bei Regnars Liegeplatz. Wir müssen ihm sagen, was mit eurer Mutter geschehen ist, bevor es jemand anderes tut, obwohl er es vermutlich schon ahnt. Wir sehen uns dann in der großen Halle.« Er nickte seinem Freund und seinem Vater zu und machte sich mit seinen Kindern an den Abstieg. Unten angekommen, nahm er Rike die kleine Faye ab. »Du verschwindest nach Hause. Ich will dich nicht in der Nähe des Hafens sehen, wenn sie anlegen.«
Obschon Rike sich an seinem Befehlston störte, gab sie nach. »Ich kann selbst auf mich aufpassen!«, schnappte sie und marschierte davon.
Die Jungen stürmten voraus, während Jeldrik ihnen gemessenen Schrittes mit Faye auf dem Arm folgte. Bjarne hatte keinerlei Bedenken, Regnars Hoheitsgebiet zu entern, ganz im Gegensatz zu seinem älteren Bruder. Die Männer Regnars machten keinen Unterschied darin, Schläge zu verteilen, auch nicht, wenn es sich um die Urenkel ihres Schiffsführers handelte, das hatte Kjell schon einmal lernen müssen.
Bjarne war es gleich. Kaum hatte sich das Schiff dem Kai genähert, stürmte er dorthin und sprang an Deck. »Uropa!« Er fiel dem alten Seeräuber um den Hals, der ihn mit einem wilden Knurren packte und hoch in die Luft schleuderte. Die Mannschaft johlte, knuffte den Kleinen und stieß ihn umher, kaum dass Regnar ihn heruntergelassen hatte. Bjarne kreischte vor Vergnügen, ihm konnte es nicht rau genug zugehen.
Jeldrik beobachtete es mit ausdrucksloser Miene. Er würde nicht eingreifen, selbst wenn Bjarne Schläge bekam. Der Junge musste lernen, sich selbst zurechtzufinden und die Gesetze des Hafens zu respektieren.
Als die Planke auf dem Kai aufschlug, kletterte Regnar von Bord. Jeldrik legte Kjell die Hand auf die Schulter und ging ihm langsam entgegen. Bis auf dass sein Gesicht noch zerfurchter war als das letzte Mal und seine Bewegungen vielleicht etwas mühsamer und steifer geworden waren, ging von ihm immer noch dieselbe raubtierhafte Geschmeidigkeit aus wie eh und je. Sonst würden ihm seine Männer kaum derart widerspruchslos gehorchen.
»Was ist mit ihr?« Keine Begrüßung, nichts, sondern nur diese eine, gegrollte Frage.
»Mama ist bei den Feen«, sagte Kjell und drückte sich unmerklich dichter an seinen Vater.
»Und wer ist das?« Die Katzenaugen schnellten zu Faye.
»Sie ist unsere Schwester«, sagte Bjarne, der ihm gefolgt war.
Regnar näherte seine Raubtierfratze dem kleinen Mädchen auf Jeldriks Arm und strich mit der Klaue die kleine Kapuze zurück. »Bei den Göttern!«, entfuhr es ihm. Faye hatte die Augen aufgerissen und starrte ihn an. Wachsam, so schien es den Jungen, und sie drängten sich rasch an ihre Schwester.
»Das ist Faye«, erklärte Jeldrik knapp. »Sie hat die Goi überlebt. Thea musste fliehen.«
»Du wirst mir alles berichten!«, blaffte Regnar und brachte schnell Abstand zwischen sich und diese beunruhigenden Neuerungen. Er brüllte seine Männer an, mit dem Entladen anzufangen, und war gleich darauf im Lagerhaus verschwunden.
»Aber sicher«, erwiderte Jeldrik kalt, nahm seine Kinder und verließ Regnars Liegeplatz.
Sie sprachen erst in der Nacht miteinander, als sie alle Schiffe entladen hatten, die Mannschaften in den Schenken ihre Heimkehr feierten und sie so einigermaßen ungestört waren. Mit regungsloser Miene hörte Regnar Jeldriks Bericht von der Schlacht mit den Goi zu. Die Jungen lagen mit geschlossenen Augen in ihrer Ecke und gaben vor zu schlafen, aber damit täuschten sie die Männer nicht. Als Regnar schließlich anfing zu erzählen – oder vielmehr zu knurren – krochen beide Jungen zu den Männern und machten es sich zwischen ihnen bequem, und auch Rike schlich sich lautlos heran und setzte sich hinter die Tür, um ja kein Wort zu verpassen.
Regnar hatte die kleine Faye auf dem Schoß. Nach dem ersten Schrecken hatte sie ihn schnell in ihren Familienkreis aufgenommen und einen Weg in sein hartes Herz gefunden, wie es einst nur Althea vermocht hatte.
Was er zu erzählen hatte, war äußerst merkwürdig. Den ganzen Sommer waren sie die Küsten im Norden abgefahren, ohne eine Menschenseele zu treffen. Nur verlassene Siedlungen waren dort gewesen, und sie hatten alles mitgenommen, was man auch nur irgendwie gebrauchen konnte.
»Geplündert«, korrigierte Jeldrik.
»Besser, als wenn es verfault«, erwiderte Regnar.
»Hast du uns etwas mitgebracht?« Bjarne hob den Kopf.
»Hmm... vielleicht. Kommt morgen zum Lagerhaus. Dann werden wir sehen.«
»Schlaf jetzt, Sohn«, sagte Jeldrik. Zufrieden mit dieser Antwort rollte sich Bjarne wieder zusammen, steckte den Daumen in den Mund und schlief augenblicklich ein.
Kjell dagegen setzte sich auf. »Aber wo kamen die anderen Schiffe her? Diese Ragai-Schiffe?«
Regnar schnaubte. Wie ein Drache stieß er dabei Rauch aus Mund und Nase aus. »Glaubst du, sie haben uns das gesagt? Hochmütiges Pack!«, spie er so heftig aus, dass Kjell zusammenzuckte. »Ach, komm schon her.« Er klopfte neben sich auf die Schlafbank, und Kjell kroch zu ihm. »Da wir nun schon so weit im Norden waren, beschossen wir, weiter zu fahren. Wir wollten neue Gebiete jenseits der Karte deiner Mutter erforschen.«
»Nur dass sie sie nicht mehr aufzeichnen kann«, kam es traurig von Kjell. Er hob den Kopf und sah seinen Urgroßvater an, diesmal ohne Misstrauen, als könne der ihm neue Hoffnung geben.
»Ich werde sie zeichnen, Sohn«, sagte Jeldrik stattdessen.
»Waas, du?!« Kjell starrte seinen Vater derart entgeistert an, dass beide Männer lachen mussten.
»Ja, stell dir vor, dein Vater kann zeichnen. Ich habe das Kartenzeichnen von Bajan gelernt.«
»Nicht, dass es dort viel zu entdecken gegeben hätte«, fuhr Regnar fort. »Bis weit nach Westen fuhren wir, ohne eine Menschenseele zu treffen. Aber dann...« Regnar nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und stieß betont langsam den Rauch aus.
»Was dann?«, fragte Kjell atemlos.
»Dann lagen da plötzlich drei Schiffe am Ufer, an einer Befestigungsanlage, die gerade in Bau war. Drei Schiffe voller abgerissener Ragai-Krieger, die alle selbst Bäume fällten, Steine schleppten und bauten. Kein Sklave weit und breit.«
»Dann haben sie gesiegt?«, rief Kjell so laut aus, dass Bjarne im Schlaf zusammenzuckte. Er flüsterte daraufhin weiter: »Eure Sklaven von der Insel haben ihr Volk befreit und die Ragai verbannt?«
»So sah es aus. Sie hatten nicht einmal mehr Waffen, nur ein paar Messer und Äxte. Trotzdem waren die Herren Hochmut gefährlich. Sie griffen uns an mit allem, was sie hatten.«
»Ehrlich? Einfach so?«, fragte Kjell. »Aber ihr habt gewonnen.«
Regnars Miene verfinsterte sich. »Nur knapp. Mitten im Kampf fiel über die Hälfte der Männer in die Dunkelheit. Nur, weil wir so viele junge Kämpfer dabei hatten, die zu jung für den Kampf in Gilda gewesen waren, gelang der Sieg.«
»Weil Mama sie nicht mit ihrem Licht geheilt hatte.« Kjell begriff schnell.
»Die anderen fielen, als die Goi Thea entführt hatten«, nickte Jeldrik und zog seinen Sohn an sich. »Was ist mit den Ragai passiert? Ihr habt keine Gefangenen mitgebracht.«
»Doch.« Regnar lachte grollend. »Einen habe ich persönlich daran gehindert, ins Messer zu springen. Er ist auf meinem Schiff. Dank Phelan wissen wir ja, wie wir mit denen umgehen müssen. Alle anderen haben sich umgebracht.«
»Aber warum?«, rief Kjell leise aus. Seine Augen waren groß vor Anspannung.
»Ha!« Regnar lachte verächtlich. »Es gilt in ihren Augen als unehrenhaft, in Gefangenschaft zu geraten. Deshalb setzen sie ihrem Leben ein Ende. Ich dachte, ich bringe ihn eurer Mutter, ihrem Vater und ihren Brüdern als Geschenk mit. Damit sie die Chronik der Völker vervollständigen können.«
»Mmpf!«, machte Jeldrik. »Ich glaube nicht, dass er mit ihnen redet, aber mach nur. Verfrachte ihn nach Gilda und lass Thorald ihn aushorchen. Besser aufgehoben als bei uns oder in Temora ist er dort allemal. Falls er lebend ankommt.« Er blinzelte Kjell zu, dieses Gerede nicht zu ernst zu nehmen, und der Junge lächelte erleichtert.
»Uropa, kannst du nicht versuchen, Mama zu erreichen? Wenn sie zu uns Verbindung aufnehmen kann, dann kannst du das vielleicht auch.« Diese Frage brannte Kjell schon lange auf der Seele, das merkte Jeldrik daran, dass er sie so plötzlich und beinahe zusammenhangslos ausstieß. Sein Sohn war ein kluger Kopf und hatte die tollsten Einfälle.
»Hmpf!« Regnars Augen wurden schmal. »Du meinst, ich soll zum Tor fahren?« Kjell nickte unsicher. Regnar stieß eine letzte Ladung Rauch aus und legte seine Pfeife zum Abkühlen neben sich auf die Schlafbank. Mit schmalen Augen fixierte er seinen ältesten Urenkel, dass dieser ganz klein wurde. »Normalerweise würde ich niemals jemanden dort mit hinnehmen, außer meinen begabten Erben. Also Bjarne und Faye. Aber ganz sicher nicht dich!«
»Aber... aber...«
»Nein, Junge! Du würdest umkommen, ebenso wie dein Vater.«
Wutentbrannt sprang Kjell auf. »Warum immer Bjarne und nicht ich?« Faye fing an zu jammern bei seinen Worten, und auch Bjarne wurde unruhig.
»Kjell!« Jeldrik lehnte sich vor und packte ihn bei den Schultern. »Regnar sagt das nicht ohne Grund. Diese Orte sind für nicht Begabte wirklich gefährlich. Erinnere dich an deinen Onkel Phelan, der vor einem solchen Tor beinahe ums Leben gekommen wäre. Du wirst dort nicht hingehen, und ich auch nicht!« Damit gab er seinem Sohn zu verstehen, dass er ihn verstand, aber auch, dass er keinen Widerspruch duldete.
Kjell klappte den zum weiteren Protest geöffneten Mund wieder zu. Er wusste, wenn sein Vater so sprach, waren alle Einwände zwecklos.
Dieser Einfall ließ Regnar nicht mehr los, und so machte er sich ein paar Tage später tatsächlich auf den Weg zu der alten, verfallenen Hütte in den Sümpfen. Er hatte Bjarne dabei, der aufgeregt vorne in dem langen Flachboot saß und vorausspähte. Jeldrik hatte seinen Sohn nur zögernd mitgehen lassen. Sie wussten beide, dass es ein großes Risiko war, denn noch konnten sie nicht sicher sein, dass er wirklich die Kräfte seiner Mutter geerbt hatte. Aber Regnar wusste, wie Generationen von Sumpfjägern ihre Söhne geprüft hatten. War einer von ihnen den Kräften des Todesringes nicht gewachsen, so merkten sie es sehr schnell. Nur einen Finger brauchte das Kind in den Ring zu strecken, und der würde sofort anfangen abzusterben. Einen Finger zu opfern, das war ein geringer Preis gegen ein Leben und das Ende der Ahnenreihe, und Regnar war bereit, ihn zu zahlen. Das freilich hatte er Jeldrik nicht gesagt, sonst wäre Bjarne jetzt nicht bei ihm.
»Uropa, warum fährst du immer in diese eine Richtung? Wie findest du deinen Weg?«
Regnar nahm seinen Blick fort von dem Gewirr des Schilfes und sah auf Bjarnes Hand, die sich in eine ganz bestimmte Richtung streckte. Er war ehrlich überrascht. Der Junge zeigte genau dorthin, wo das Tor lag. Das Tor, das er spürte, wenn er sich in diesen Irrgarten begab und das ihn niemals den Weg verlieren ließ. »Du spürst es?«, grollte er.
Bjarne sah sich unsicher zu ihm um. »Da... da ist irgendetwas. Ich weiß nicht.«
»Du hast recht. Gleich wirst du es sehen.« Also war er zumindest so begabt, dass er das Tor spüren konnte. Deshalb hatte Regnar auch keine Bedenken, Bjarne an Land springen zu lassen, während er in aller Ruhe das Flachboot vertäute und das zweite an Land zog, das sie mitgenommen hatten. Es enthielt alles, was Althea bei ihrer Rückkehr womöglich gebrauchen konnte: Kleidung, Decken, lang haltbare Nahrung, Waffen sowie eine Anweisung, wie sie aus den Sümpfen heraus fand. Dies alles war wasserdicht verpackt und wurde von ihm mitsamt dem Flachboot in einer noch intakten Ecke der Hütte verstaut. So war es einigermaßen vor Hochwasser geschützt.
»Uropa, Uropa!« Bjarnes aufgeregtes Rufen holte Regnar alarmiert nach draußen. Atemlos stand der Junge vor ihm. »Da... da ist ein Schatz drin! Und das Tor!«
»Du warst schon in der Höhle?!«
»Jaahh...« Bjarne nickte eifrig. »Ich hab’ das Tor gesehen. Kommst du? Rufst du jetzt Mama?« Und damit hatte Bjarne die Frage nach seiner Begabung selbst beantwortet.
So sehr sie es auch versuchten, es gelang ihnen nicht, das Tor zu öffnen und mit Althea Verbindung aufzunehmen, also kehrten sie unverrichteter Dinge nach Saran zurück. Es half den Jungen trotzdem zu wissen, dass sie alles für die Rückkehr ihrer Mutter getan hatten, und sie warteten voller Ungeduld darauf, dass sich etwas tat. Doch nichts geschah. Die Jungen wurden immer unausstehlicher. Kjell war immer noch böse, dass Bjarne mit Regnar hatte fahren dürfen. Bjarne hatte endlich etwas, mit dem er über seinen älteren Bruder triumphieren konnte, und wie Kinder so waren, nutzte er das reichlich aus. Bald war Jeldrik am Ende seiner Duldsamkeit angelangt, besonders, als Regnar wieder gen Norden in See stach und den Gefangenen mitnahm. Er war es leid, jedes Mal einen mittleren Kleinkrieg zu verhindern, sei es beim Aufstehen, Essen, beim Unterricht oder Zubettgehen. Als ihm zum ersten Mal in seinem Leben richtig die Hand ausrutschte, erkannte er, dass es so nicht weitergehen konnte. Er beschloss, seine Söhne für eine Weile zu trennen. Da kam ihm die alljährliche Frühjahrsreise in die Berge gerade recht, und er nahm Kjell mit, während Bjarne bei seinen Großeltern und Faye bei Rike bleiben musste.
Allein mit seinem Vater war Kjell sehr viel umgänglicher, sie fanden wieder zu ihrem vertrauten Verhältnis zurück. Es war das erste Mal, dass Kjell mit seinem Vater auf eine längere Reise gehen durfte, und er fragte ihm wahre Löcher in den Bauch, besonders über die Berge und die Goi. Jeldrik erklärte ihm alles geduldig, verschwieg ihm auch nicht die grausigen Details, weil er spürte, dass Kjell damit das Schicksal seiner Mutter verarbeitete. Allerdings verschwieg er ihm seine vage Hoffnung, Phelan würde sein Versprechen wahr machen und dieses Frühjahr nach Saran kommen. Eigentlich hätten sie schon längst etwas von ihm hören müssen, also hatte es in den Bergen entweder unerwartete Schwierigkeiten gegeben – was Jeldrik nicht hoffte – oder es war auf dem Weg nach Branndar zu Verzögerungen gekommen.
In der ersten Bergsiedlung wurden sie mit offenen Armen von Orens Familie empfangen. Gut befreundet waren sie seit Jahren, und Jeldriks Besuche waren immer ein willkommener Anlass zu einem kleinen Fest. Auch Merte und ihr frisch angetrauter Ehemann waren darunter. Sie war traurig, dass Rike nicht mitgekommen war, ihre engste Freundin. Als ehemalige Clanlose hatte sie einen schweren Stand in den Bergen, obschon es seit dem schweren Goi Überfall vor einigen Jahren dort noch immer an Frauen mangelte und eine Heilerin an allen Ecken und Enden gebraucht wurde. Orens Familie, die toleranter eingestellt war als die restlichen Bergbewohner, versuchte so gut es ging, ihr bei der Eingewöhnung zu helfen, aber die Verachtung manch eines Bewohners war nicht zu übersehen. Merte hatte sich fest vorgenommen, an einem besonderen Ruf zu arbeiten, ähnlich dem, wie ihn Althea innegehabt hatte.
Kjell dagegen sonnte sich in der Aufmerksamkeit der Bewohner. Es tat seinem angeknacksten Selbstbewusstsein denkbar gut, dass er von allen Seiten als Jeldriks Sohn und Erbe bestaunt wurde. Es dauerte nicht lange, da forderten ihn die älteren Jungen zu mancherlei Wettkämpfen heraus, und er war wohl selbst am allermeisten erstaunt, dass er durchaus mithalten konnte, wenn auch gegen die ältesten Jungen nicht gewann.
»Ich glaube, wir brechen besser schnell auf, sonst gibt es noch die tollsten Mutproben«, orakelte Jeldrik und lachte mit Oren, als die Jungen in wildem Geheul vorbeistürmten. Sie hatten am Abend und in der Nacht kräftig gefeiert und waren dementsprechend müde.
»Tja, da wünscht man sich, man wäre noch zehn Jahre jünger«, grinste Oren und packte ein Bündel auf sein Pferd.
»Du klingst wie ein alter Mann, und dabei klettert dein Vater immer noch bis hoch in den Ausguck«, gab Jeldrik zurück. Er lief bis zur Ecke der Hütte und schaute nach, wohin die Jungen sich verzogen hatten. »Kjell! Komm jetzt her und mach dein Pferd fertig, wir reiten bald los!« Das enttäuschte ›Ooch!‹ hörte er nur noch mit halbem Ohr, denn in diesem Moment kehrte einer von Orens Wachmännern zurück. Er war die am nächsten liegenden Posten abgeritten, auf Jeldriks Wunsch hin. Er wollte nicht in Begleitung seines Sohnes von irgendwelchen Goi Horden überrascht werden.
»Alles ruhig!«, verkündete der Mann. »Ihr könnt beruhigt losreiten.«
Da war bei Kjell die Enttäuschung natürlich kurz. Er beeilte sich, sein Tier aufzuzäumen und zu beladen. Bald darauf ging es los, die Männer in voller Bewaffnung und Kjell mit zwei Wächtern, die eigens für seinen Schutz abgestellt waren. Protestieren tat er nicht dagegen. Er kannte die Geschichte seines Onkels Phelan, der vor Jahren auf einer ebensolchen Reise beinahe getötet worden wäre.
Aber nichts rührte sich an den Pässen, wie schon den ganzen Herbst und das ganze Frühjahr über. »Ich würde zu gerne raufreiten und nachsehen, was die Gildaer dort oben treiben«, sagte Oren eines Abends zu Jeldrik, als sie auf einem der Wachtürme standen und in die leuchtend roten Berge hinauf sahen. Er war einer der wenigen gewesen, der sich dagegen ausgesprochen hatte, den Gildaern allein das Gebiet dort oben zu überlassen, aber er sah ein, dass die Saraner weder über die Männer noch die Mittel verfügten, dort einen dauerhaften Posten einzurichten.
»Du kannst ja... Moment, was war das eben?« Jeldrik trat an die Brüstung und beugte sich vor, die Augen zusammengekniffen.
»Was, Vater? Hast du etwas gesehen?«, fragte Kjell aufgeregt.
»Sei still! Oren, hast du...?«
»Dort! Eine Bewegung am Pass!« Oren drehte sich um und stieß eine schrille Reihe von Pfiffen aus, die Pfiffe der Wächter. Nach einem kurzen Augenblick Stille entstand unten im Wald hektische Bewegung.
»Kjell, du gehst zurück in die Siedlung.« Jeldrik drängte seinen Sohn zur Treppe.
»Aber... kann ich nicht hier oben...?«
»Keine Widerrede! Runter mit dir. Oren, komm!«
Kjell brauchte nur einen Blick auf die Miene seines Vaters zu werfen, und er wusste, Widerstand war zwecklos. Die Augen standen eng beisammen, das Gesicht wirkte wie gemeißelt. Er war mit den Gedanken schon beim Kampf. Gedrückt machte sich Kjell an den Abstieg und rannte dann in die Siedlung zurück. Auf halbem Weg kamen ihm die übrigen Männer entgegen. »Vater ist beim Turm!«, rief Kjell und warf ihnen einen sehnsüchtigen Blick nach, wie sie mit gezückten Waffen bergauf stürmten.
In der Siedlung packten die Frauen und Kinder hastig alles Nötige zusammen. Kjell wurde ohne viel Federlesens einfach mitgezerrt zu einer mit Grassoden und dornigem Gebüsch getarnten Falltür, die in ein finsteres Loch im Boden führte. Dieser Raum war nach dem schweren Goi Überfall vor einigen Jahren, bei dem fast alle Frauen und Kinder der Nachbarsiedlung umgekommen waren, geschaffen worden, erklärten sie ihm. Noch ein paar Rufe, hastige Schritte, und dann hockten sie alle dort in der Dunkelheit.
»Na, darfst deinem Vater nicht helfen?«, stichelten die anderen Jungen, aber die Angst in ihren Stimmen konnten sie nicht überspielen.
Kjell schloss die Augen und wünschte sich auf einmal weit, weit fort. Nie wieder, so schwor er sich, würde er in einem solchen Loch hocken, während alle anderen Männer die Pflicht an ihrem Volk erfüllten. Mit seinen sieben Jahren fand er sich längst alt und vor allem gut genug, es ihnen gleichzutun.
Geduckt schlichen Jeldrik, Oren und ihre Wächter vorwärts. Sie mussten einige Umwege in Kauf nehmen, denn sie wussten genau, welche Pfade sie am Rande des Felssturzes nehmen mussten, um von oben nicht gesehen zu werden. Zu allem Überfluss bezog sich auch noch der Himmel und die Wolken drückten gegen die hohen Berge, sodass alles bald in dichten Nebel gehüllt war. Die Sicht betrug kaum ein Dutzend Schritte, aber nun konnten sie es wagen, sich außerhalb des Waldes fortzubewegen. »Leise!«, zischte Jeldrik, als einer der Wächter einen Stein lostrat und er polternd den Hang hinabrollte. Angespannt hockten sie sich hin und lauschten. Nichts war zu hören.
»Wo sind sie, verflucht?« Oren machte seinen Männern ein Zeichen, sich nicht weiter zu verteilen. Bei dem Nebel konnten sie sonst nicht sicher sein, die eigenen Leute zu erwischen.
Da klang plötzlich ein Geräusch durch den leise säuselnden Wind. Es klang wie das Heulen einer Sturmböe, nur merkwürdiger und noch weit entfernt. »Was bei den Göttern ist das?«, flüsterte einer der Wächter. »Eine neue List?«
»Ich weiß nicht... das klingt so merkwürdig. Wartet hier, ich versuche, ihnen näherzukommen.«
»Aber nicht ohne mich«, erwiderte Oren und folgte Jeldrik in den Nebel. Das Geräusch war verstummt, nur noch ein leises Rauschen war zu hören. Die beiden Männer duckten sich hinter einen großen Felsen und lauschten angestrengt nach vorne. Da war es wieder. Zusammen mit einem leisen Schnauben. »Sie haben Pferde? Da stimmt doch etwas nicht.« Aus dem Säuseln wurden einzelne Töne, unmelodisch und so falsch, dass es nur eines bedeuten konnte.
Jeldrik stieß einen leisen Fluch aus und lachte los. »Oh Mann, hör auf, dein Geheule kann ja selbst die Untoten hier vertreiben!«, rief er, dass es weit über das Tal schallte. Lautes Gelächter antwortete ihm und die erleichterten Ausrufe der anderen Wächter.
»Rede weiter, sonst finden wir euch nicht bei dem Nebel!«, rief eine ihnen nur allzu bekannte Stimme auf Saranisch fröhlich zurück. Es war Phelan.
Lachend und scherzend stolperten sie zurück in den Wald und feierten ein bewegtes Wiedersehen. Phelans Begleiter blieben respektvoll zurück, als dieser seine Freunde umarmte und sie ihm in typisch saranischer Manier auf die Schulter droschen. »Wir hätten euch beinahe abgeschossen!«, dröhnte Oren.
»Weiß ich doch«, grinste Phelan. »Wer hätte gedacht, dass es so schnell so nebelig wird? Wir haben eigens auf gutes Wetter gewartet. Davon gab es dort oben nicht allzu viel.«
»Und habt ihr...?« Die Fragen prasselten von allen Seiten auf ihn ein. Jeldrik hielt sich damit zurück, nach Althea zu fragen, und beschloss, damit zu warten, bis sie allein und ungestört waren.
»Wartet, wartet!« Phelan hob die Hand. »Lasst mich euch erst einmal jemanden vorstellen.« Er wies auf die drei Männer, die abgesessen waren und auf sie warteten. Zwei von ihnen waren ältere, gestandene Kämpen. An ihren Rüstungen und Rangabzeichen erkannte Jeldrik, dass er es mit höheren Offizieren zu tun hatte. Sie grüßten knapp, als Phelan sie vorstellte, der Dritte jedoch wirkte sehr jung, was Jeldrik verwunderte. Soldaten in dem Alter kamen allenfalls zur Ausbildung zu Kiral, durften aber noch nicht auf wichtige Missionen gehen.
Phelan trat zu dem jungen Mann und legte ihm den Arm um die Schultern. »Jeldrik, dies ist Belan.«
»Ah.« Jeldrik verbarg seine Überraschung und das spontan in ihm aufkeimende Unbehagen gut. »Bist du gekommen, um Rike zu holen?«
Der junge Mann wurde tatsächlich ein wenig rot um die Ohren. Er lächelte verlegen. »Falls sie mich noch wollte... äh, will. Verzeihung, mein Saranisch hat ein wenig Rost.«
»Ist eingerostet«, verbesserte Phelan sofort. »Wir haben unterwegs geübt«, gab er zu und löste einen Heiterkeitsausbruch bei Orens Wächtern aus.
Sofort wurde Belan Zielscheibe der üblichen Scherze. »Waas, du willst Rike Eryksfalan mitnehmen? Dafür musst du aber erstmal noch ein wenig wachsen!«
»Und an uns vorbei!«, plusterte sich ein anderer auf.
Belan schüttelte den Kopf. »Das entscheidet sie wohl selbst«, erwiderte er kühl und nicht zu Scherzen aufgelegt. Das kam natürlich nicht gut an, und wie es die Art der Saraner war, machten sie aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl.
»Lasst ihn«, mahnte Phelan. »Er ist nervös, wer mag es ihm verdenken?«
»Gehen wir«, sagte Jeldrik abrupt. »Die Frauen warten darauf, wieder hinaus zu können.« Er wollte einen Moment für sich, um seine Gedanken zu ordnen. Verwundert sahen ihm alle hinterher, wie er in Richtung Siedlung davonstapfte.
»Was hat der denn?«, fragte Belan auf Gildaisch.
»Keine Ahnung.« Phelan folgte seinem Weg mit zusammengekniffenen Augen. »Nun denn... gehen wir.«
Für Jeldrik war Belans Ankunft eine unliebsame Überraschung. Nicht, dass er damit nicht gerechnet hatte. Aber so schnell? Für seine Kinder bedeutete es den Verlust ihrer Ersatzmutter, gerade jetzt, wo sie sich einigermaßen wieder gefangen hatten, und er wusste nicht, ob sie das verkrafteten. Wer würde sich nun um Haus, Hof, Garten, um das Zuhause kümmern, das seine Kinder brauchten? Er selbst konnte es nicht mit seinen vielen, vielen Pflichten, und auch wenn ihn seine Söhne oft begleiteten, sie brauchten einfach ein Zuhause. Eine Frau. Was sollte er nun tun? Sich eine zweite Sylja ins Haus holen, eine, die es womöglich auf ihn abgesehen hatte? Er wusste einfach nicht, wie es weitergehen sollte.
Und viele andere auch nicht. Es gab jede Menge lange Gesichter, als Phelan später am großen Feuer von der Lage in den Bergen berichtete. Die Grenze war nun sicher. Die Goi waren nicht mehr in der Lage, das Hochtal zu betreten. In den schneefreien Monaten würde dort eine gildaische Garnison über die Grenze wachen. Jeldrik musste sich eingestehen, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er war so von dem Verlust Altheas gefangen gewesen, dass er die Tragweite dieser Veränderung nicht begriffen hatte. Oren hatte wesentlich weiter gedacht als er. Die saranischen Bergwächter verloren mit einem Mal ihre Daseinsberechtigung und damit ihre Lebensgrundlage. Manch ein junger Mann aus geringer Familie hatte den Dienst dazu genutzt, sich den Sold für ein eigenes Stück Land oder ein Schiff zusammenzusparen. Andere gründeten hier oben eine Familie. Nun waren die Gildaer natürlich nicht mehr bereit, ihr neu gewonnenes Territorium abzutreten, und die Saraner machten erst gar nicht den Versuch, es ihnen auszureden.
»Wenn die Goi uns nicht mehr überfallen können, wird es an anderer Grenze sehr viel unruhiger werden. In Ethenien. Ich traue diesem Friedensschluss nicht«, versuchte Phelan ihnen Mut zu machen, aber vergeblich. In dieser Nacht wurde lang an den Feuern debattiert und schwadroniert, und es brauchte mehr als einen harten Befehl ihrer Väter, dass die Kinder sich endlich schlafen legten. Irgendwann zogen sich auch die Männer angetrunken zurück, in ihrer Mitte Belan, den sie mit etlichen Trinksprüchen willkommen geheißen hatten.
Endlich waren die beiden Freunde allein und so ungestört, wie sie es in der überfüllten Siedlung nur sein konnten. Nachdenklich sog Jeldrik an seiner Pfeife, rührte mit einem Stock im Feuer herum und beobachtete seinen Freund aus schmalen Augen, wie schon so oft an diesem Tag. Die ganze Zeit hatte Phelan nicht ein vertrautes Wort mit ihm gewechselt, keine Frage nach Althea, nichts. Dafür hatte Jeldrik sofort gemerkt, dass seine Fröhlichkeit nur aufgesetzt war. Sie erreichte seine Augen nicht.
Auch jetzt ließ Phelan nichts durchblicken. Er richtete übertrieben penibel sein Nachtlager her. Jeldrik fand, es sah aus, als wolle er sich selbst ablenken, aber schließlich gab es nichts mehr zu räumen und er setzte sich, rastlos die Hände ineinander knetend.
»Willst du reden?«, fragte Jeldrik rundheraus.
Phelan schloss die Augen und schwieg.
»Komm schon, halte mich nicht für dumm! Es ist etwas geschehen, das habe ich doch gleich gesehen.«
Phelan seufzte. Er öffnete die Augen und versuchte ein schiefes Lächeln, was ihm gründlich misslang. »Dir kann ich nichts vormachen, was?«
»Hast du Ärger bekommen wegen Nat?«
»Ärger?« Phelan lachte erstickt auf. »Bei Kiral und Jorid lagert eine Truhe mit all meinen persönlichen Habseligkeiten, alles, was mir etwas bedeutet. Ist wahrlich nicht viel zusammengekommen in all den Jahren.«
Überrascht nahm Jeldrik seine Pfeife aus dem Mund. »Du... Moment Mal, du hast den Hof Gildas verlassen? Warum... was ist mit Noemi?«
Diesmal war Phelans Lächeln echt, warm und voller Freude. »Oh, sie ist mit unseren Töchtern bei Jorid. Ich wollte sie erst mit herbringen, wenn der Weg über die Berge wirklich sicher ist.«
»Du hast den Hof Gildas also wirklich verlassen.« Jeldrik stand auf und setzte sich dichter zu ihm. »So schlimm?«
Phelan schloss die Augen. »Du glaubst gar nicht, wie schlimm.«
»Wegen Nat?«
»Wegen Nat, ja, weswegen sonst?« Phelan lehnte sich zurück und holte tief Luft. Auf einmal sah er wieder sehr jung aus, getroffen und verletzlich. »Um es vorwegzunehmen, ich habe meine Wächter und alle anderen zum Stillschweigen verpflichtet. Ich wollte nicht, dass Currann vorher irgendwelche Gerüchte erreichen und Nathan ein... nun, ein gewisser Ruf vorauseilt.«
»Hat wohl nichts genützt«, schnaubte Jeldrik.
»Doch, das schon. Ich glaube nicht, dass die Heerschüler bis heute wissen, wer Nat wirklich ist. Was allerdings geschieht, wenn die letztjährige Kompanie nach Gilda zurückkehrt... nun ja. Das liegt nicht mehr in meiner Hand.«
»Dann ist er also in die Heerschule eingetreten?«
»Oh ja.« Phelan rieb sich mit den Händen über das Gesicht. »Aber wie, das kannst du dir nicht vorstellen. Er kam nach Hause, begrüßte seine Eltern und bat darum, kaum dass der erste Trubel vorbei war, in die Heerschule eintreten zu dürfen. Nun, das hatte Currann ja eh mit ihm vor, also war er höchst erfreut, Nats Bitte zu hören. ›Es hat dir gefallen, was?‹, hat er noch gescherzt, und mir wurde ganz anders. Aber Nat hat nichts gesagt. Er ist einfach hinaus, hat sich sein Bündel geschnappt, hat sich brav verabschiedet und ist schnurstracks in die Heerschule und hat den Heerführer um Aufnahme gebeten. Keine zwei Stunden, nachdem er nach Hause gekommen war. Hätte ich es nicht selbst gesehen, ich hätte es nicht geglaubt.«
»Oh ha!«, machte Jeldrik und versuchte, sich das bildlich vorzustellen. »Das muss Currann und Siri völlig vor den Kopf gestoßen haben. Und dann wollten sie von dir wissen, was los ist.«
»Wissen? Ha!« Phelan ließ wieder dieses erstickte Lachen hören. »Sie haben mich ins Kreuzverhör genommen, alle beide, und du kannst mir glauben, Siri ist noch viel Furcht erregender als Currann. Sonst ist sie ja eher das ausgleichende Mitglied der Familie, aber diesmal... ich hatte keine Möglichkeit, ihnen auszuweichen. Sie haben alles aus mir herausgeholt, jedes noch so kleine Detail, über Nat, über die Goi, über Thea...« Phelan sprang auf und begann, auf und ab zu laufen. »Und dann hat Currann einen Wutanfall bekommen, wie ich es noch nie erlebt habe. Einen Moment dachte ich, unser Vater stünde vor mir, so sehr ähnelte er ihm auf einmal. Im Aussehen, im Gebaren, verstehst du? Das war unheimlich.«
»Ist er auf dich losgegangen? Dafür siehst du aber noch erstaunlich gut aus.«
Jeldriks Absicht gelang. Phelan musste lachen, und er beruhigte sich wieder etwas. Er setzte sich. »Noemi hat mich gerettet, wie so oft. Sie ist zwischen uns getreten und hat Currann und Siri eine Standpauke gehalten, die sich gewaschen hatte. Was ihnen eigentlich einfiele, mir die Schuld zu geben, wo sie doch gar nicht wüssten, was in Nat vorginge. Ob sie sich nur ein einziges Mal überlegt hätten, warum Nat ihnen nichts gesagt hat. Vielleicht, weil er genau dies verhindern wollte? Ob sie ihn vielleicht erstmal fragen wollten. Und dann...«, Phelan lachte noch mehr bei der Erinnerung daran, »ist sie hinausgerauscht, hoch erhobenen Hauptes, und hat mich einfach mitgezerrt. Meine kleine Frau«, fügte er weich hinzu.
Jeldrik grinste. »Das hätte ich zu gerne gesehen. Aber sie haben sich nicht wieder beruhigt?«
Phelans Miene wurde düster. »Nein, haben sie nicht. Denn Nathan spricht nicht mit ihnen über das, was in ihm vorgeht. Vielleicht, weil er ahnt, dass sie ihn nicht verstehen werden. Nur mit Noemi hat er geredet. In Gedanken, verstehst du? Weil er dort all das auszudrücken vermag, was ihm nicht über die Lippen kommen will. Aber selbst sie glaubt, dass da noch viel mehr geschehen ist, als er ihr anvertraut hat. Er hat Angst, nur wovor? Es ist uns ein Rätsel.« Phelan seufzte und schwieg. Lange. Es war Jeldrik klar, dass er nicht mehr darüber erfahren würde, deshalb fragte er nicht weiter.
Irgendwann fuhr Phelan fort: »Seitdem haben Currann und Siri kein Wort mehr mit mir gesprochen, obwohl alle ihnen gut zugeredet haben, Mutter, Thorald, nicht zuletzt unser wandelndes Gewissen Sinan. Mir soll es gleich sein, aber müssen sie auch Noemi und unsere Kinder strafen? Du weißt, wie sehr sie familiäre Zwistigkeiten fürchtet. Der Winter war einfach furchtbar, vor allem für sie. Schließlich habe ich sie gefragt, ob sie eine Weile fort möchte, und sie hat erleichtert zugestimmt, und unsere Mädchen... die waren sofort hellauf begeistert. Der Rat entsendet mich als Botschafter, zunächst nach Saran, aber ich soll vor allem in Ethenien die Lage auskundschaften, und ich möchte mehr über die Goi herausfinden. Um Nats Willen. Und irgendwann, wenn ein wenig Gras über die Sache gewachsen ist, werden Noemi und ich einen langen Brief an Currann und Siri schreiben und ihnen erklären, was mit ihrem Sohn geschehen ist.«
In zunehmender Verblüffung hatte Jeldrik zugehört, und nun begann er zu lachen, laut und dröhnend. »Was ist?«, fragte Phelan verwundert.
»Ich stelle gerade fest, dass sich all meine Sorgen in Luft aufgelöst haben. Naja, fast alle, Thea natürlich nicht. Mein Haus steht euch zur Verfügung, denn wenn Belan seine Rike wirklich nimmt und sie ihn, dann habe ich niemanden mehr, der sich darum kümmert. Und Saran keine Heilerin mehr.«
Phelan grinste. »Ich sehe schon, Noemi wird hier nicht langweilig werden. Sie wird es gerne machen, allein schon um Theas willen.«
»Sie war bei uns.« Jeldrik beobachtete Phelans Reaktion genau, und er war zufrieden. Es schien, als hätte sich sein Freund wieder gefangen, denn nun standen all seine Gefühle, die verzweifelte Hoffnung und der Zorn über das, was man Althea angetan hatte, deutlich in seinem Gesicht geschrieben.
»Und das sagst du erst jetzt?!«, rief er aus.
»Hmpf! Du warst wohl kaum in der Stimmung für solche Botschaften. Ja, sie war hier, sie hat nach den Kindern sehen wollen, oder sie haben sie dazu gezwungen, um herauszufinden, welches von ihnen begabt ist. Bjarne und Faye sind es, sie konnten Thea sehen und mit ihr sprechen.«
»So wie Nat.«
»Ja, so wie Nat. Regnar hat Bjarne sogar mit zum Todesring in den Sümpfen genommen, um ihm diesen zu zeigen und herauszufinden, ob er darin überlebt.«
Phelan starrte seinen Freund ungläubig an. »Ihr habt... seid ihr verrückt geworden?! Er hätte umkommen können!«
Zornig blies Jeldrik seinen Rauch aus. »Glaubst du, ich hätte es zugelassen, wenn ich das gewusst hätte? Er hat es heimlich getan und mir erst hinterher davon erzählt. Die Sumpfjäger haben ihre Söhne stets damit geprüft, dass sie einen Finger in den Todesring halten mussten. Einen Finger! Fing er an abzusterben, dann waren die Jungen nicht begabt. Und Bjarne ist es. Er konnte zum Tor und zu den Schätzen, die dort liegen und von denen er mir hinterher lang und breit erzählt hat. Ich könnte Regnar umbringen, denn jetzt...«
»...müsst ihr es auch mit Faye ausprobieren. Sie kann eine Druidai sein. Wer weiß, vielleicht kann sie das Tor öffnen und Thea so den Weg zurück weisen. Oh, wie sehr wünschte ich, etwas tun zu können!«
»Wir können nichts tun«, erwiderte Jeldrik düster.
»Nein, das können wir nicht.« Phelan nahm sich zwei Becher, schenkte ihnen ein, und sie stießen an. »Lass uns die Nacht nicht mit Trübsal verbringen. Auf unsere Familien, so unmöglich sie sind! Auf unsere Freunde. Und Theas Rückkehr.« Sie setzten an und tranken ihre Becher in einem Zug aus.
Für Kjell wurde diese Reise nun um ein Vielfaches aufregender. Endlich hatte er seinen allseits verehrten Onkel Phelan kennengelernt und war kaum noch von seiner Seite wegzubringen, und mit dem fremden jungen Mann hatte er sich auch schnell angefreundet. Beide wurden es nie müde, Kjells viele Fragen zu beantworten. Und als er mit stolzgeschwellter Brust neben seinem Onkel in Saran einreiten durfte, war für Kjell die Welt wieder in Ordnung.
Wie es schien, hatte sich Phelans Ankunft wie ein Lauffeuer in Saran verbreitet. Eine große Menschenmenge wartete vor dem Tor, und natürlich wussten auch alle, wer der fremde junge Mann in seiner Begleitung war.
Belan war gut anzusehen, dass er sich auf einmal weit, weit fort wünschte. Von allen Seiten wurde er beäugt, zumal die meisten saranischen Frauen noch nie einen gildaischen Soldaten gesehen hatten und seine Kleidung Anlass zu mancherlei spöttischen Kommentaren gab. Phelan tat er ein wenig leid, aber andererseits, er wollte Rike, also musste er da jetzt durch. Wenn nicht schon durch Rikes letzten Brief, spätestens durch die vielen Anspielungen und sehnsüchtigen Blicke der anderen jungen Männer war er aufgeschreckt, und Jeldrik tat ein Übriges, ihn kräftig aufzuziehen.
»Sei doch nicht so gemein«, grinste Phelan, als Belan zögernd vom Pferd glitt und mit steifen Schritten auf Jeldriks Hütte zu schritt. Rike hatte sich klugerweise nicht in der Siedlung gezeigt, also war sie vermutlich zu Hause.
Doch statt Rike erschien ein kleiner Knirps in der Tür, der Phelan verdächtig an Regnar erinnerte. ›Das ist also Bjarne‹, dachte er, und ein schmerzhafter Stich durchfuhr ihn. Er wunderte sich, dass der Junge nicht gleich zu seinem Vater stürzte, aber Bjarne hatte offenbar etwas Wichtiges zu sagen.
»Rike iss nich da«, verkündete er und ging auf Belan zu. »Sie iss zum Strand runter.« Er zeigte mit seiner dreckigen Patschehand dorthin. Doch nachdem er diese Botschaft losgeworden war, stürmte er zu seinem Vater und fiel ihm um den Hals.
»Ich kann dich hinbringen«, bot Kjell großzügig an.
Da wollte Bjarne natürlich nicht zurückstehen. Er wand sich aus den Armen seines Vaters. »Ich komme mit.« Nicht einmal Zeit ließ er sich, seinen Onkel eines Blickes zu würdigen. Die Jungen zerrten ihren neuen Freund mit sich und waren verschwunden.
»Tja«, Phelan zog die Augenbrauen hoch, »da bin ich wohl nicht interessant genug.«
»Er wird lernen, unsere Gäste richtig zu begrüßen«, grollte Jeldrik verstimmt. »Nachher. Komm, laden wir ab.«
Bis ihr Gepäck abgeladen, die Gäste untergebracht und die Sklaven in alle Himmelsrichtungen mit Besorgungen für ein Festmahl losgeschickt waren, ging einige Zeit ins Land, und die Jungen waren immer noch nicht zurück. Gerade als Jeldrik sie suchen gehen wollte, waren sie jedoch wieder da.
»Und?« Jeldrik schloss energisch die Tür hinter den beiden, weil er sich der vielen langen Ohren in seinem Hof bewusst war. »Ihr habt doch gelauscht, oder?«
»Jaaahh....« Bjarne wurde rot.
»Erst haben sie sich angestarrt«, berichtete Kjell eifrig. »Und dann haben sie sich gestritten. Wie zwei Katzen sind sie aufeinander los. Dann hat Rike geheult und dann... au! Mann, Bjarne!«
Der hatte sich vor seinen Bruder gedrängelt. »Und dann haben sie sich geküsst. Iiihgitt! Und dann hat er Rike in die Dünen gezogen. Kjell wollte nicht zusehen.« Bjarne klang immer noch böse darüber. »Was haben sie da gemacht?«
»Tja...« Jeldrik kratzte sich verlegen am Kopf und warf Phelan einen hilflosen Blick zu, den der spöttisch erwiderte. Auf seine Hilfe brauchte er in diesem Fall nicht zählen.
Aber da rettete Kjell seinen Vater. Er schubste seinen Bruder zur Seite. »Du bist ein Dummkopf! Was sollen sie schon gemacht haben? Kinder natürlich!«
Das dröhnende Gelächter aus Jeldriks Hütte sagte den vielen lauschenden jungen Männern in der Umgebung, dass alles entschieden war. Betrübt machten sie sich auf den Weg in die nächste Schenke und begossen den Verlust eines der schönsten Mädchen, das es in Saran jemals gegeben hatte.
Die Ankunft seines besten Freundes und seiner verehrten Frau halfen Jeldrik über den Verlust von Althea hinweg. Noemi und ihre lebhafte Töchterschar waren genau das richtige Heilmittel, seine Wunden zu schließen und das Licht in sein Heim zurückzubringen, eine Rolle, die Rike niemals hätte ausfüllen können. So konnten sie voller Hoffnung in die Zukunft blicken und Altheas nächstem Erscheinen ruhig entgegensehen.
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