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Kapitel 2
ОглавлениеDer Angriff
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Im letzten Licht des Tages kam endlich die Siedlung Branndar in Sicht. Unter den sonst so diszipliniert dahinreitenden gildaischen Soldaten machte sich eine gewisse neugierige Unruhe breit. Der Dienst in Branndar, zu Anfang eher einer Strafe gleich, war mit den Jahren zu einer Ehre im Heer geworden, je größer und erfolgreicher ihr Fürst und die Minen wurden.
Phelan konnte sie verstehen und tat nichts, sie zur Ordnung zu rufen. Immer wenn er herkam, verfehlte der Zauber dieses Ortes seine Wirkung auf ihn nicht. Wann immer er es einrichten konnte, brachte er die jährliche Wachablösung persönlich her. Warum, das wusste er wohl selbst nicht genau. Vielleicht, weil er so seinen beiden vertrautesten Freunden jenseits der Berge etwas näher sein konnte. Der Traum von einer sicheren Passage durch die Berge geisterte immer noch in seinem Kopf herum, wie auch in Jorids und Altheas und Jeldriks. Nun, diesmal würde er sie persönlich in Nador abholen. Er war sich absolut sicher, dass Althea trotz ihrer erneuten Schwangerschaft mitreiten würde. Jeldrik hatte keine Chance, dachte er, grinste und blinzelte dem Reiter neben sich zu.
Er hatte einen ihm sehr lieben und geschätzten Begleiter. Nathan ritt, wie schon manches Mal in diesem Sommer, mit seinem Onkel. Currann hatte befunden, dass er ruhig mit auf Phelans Reisen gehen konnte, bevor er in die Heerschule eintrat. Und Phelan war viel unterwegs. Laufbursche des Königs wurde er scherzhaft im Kreise ihrer immer größer werdenden Familie genannt. Er war Curranns Kundschafter, Botschafter, Steuereintreiber und Herold, was immer dieser verlangte, und er war es gerne. In Gilda kam er sich immer ein wenig fehl am Platz vor, zu lange hatte er in der Fremde gelebt. Sein ungewöhnliches Aussehen, das in Gilda mehr aneckte als ihm zur Ehre gereichte, verhalf ihm bei seinen Besuchen zu einer ganz eigenen Durchsetzungskraft, die sein Bruder zusehends nutzte und Phelan sehr genoss, ohne es zuzugeben.
Einziger Wehmutstropfen war dabei die Trennung von Noemi, welche ihm eine bildschöne Tochter nach der anderen schenkte. Phelan hatte Currann einmal sagen hören, er rette seinen Bruder vor der weiblichen Übermacht, indem er ihn so viel auf Reisen schickte. Phelan selbst störte es keineswegs, dass er keine Söhne hatte. Was hatte er schon zu vererben? Seine lebhafte Töchterschar machte den Mangel mehr als wett. Keine Einzige von ihnen hatte Noemis Gebrechen geerbt, und dafür dankte er Althea auf Knien. Er war sich absolut sicher, dass dies ihrem Licht zu verdanken war, wie auch in Gilda seit dem Fall SEINER Macht ungewöhnlich viele Kinder geboren wurden.
»Phelan, wollen wi’?«, drängte Nathan. Er fieberte dem Wiedersehen mit seinem großen Freund Kiral schon seit Wochen entgegen.
Phelan lachte auf und drehte sich um. »Hauptmann, Ihr bleibt in Formation! Los, Nat, wer als Erster da ist!«
Nathan jauchzte und trieb sein Pferd an. Es war für Phelan nicht nur Spaß gewesen. Es war wirklich schwer, Nathan im Reiten zu besiegen. Selbst mit seinen gerade mal zwölf Jahren war er allen haushoch überlegen, Kiral vielleicht ausgenommen. Dies war es auch, was Currann für ihn plante. Er sollte in die vor einigen Jahren gegründete Reiterschar aufgenommen werden, und dafür war die Absolvierung der Heerschule unabdingbar, trotz aller Proteste Siris, die ihren ungewöhnlichen Sohn nicht aus der Obhut der Familie lassen wollte. Dort war er stets behütet und frei von Anfeindungen gewesen, unterrichtet von seinem Großvater und seinem Onkel. Nathan war ein ernster Junge, in vielerlei Hinsicht schon viel erwachsener, als alle dachten, seine Mutter eingeschlossen. Es würde Nathan auf Dauer nicht helfen, so behütet zu werden. Er musste lernen, allein in der Welt zurechtzukommen, Phelan gab seinem Bruder in diesem Punkt recht. Dafür würde er, wie sie beide damals auch, ins kalte Wasser geworfen werden. Diese Reise war die Vorbereitung dafür.
Die Soldaten taten es mit einem Schulterzucken ab. Da der Junge kaum sprach und auch sonst sich stets in der Nähe seines Onkels hielt, behandelten sie ihn mit gutmütiger Freundlichkeit, nahmen ihn aber nicht besonders ernst, hielten ihn sogar hinter vorgehaltener Hand für einen Simpel. Sie dachten, er solle einfach ein wenig Steppenluft schnuppern, nichts weiter. Wie sehr sie sich damit täuschten, ahnten sie nicht.
Phelan hatte tatsächlich Mühe, den Jungen einzuholen, und als ihnen auf halber Strecke zwei Reiter entgegenkamen, beide groß und schlank, da kannte Nathan kein Halten mehr. »Ki’all!« Sein Freudenschrei hallte über die Steppe. Doch kurz bevor sie zusammentrafen, nahm er verwirrt sein Tier zurück. Denn Kiral saß nicht allein auf seinem treuen Freund Wind, er hielt ein nicht einmal ein Jahr altes Kind vor sich. Es war für Nathan ein ungewohnter Anblick, dass plötzlich jemand anderes an seine Stelle getreten war. Aber das währte nur einen kurzen Augenblick, dann siegte die Freude. Irgendwie schafften es die beiden, sich in die Arme zu fallen, ohne dass der Kleine Schaden nahm. Nicht, dass ihn die stürmische Begrüßung erschreckt hätte. Er quietschte vergnügt drauflos, und spätestens, als Nathan ihn packte und durch die Luft schwang, war das Eis gebrochen.
Phelan betrachtete das Ganze kopfschüttelnd und ritt dann Jorid entgegen, die etwas langsamer mit ihrer kleinen Tochter angeritten kam. ›Sie wird von Jahr zu Jahr schöner‹, dachte er mit etwas verschämtem Entzücken. Zwar brachte sie ihn nicht mehr derart in Verlegenheit wie einst, aber ihr Anblick ließ manch hartgesottenes Männerherz höher schlagen. Sie war zwar immer noch weit davon entfernt, als das zu gelten, was die Männer Moranns als ‚wohlgerundet’ bezeichneten, aber ihre knabenhafte Schlankheit war deutlich weiblicheren Zügen gewichen.
»Jorid!« Lächelnd saßen sie ab und umarmten sich. Phelan war es egal, ob die Soldaten das merkwürdig fanden, sie beide kannten es nicht anders. »Es ist schön, dich wohlauf zu sehen. Wir alle haben uns über die Nachricht zur Geburt eures Sohnes sehr gefreut. Wie heißt er?«
»Jamal, nach Kirals Vater. Und du? Wie viele Töchter hast du noch bekommen?«, neckte sie ihn, und er lachte. Das wusste sie schließlich ganz genau.
Phelan hockte sich vor das kleine Mädchen hin. Auch Jorids Tochter Janida würde eines Tages Herzen brechen, so viel stand bereits jetzt fest. Sie hatte die dunklen Haare und schmalen Augen ihres Vaters geerbt, dazu aber die Augen vom unglaublichen Blau ihrer Mutter. Wenn er schon nicht bei Jorid dahinschmolz, bei ihr tat er es. »Weißt du noch, wer ich bin?«, fragte er die Kleine.
Sie drängt sich an ihre Mutter. »Hmm... ein Onkel?«
Phelan lachte auf. »Das stimmt. Und weißt du auch, welcher? Ich verrate dir was: Letztes Jahr hast du bitterlich geweint, als ich wieder gegangen bin.«
»Hmm... Pheeelaaan!«, krähte sie plötzlich los und stürzte sich auf ihn, dass er lachend umfiel und sie mit sich riss.
»Wie ich sehe, seid ihr beide immer noch die besten Freunde. Du alter Weiberheld!«, knurrte Kiral und schlug ihm auf die Schulter, als er aufstand und sich den Staub aus den Kleidern klopfte.
»Phelan, Phelan, darf ich mit dir reiten?«, rief Janida.
»Natürlich darfst du, aber zunächst einmal...« Er drehte sich mit ihr um, denn hinter ihnen waren Hufschläge laut geworden. Die Soldaten waren herangeritten und in respektvoller Entfernung stehen geblieben. »Männer, begrüßt Fürst Kiral und Fürstin Jorid.« Schon allein das war ungewöhnlich, denn für gewöhnlich hieß es in Morann nur ›und seine Gemahlin‹. Die Männer stutzten denn auch, aber sie entboten ihrem Fürsten einen Heeresgruß, wie es sich gehörte, nur dass sie gleich lernen mussten, dass hier andere Sitten galten. Denn Kiral nickte ihnen nur zu, wortkarg gegenüber Fremden wie immer. Jorid war es, die sie mit freundlichen Worten willkommen hieß und einlud, ihnen in ihre Wohnstatt für das kommende Jahr zu folgen. Die jungen Männer sperrten Augen und Münder auf und brachten kein Wort heraus.
Phelan lächelte sich hinein, als sie wieder aufsaßen und nach Branndar ritten. Viele heimliche Blicke ruhten auf Jorid, die stolz erhobenen Hauptes voraus ritt. Das würde die nächsten Wochen auch so bleiben, Phelan hatte es schon oft erlebt. Manch einer würde sich in sie verlieben, andere in ihrer Gegenwart kaum den Mund aufbekommen. Bis sie alle gelernt hatten, mit jemandem wie Jorid umzugehen. Eine Frau, welche die Geschäfte des Fürstentums führte wie ein Mann und das derart erfolgreich, dass man sogar in Gilda davon sprach. Und sie würden sie fürchten lernen, alle beide. Sie duldeten keinerlei Nachlässigkeit, weder im Feld noch im Fort. Kirals Regiment war so streng wie Jorids Geschäfte. Sie beide führten die Siedlung mit aller Härte ihrer Völker. Die Soldaten würden erst murren, dann schlucken und dann akzeptieren, und dann, beim ersten Goi Angriff, den sie zurückschlugen, würden sie erkennen, welch fähiger Kämpfer ihr Fürst war. Danach würden sie alles ertragen, die eisige Kälte auf den Vorposten in den Bergen, die karge Verpflegung, den langen Winter. Denn Kiral bot ihnen Einmaliges: Wenn sie nach einem Jahr nach Gilda zurückkehrten, waren sie ausgebildete Reiterkämpfer, etwas, das es in Morann erst in Ansätzen gab. Currann hatte Kiral die Aufgabe übertragen, Reiter für das gildaische Heer auszubilden, und danach wurde die neue Besatzung in Branndar auch ausgesucht.
In der Siedlung angekommen, feierten Nathan und Phelan ein fröhliches Wiedersehen mit den Bewohnern. Nathan war gar nicht mehr von seiner Großtante Karya und seinem Großvater Strahan wegzubringen, und so ließ sich Phelan von Jorid herumführen, während Kiral die Neuankömmlinge in ihre Quartiere einwies. Die Kleine ließ dabei Phelans Hand nicht einmal los. Sie hatte einen Narren an ihm gefressen, wie schon die Jahre zuvor.
Viel hatte sich in Branndar seit dem Fortgang der Kameraden verändert. Es war mehr als doppelt so groß wie vorher, Bergarbeiter, Händler, Bauern und Hirten sowie ein Karawanenplatz waren hinzugekommen und nicht zuletzt das große Haus des Fürsten. Kiral lebte mit seiner Familie längst nicht mehr im Fort, er hatte sich einen würdigen Fürstensitz geschaffen. Dies alles quetschte sich auf das knapp bemessene höher gelegene Land, damit die Gebäude nicht durch die Wassermassen der alljährlichen Schneeschmelze gefährdet waren. Die Quartiere der Minenarbeiter dagegen lagen in der Nähe der Stollen, die sich mittlerweile um den halben Berg herum zogen. Dafür mussten die Felder in das Umland ausweichen. Um die vielen zusätzlichen Bewohner versorgen zu können, hatten sie die Felder in die ausgeschlachteten Torffelder ausgedehnt. Bewässerungsgräben, Weiden, all dies erforderte zusätzliche Arbeiter, und sie kamen wie die Soldaten gerne nach Branndar, sehr zum Verdruss des Fürsten von Nador. Jorid bot ihnen guten Lohn und ein annehmbares Quartier, ihre Kinder, nach wie vor Jungen und Mädchen, erhielten durch Strahan und seine Gehilfen eine gute Schulbildung, und Kirals Unterricht tat ein Übriges. Es gab etliche Kinder Branndars, die aus dem Stand in die Heerschule Gildas aufgenommen worden waren. So wie Yassin, Curranns Zögling aus früheren Tagen. Er stand kurz davor, einer der jüngsten Hauptmänner zu werden, den es je in Morann gegeben hatte. Sein Freund Ramon hatte sich dagegen entschieden, nicht in die Heerschule einzutreten, sondern war von Curranns Kamerad Tamas in die Obhut des Minenmeisters von Nador gegeben worden. Er würde, so planten sie es, dereinst die Mine in Branndar leiten.
»Viel habt ihr geschafft«, sagte Phelan beeindruckt, als sie schon fast im Dunkeln auf einen der Türme des Forts stiegen und auf die vielen Lichter Branndars herunter sahen.
Jorids Stirn umwölkte sich. »Ja, und die Goi werden immer gieriger. Beim letzten Überfall im Frühjahr waren sie derart zahlreich, dass wir Mühe hatten, sie zurückzuschlagen. Wir brauchen einfach mehr Soldaten, aber wohin mit ihnen?«
Phelan lehnte mit verschränkten Armen neben ihr an der Brüstung. »Deshalb wollen wir ja in Gilda beraten, was wir gegen die Goi unternehmen können. Sie binden einfach zu viele Kräfte, sowohl bei uns als auch bei den Saranern. Ich denke, wir werden einen gemeinsamen Feldzug führen und sie ein für alle Mal unterwerfen. Nur dazu...«, er spreizte seine Hände, »werden wir sie ausspionieren müssen, ihre Stärke, ihre Siedlungsorte. Ich werde wohl nach Ethenien reisen und dort versuchen müssen, etwas über sie herauszubekommen. Die Saraner sind in diesen Dingen nicht sehr geschickt, sie interessieren sich schlichtweg einfach nicht für das, was die Ethenier zu sagen haben.«
»Und was sagt Noemi dazu?«
Mit dieser Frage hatte Phelan schon gerechnet. Er lachte leise. »Oh, sie wird mich mit unseren Töchtern begleiten bis Saran und eine Weile bei Thea bleiben. Du weißt, dass sie sich bei Hofe nie so richtig wohl gefühlt hat.«
»So wie du«, stellte Jorid fest. »Mir gefällt es dort auch nicht, vor allem, dass die Frauen nichts zu sagen haben. Siri ist die große Ausnahme.«
»Aber nur, solange Currann sie stützt«, knurrte da Kiral und kam zu ihnen auf den Turm. Auch er war mit dem Hof Gildas nie heimisch geworden. Die hochwohlgeborenen Herrschaften waren und blieben ihm fremd, und er hatte mit Tamas’ Vater so manches Scharmützel ausgetragen, dem die neue starke Kraft in seinem Hinterhof natürlich gar nicht recht war.
»Dafür würde Siri dir den Kopf abreißen«, lachte Phelan. »Sie ist ganz schön kämpferisch geworden. Genauso wie unsere künftige Fürstin von Nador. Kaum zwei Monate unter einem Dach mit Tanaar, und Nel ist nicht wiederzuerkennen.«
»Tja, sie wollte es ja so«, sagte Jorid nur. Gewarnt hatten sie Nel alle. Lange Zeit hatte es so ausgesehen, als würde sich Ratsherr Sinans Schwester für überhaupt keinen der zahlreichen Kandidaten um ihre Hand entscheiden. Dass es dann ausgerechnet Tamas war, das hatte sie alle überrascht. Sicherlich, nach der Zerstörung der Festung Gildas hatte er eine Zeit lang wie sie alle bei Sinan gewohnt und daher häufig mit ihr zu tun gehabt, aber keiner hatte bemerkt, dass sie eine besondere Zuneigung zueinander gefasst hatten. Vielleicht hatte Tamas aber auch aus früheren Fehlern gelernt und es gut verborgen. Sein Vater jedenfalls konnte mit dieser Heirat rundum zufrieden sein. Nel brachte eine reiche Mitgift ins Haus, Gold, das sie dringend in Nador benötigten. Doch damit fingen die Probleme erst an, denn es gab seit Kurzem das Gesetz, dass Frauen über die Hälfte des ihres in die Ehe mitgebrachten Vermögens selbst verfügen durften, und das passte Tanaar natürlich überhaupt nicht.
Jorid spie aus, als sie das von Phelan hörte. »Geschieht ihm recht!«
»Hm, Tamas ist schlechter denn je auf ihn zu sprechen. Ich soll euch Grüße ausrichten. Er erwartet uns in Nador, und sein Vater wird schon nach Gilda abgereist sein, das hat er uns versprochen.«
»Was auch besser ist«, knurrte Kiral, und sie lachten.
»Oh seht, da kommt Nathan mit Karya und Strahan.« Jorid lehnte sich über die Brüstung und spähte ins Tal hinab. »Dann können wir ja essen.«
Das Mahl nahmen sie im Kreis der Familie in Kirals Haus ein. Obwohl es noch nicht spät war, waren die Neuankömmlinge wie ausgehungert. Jorid hatte es persönlich übernommen, für alle zu kochen. In den ersten Jahren hatte sie stets für alle Soldaten gekocht, doch mit zunehmendem Florieren der Mine blieb ihr dafür häufig keine Zeit mehr. Mit dem Erfolg, dass zwei ihrer Mägde bereits einen Soldaten geheiratet und sie sich dauerhaft in Branndar niedergelassen hatten. So verfügte Kiral über zwei Hauptmänner, die ihn bei der Kommandantur unterstützten.
»Hmmm, das ist ’ut!«, mampfte Nathan und hielt Jorid begeistert seinen Teller hin.
»Hmmm, das ist ’ut!«, äffte Janida ihn nach und kicherte.
»Janida!« Kiral wies seine Tochter knurrend auf Cerinnisch zurecht.
Sie jedoch wirkte keinesfalls schuldbewusst und streckte Nathan heimlich die Zunge raus, was der regungslos über sich ergehen ließ. Das tat er immer, wenn jemand über ihn herzog, aber sein bohrender Blick, den er sich eindeutig von Currann abgeschaut hatte, verfehlte seine Wirkung nicht. Janida senkte den Kopf und sah verunsichert auf ihre Hände herab.
»Komm, nimm dir noch, Nat«, munterte Jorid ihn auf und bedachte ihre Tochter mit einem strengen Stirnrunzeln, doch die Missstimmung dauerte nicht lange. Fröhlich plaudernd verging das Mahl. Schulmeister Strahan fragte Phelan wahre Löcher in den Bauch nach den neuesten Entwicklungen in Gilda, so sehr, dass es Phelan kaum gelang, einen Bissen zu essen.
»Nun lass ihn doch erstmal essen!«, mahnte Karya ihren Bruder und hob ihren Becher. Kiral hatte von irgendwoher roten Wein bekommen, und mit dem stießen sie jetzt an.
»Auf euren Nachwuchs!«, rief Phelan.
»Auf...«
Weiter kamen sie nicht.
Nathan sprang auf, totenbleich plötzlich. Er stieß einen Laut zwischen Keuchen und einem gurgelnden Schrei aus. Zitternd klammerte er sich an die Tischplatte.
»Nat, was...?« Phelan blieben die Worte im Halse stecken. Ihn traf etwas, das sich anfühlte wie ein tückischer Stich bis in alle feinen Nervenenden. Ihm wurde schwarz vor Augen, er stürzte in ein tiefes schwarzes Loch. Doch der Sturz währte nur kurz. Er schrie auf vor Schmerz. Ein Bild stieg vor ihm auf: Ein dunkles, mit einer Tiermaske vermummtes Gesicht beugte sich über ihn, packte zu und schickte ihn mit einem harten Schlag in die Bewusstlosigkeit.
Karya und Strahan wussten nicht, wie ihnen geschah. Nathan wand sich stöhnend am Boden, Phelan, Kiral und Jorid waren über ihren Tellern zusammengebrochen. »Um Himmels Willen!« Karya rang hilflos die Hände.
Doch da fuhren die anderen wieder auf, einen lautlosen Schrei auf den Lippen. Und Nathan drückte den Rücken durch, streckte die Hände aus und schrie: »Thea!!«
Fassungslos aus müden Augen blinzelnd sahen die Bewohner Branndars im Morgengrauen zu, wie sich ein ganzer Heereszug zum Aufbruch bereit machte. Sämtliche Soldaten waren gerüstet, mit ungläubiger Miene. »Ich wünschte, Peadar wäre hier und erklärte ihnen das«, raunte Schulmeister Strahan Phelan und Kiral zu. »Ich finde einfach nicht die rechten Worte, etwas zu erklären, das ganz eindeutig mit Magie zu tun hat.«
Etwas abseits stand Karya und hielt Nathan fest in den Armen. Es hatte unverständliches Kopfschütteln bei den Männern und entsetzten Protest bei Karya ausgelöst, dass der Junge mitkommen sollte. Er jedoch bestand darauf, drohte sogar damit, dass er ihnen heimlich folgen würde. Also hatten Phelan und Kiral nachgegeben, denn wer konnte die Goi schließlich besser spüren als Nathan? Aber was Currann und Siri hinterher mit ihnen anstellen würden, daran mochten sie nicht einmal denken.
»Also gut, macht Euch bereit! Aufsitzen!«, rief Phelan. »Sorgen wir dafür, dass die Bedrohung durch die Goi ein für alle Mal ein Ende hat!«
Karya ließ Nathan schweren Herzens los. »Passt auf ihn auf. Wenn ihm etwas geschieht, drehe ich Euch eigenhändig den Hals um!«
Phelan nickte ihr wortlos zu und hielt ihrem Blick stand. Dadurch entging ihm, wie sich eine weitere Gestalt zu ihnen gesellte. Er merkte es erst, als Kiral einen harten Fluch ausstieß. »Was... Jorid!«
Bei Phelans Ausruf fuhren alle Soldaten zu ihnen herum. Sie war gekleidet wie ein gildaischer Soldat in der saranischen Variante, trug deren Rüstung, aber auch Beinlinge, sodass keine unschicklichen Stellen zu sehen waren. Alles war eigens für sie gefertigt worden, sollte sie in der Not doch einmal zu den Waffen greifen müssen. Dieser Zeitpunkt war nun gekommen. »Ihr glaubt doch nicht, dass ich euch allein reiten lasse? Wenn es mein Bruder doch auch tut?«, schnappte sie und unterband jeden Protest, indem sie anritt.
»Was für eine Frau!«, entfuhr es einem der Neuankömmlinge.
»Pah!«, machte ein anderer. »Lässt einfach ihre Kinder allein! Wo gibt es so etwas?«
»Das ist in Saran so üblich«, unterbrach Phelan ihn barsch. »Alle Frauen dort kämpfen, wenn die Männer auf See sind. Genug geschwätzt, formiert Euch! Reiten wir!«
Der Zug gelangte rasch in die Berge hinauf, vorbei an den vielen Fallen und den beiden Wachtürmen, die Kiral gleich zu Beginn seiner Herrschaft dort oben hatte bauen lassen. Das Gebiet dahinter hatten sie im Laufe der Jahre gründlich ausgekundschaftet. Sie wussten genau, von welcher Schlucht aus die Goi für gewöhnlich nach Branndar einfielen, und so dauerte es nicht lange, bis ihre Späher zurückkamen. »Sie ziehen nach Süden. Es scheint, als seien sie auf der Flucht vor den Saranern, Fürst! Sie haben es sehr eilig.«
Darauf hatten sie gehofft. Es war ein großes Risiko, mit so wenigen Kämpfern einen Feldzug zu beginnen, aber Phelan zählte fest auf Jeldrik, dass dieser alles auf der anderen Seite in Bewegung gesetzt hatte, was auch nur ansatzweise ein Schwert halten konnte. Er hoffte, dass sie früher oder später zu ihnen stoßen würden. Wobei später ihrer aller und besonders Altheas Tod bedeuten konnte.
Phelan kniff grimmig die Lippen zusammen und sah besorgt auf Nathan, der blass und verstört neben ihm auf seinem Pferd hockte. »Sie ’aben Thea bei si’«, kam es dünn von ihm. »Wi’ müssen vo’si’ti’ sein.«
»Ja, hoffentlich sind die Saraner auch so vorsichtig«, stieß Jorid leise in ihrer Muttersprache hervor, damit der Junge das nicht verstand.
»Hoheit, erklärt uns das!«, erklang es hinter ihnen. Phelan wandte sich um, und es war, als kehrte er plötzlich in die Wirklichkeit zurück. Sein ganzes Streben war darauf ausgerichtet gewesen, Althea zu folgen, sodass er völlig vergessen hatte, wie dies auf die Männer wirken musste. Sie wirkten verunsichert, wenn nicht gar verstört, und ihre sonst so kompromisslose Bereitschaft zu folgen war ernsthaft ins Wanken geraten. Sie standen kurz davor, Befehlsverweigerung zu begehen.
Kiral neben ihm stieß einen leisen Fluch aus und legte seine Hand unauffällig an die Waffe. Phelan dagegen fluchte nur innerlich. Seine Miene war ausdruckslos wie immer. »Sie haben ein Mitglied der königlichen Familie entführt«, antwortete er.
»Verzeiht, Hoheit, aber woher...«, setzte einer der Hauptmänner an und wurde von gänzlich unerwarteter Seite unterbrochen.
»Von mi’.« Nathan wendete sein Tier. Seine dunklen Augen blickten unergründlich und funkelten wie schwarzes Feuer. Plötzlich wirkte er gar nicht mehr wie ein kleiner Junge, sondern weitaus älter als ein Erwachsener. Fremd und irgendwie unheimlich.
»Von dir?!«
»Wie kann das...?«
»Ruhe!« Phelan unterband das Gemurmel. Er wartete, bis ihm alle wieder die volle Aufmerksamkeit schenkten. »Ihr wisst, wie unsere Halbschwester Althea beim Fall Gildas die Verwundeten geheilt hat?« Zögerliches Nicken war die Antwort. Wenn sie es nicht selbst gesehen hatten, dafür waren die meisten zu jung, kannten sie es doch aus den ehrfürchtigen Erzählungen der älteren Soldaten, und wie alles Unbekannte machte es ihnen Furcht. »Ihr Licht«, Phelans Stimme trug weit, »schafft eine dauerhafte Verbindung, ein Leben lang. Nathan stammt zudem von den Goi ab.«
»I’ ’ann sie spü’en«, sagte Nathan. »Sie ’aben Thea entfüh’t. Sie ’at An’st un’ ’at Schme’zen.« Ungläubig starrten die Männer ihn an. So viel hatte er die ganze Reise lang noch nicht gesagt, und sie verstanden ihn alle, ausnahmslos.
»Ihr könnt ihm ruhig glauben«, knurrte Kiral, und Jorid setzte hinzu: »Schon als kleines Kind hat er die Bewohner Branndars vor den Goi-Überfällen gewarnt. Er hat eine besondere Beziehung zu Althea Thoraldsfarlan. Wir alle, die wir von ihrem Licht berührt worden sind, haben gespürt, dass ihr etwas Schlimmes widerfahren ist. Und Ihr könnt mir glauben, dass mein Bruder drüben in Saran bereits jeden verfügbaren Mann in Bewegung gesetzt hat, sie zu retten.«
Merkwürdigerweise waren es Jorids Worte, welche sie endgültig überzeugten. Nathan wurde von da an ganz anders von ihnen behandelt. Vorsichtig, als hätten sie es mit einer unbekannten Macht zu tun. Alle milde Nachsicht und Verachtung waren verschwunden und auch alle Unverständnis, warum sein Onkel ihn mitgenommen hatte.
Und auch in Nathan änderte sich etwas. Nun ritt er stolz gereckten Hauptes neben Phelan her. Seine Furcht, sein hämmerndes Herz verbarg er gut. Er war für seine Familie eingetreten, hatte seinem verehrten Onkel geholfen und war stolz darauf.
So ritten sie dahin, bis die Sonne hoch am Himmel stand. Nun kamen sie in Gebiete, welche selbst ihren erfahrendsten Spähern fremd waren. Es stellte die Soldaten auf eine neue Probe, denn eigentlich hätten sie jede Schlucht, jeden Felsgrad nach Feinden absuchen müssen, aber Nathan nahm ihnen diese Bürde ab. Er konnte ihnen genau sagen, ob dort noch Feinde lauerten oder nicht. Und so lernten die Soldaten eine Lektion, die sie ihr Lebtag nicht vergessen sollten: Sie mussten einem Zwölfjährigen ihr Leben anvertrauen.
Die letzten Zweifler wurden überzeugt, als Nathan spät am Nachmittag, die Sonne stand schon tief, plötzlich »’alt!« rief. Keinen Moment zu früh. Ein leises Sirren erfüllte die Luft. Die kampferprobten Soldaten gingen sofort hinter ihren Pferden und Schilden in Deckung. Nur Nathan nicht. Er saß ruhig da, auch als die Pfeile nur wenige Schritte vor ihnen einschlugen. »Ihr b’au’t ’eine An’st ’aben!«, rief er.
Phelan hob den Kopf, und auch Jorid tauchte hinter ihrer Stute wieder auf. Da erkannte Phelan die Pfeile. »Es sind die Saraner! Jorid, komm, nimm deinen Helm ab. Wir reiten ihnen entgegen.«
Auf keinen Fall ließ Kiral seine Frau ins Unbekannte reiten, und wo Kiral war, da war auch Nathan, also ritten sie den Saranern zu viert entgegen. Jorids langes helles Haar flatterte dabei wie eine Fahne in der Sonne und verfehlte seine Wirkung nicht. Kurze Zeit später erklang ein Triumphschrei aus vielen Kehlen, und sie konnten ihre alten Freunde begrüßen.
Ergriffenheit oder gar Freude wollte nicht aufkommen angesichts des Anlasses ihres Wiedersehens. Phelan war über das Aussehen Jeldriks ehrlich erschrocken. So hatte er ihn noch nie erlebt, nicht einmal, als Althea damals vor IHM geflohen und allein in die Berge nach Branndar, zu Currann, aufgebrochen war. Die Furcht hatte seinen Freund fest im Griff. Nicht, dass es ein Außenstehender gesehen hätte, aber Phelan tat es sehr wohl. Sie überzog Jeldrik wie eine lähmende Schicht, selbst der Zorn, der sonst seine stechend blauen Augen leuchten ließ wie Dolche, kam nicht dagegen an. Sie wirkten dumpf, wie ausgelöscht.
Phelan wusste sich nicht anders zu helfen, er packte ihn fest und flüsterte eindringlich auf ihn ein: »Wir werden sie finden, hörst du? Sie ist stark.«
»Nein, ist sie nicht! Unsere Kleine kann jeden Tag kommen, ihr Licht schützt sie, nicht Thea«, flüsterte Jeldrik gebrochen. Er streckte den freien Arm aus und zog seine Schwester zu sich heran. »Wir haben die Kadaver ihrer Entführer gefunden. Es waren Bado und Seeko.«
»Waas?!«, riefen Jorid und Phelan wie aus einem Munde.
»Erklär das!«, kam es von Kiral.
Jeldrik nahm sich zusammen, endlich. Er wandte sich zu seinem Schwager um. »Diese beiden Verräter haben einen Weg von der Insel herunter gefunden und nur auf die Gelegenheit gewartet, sich an uns zu rächen. Das haben sie seit Monaten geplant, wenn nicht sogar Jahren. Ich hatte Thea Wachen mitgegeben. Sie sind tot, und ich... ich möchte mir nicht vorstellen...« Jeldrik geriet ins Stammeln. Zum Glück standen sie abseits der Männer, sodass sie es nicht hörten.
»Reiß dich zusammen, Bruder!«, zischte Jorid, obwohl sie ihn verstehen konnte.
Jeldrik holte tief Luft. »Die Goi haben die beiden Verräter abgeschlachtet wie Vieh, und ihr wisst, was sie mit den Frauen...«
»Ja! Ja, das wissen wir!«, spie Phelan aus. »Aufsitzen!«, brüllte er unvermittelt nach hinten. »Egal, über wie viele Männer wir verfügen, bereiten wir dem ein Ende!«
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