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Kapitel 3

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Hilflos

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Schmerzen. Noch nie hatte sie solche Schmerzen gehabt. Ihr Licht hatte sich ganz zurückgezogen, um ihre Kleine zu schützen. Waren es schon die ersten Wehen, die sie spürte? Oder die vielen Prellungen von den Schlägen und Tritten, ihr zugeschwollenes Gesicht, der dröhnende Kopf? Sie wusste es nicht, hoffte mit jeder Faser ihres Herzens, dass es Letzteres war, dass Jeldrik noch Gelegenheit hatte, sie beide zu retten. Jeldrik... Althea unterdrückte ein schmerzhaftes Stöhnen. Würde er seine Tochter jemals in die Arme schließen können, dieses springlebendige Wesen, das sie jetzt schon war? Althea war sich fast sicher, dass sie ihre Gabe geerbt hatte. Manchmal war es ihr, als unterhielten sie sich richtig miteinander, tauschten Gefühle aus. Nun war sie verstummt, eingehüllt in den Kokon ihres Lichtes, und Althea tat alles, um ihre eigene Angst vor der Kleinen abzuschirmen.

Das Pferd, auf dem sie saß, setzte über ein Hindernis hinweg. Althea schlug hart mit ihrer Nase gegen den Rücken ihres Vordermanns und spürte, wie das Blut wieder zu laufen begann. Sie war festgebunden hinter einem nach ranzigem Fett, Schmutz und wer weiß was noch stinkendem Goi. Aus seinem dreckstarrenden Fell krochen begierlich kleine Lebewesen zu ihr herüber, krabbelten und bissen, wo sie nur konnte. Das war das Widerlichste überhaupt. Nicht die Schmerzen, sondern diese Biester, die sie nicht ignorieren konnte. Vielleicht war es aber auch ein Schutz, um nicht an die schrecklicheren Dinge denken zu müssen, die vorher geschehen waren. An Ona, wie sie gelitten hatte erst unter ihren Entführern, dann unter den Goi. Althea wusste nicht, ob sie noch lebte. Die kleine Sklavin war wie ein Sack über ein Pferd geworfen worden und rührte sich seitdem nicht mehr. Was wohl auch besser für sie war. Althea hoffte für sie, dass sie nie wieder aufwachte. Sie selbst hatten weder die beiden Gestalten im Sumpf noch die Goi angerührt. Nicht in der Weise, in der solche Unholde für gewöhnlich über eine Frau herzufallen pflegten. Es war, als bildete ihr Bauch einen natürlichen Schutzwall gegen derlei Ansinnen. Oder sie hatten Schlimmeres mit ihr vor.

›Wir werden deinem Mann und deinem Bruder ein Denkmal bereiten, das sie niemals vergessen werden‹, hatte der Verkrüppelte gesagt und hatte dabei wie irre gelacht und mit dem Dolch über ihren Bauch gestrichen. Und die Goi hatten sie ähnlich angesehen und angefasst. Nein, nicht daran denken, was sein könnte!, mahnte sie sich und konzentrierte sich wieder auf ihr Innerstes.

Die ganze Nacht und den folgenden Tag ritten sie fast ohne Unterbrechung dahin. Althea litt schrecklichen Durst, ihr war schlecht. Flimmernde Kreise drehten sich vor ihren Augen, ihr Schädel dröhnte, als wollte er zerspringen. Sie hoffte, dass der Grund, weshalb sich die Goi so beeilten, mit fliegenden Pferden hinter ihnen her ritt. Dass Jeldrik...

Ihr innerliches Flehen wurde von einem Aufschrei unterbrochen, ein durchdringendes Li-li-li aus vielen Kehlen, noch weit entfernt, aber es kam rasch näher. Plötzlich roch sie Rauch, wie aus vielen Kochfeuern. Althea öffnete mühsam die Augen und versuchte, etwas an dem breiten Rücken ihres Reiters vorbei zu erkennen. Die Berge, schon tiefrot in der untergehenden Sonne, waren zurückgewichen und hatten einem weiten Hochtal Platz gemacht. Karg war es hier, felsig, wie sie es auch aus den Bergen von Nador kannte. Ein Fluss durchfloss in einem breiten Bett das Tal, aber sie sah keine Felder. Vereinzelt stehende, primitive Hütten, nicht aus Stein, nein, aus Fellen und krummen Hölzern notdürftig zusammengeflickt. Darum herum grasten Herden aus Ziegen und Schafen. Nomaden, dachte Althea erstaunt, und es lenkte sie etwas von ihrer Angst ab, sie sind Nomaden. Sie haben keine festen Wohnorte. Deshalb war bei den Etheniern so wenig über sie bekannt. Sie zwang sich, genauer hinzuschauen, je mehr sie in den besiedelten Bereich vordrangen. Schmutz, Schmutz, soweit das Auge reichte. Ausgemergelte Frauen mit einem Kind auf dem Rücken und einem Säugling an der Brust oder im Bauch, die Gesichter so alt wie das ihrer Großmutter. Die dürren Kinder starrten vor Dreck, spielten zwischen Unrat und etwas, das sie als Suhle der Tiere ausmachte. Sie sah gehäutete Kadaver von Hunden und Ratten, aufgehängt an Seilen zum Trocknen. Es schüttelte sie vor Ekel, und gleichzeitig ahnte sie, dass diese Menschen von der Hand in den Mund lebten, und sie verspürte einen leisen Stich des Mitleids.

Doch das war noch nichts im Vergleich zu dem, das sie erwartete, als sie zur Mitte der Streusiedlung kamen. Hier hatten sich die meisten versammelt, jubelnd und tanzend mit Trommeln und etwas, das wie eine schrille verstimmte Flöte klang. Der Lärm war ohrenbetäubend und sandte Althea schmerzhafte Stiche in den Kopf, dass sie fast bewusstlos wurde. Sie kam erst wieder zu sich, als man sie grob vom Pferd zerrte. Schmerzhaft prallte sie auf dem Boden auf, und sie spürte, wie etwas in ihr riss, und schrie auf. Nein! Nicht jetzt! Sie presste ihre Hände schützend auf ihren Leib, doch man riss sie fort und drehte ihre Arme auf den Rücken. So wurde sie vorwärtsgestoßen in die Mitte der stinkenden Menge, die sich um eine winzige, verhutzelte Gestalt scharte. Uralte, hasserfüllte Augen funkelten ihr aus dem schmutzigen Gesicht entgegen. Die Haare waren eine verfilzte, zu allen Seiten abstehende Masse aus Zöpfen und Knoten. In ihr waren Knochen eingeflochten, Ringe und andere Dinge, die wohl mal Schmuck gewesen waren. ›Ihre Schamanin‹, dachte Althea, und ihr Blick fiel auf den langen Stab der Alten. Auf ihm steckte ein kleiner Schädel. Ein Kinderschädel.

›Nein!‹, dachte Althea und krümmte sich instinktiv um ihre Mitte. Da kreischte die Alte triumphierend auf und stieß hart mit dem Schädel zu. Sie traf Althea unterm Kinn, ihr Kopf flog zurück, gegen den massigen, stinkenden Körper ihres Wächters. Ihr geschwollener Leib reckte sich der Alten wie ein Geschenk entgegen, wurde gleichsam entblößt. Sie rissen ihr den Umhang, ihr Hemd, die weiten Beinlinge einfach entzwei, und nichts bot mehr Schutz vor den Händen der Alten.

Althea überkam das Würgen, als sie fühlte und drückte, sogar in sie drang, um zu fühlen, wie weit sie war. Dann hob die Alte mit einem erneuten Kreischen die Arme. Alle anderen rückten noch näher, mit gierig glitzernden Augen. Die Luft wurde unerträglich stickig. Althea vergrub ihre Empfindungen tief in sich, schloss einfach die Augen. Sie wollte nicht sehen, wie sie alle anglotzten, geifernd und durch und durch böse. Das Kreischen der Alten wurde rhythmischer, es nahm eine beschwörende Note an. Alle anderen fielen mit Trommeln und Händen in den Takt mit ein. Die Alte umfasste ihren Leib und drückte plötzlich zu, mit einer kaum zu glaubenden Kraft. Althea kam es vor, als wolle sie ihr das Kind aus dem Leib pressen. Sie schrie auf, als eine heftige Welle des Schmerzes durch sie schoss, gefolgt von einem Schwall Feuchtigkeit, als ihr Fruchtwasser abging. Da lachte die Alte und rief einen Befehl.

Unendlich viele Hände packten Althea, hoben sie empor und trugen sie fort. Sie schwebte auf der stinkenden Menge, schrie und trat um sich, sie wehrte sich mit aller Kraft. Sie wollte nicht hier ihr Kind zur Welt bringen, und doch drängte es unaufhaltsam vorwärts, getrieben von ihrem Licht, uralter Kreislauf des Lebens. Sie konnte nichts dagegen tun.

Getragen von der trunkenen, wie entrückt singenden Menge ging es aufwärts. Schemenhaft erkannte Althea eine Felsengruppe, die man sie hinauftrug, schwankend und stolpernd auf dem schmalen Pfad. Oben erhellten Fackeln die mittlerweile angebrochene Nacht, in einem Kreis aufgestellt um... Althea schrie schon wieder auf, laut diesmal. Ein Opferstein, rostbraun von altem Blut. Sie warfen sie auf den flachen Stein, umschlangen ihre Hand- und Fußgelenke mit Seilen und zogen sie auseinander, sodass sie weit gespreizt waren.

Althea wehrte sich nun nicht mehr, die Schmerzen nahmen ihr alle Kraft. Ihr Licht, sonst lindernder Begleiter jeder Geburt, schützte nach wie vor das Kind und konnte ihr nicht helfen. Sie musste sich konzentrieren, ihr Kind abzuschirmen, das vor Angst ganz starr war. ›Eine Druidai kann nicht sterben, bevor ihre Seelenhälfte gegangen ist, sie kann nicht...‹, hämmerte es in ihrem Kopf, und: ›Wo ist Jeldrik?‹, war ihr letzter Gedanke, dann versank alles um sie herum.


Sie kam wieder zu sich, als sie einen Schlag auf den Kopf erhielt. Der Kinderschädel grinste sie an, und sie fuhr keuchend zurück. Der Schädel wich zurück und machte dem Anblick der Goi um sie herum Platz. Sie sangen immer noch und hielten die Seile in den Händen und Altheas Glieder so weit auseinander, dass sie förmlich auf den Stein genagelt wurde. Verstört blinzelte sie. Keine Schmerzen mehr. Wo war ihr... ihr Kopf ruckte hoch. Ihr Bauch hatte merklich an Umfang verloren! Wo war ihre Tochter?

Da tönte ein anderes Geräusch durch den schaurigen Gesang, fremd und doch so vertraut. Das empörte Geschrei eines Neugeborenen. Altheas Kopf drehte sich in die Richtung wie zu einem Magneten. Und da stand die Alte, in der einen Hand ihren Stab, die andere jedoch umfasste wie eine Klaue zwei winzige Fußgelenke und hielt ein blutverschmiertes und sich mit erstaunlicher Kraft windendes Bündel empor. Althea fehlte die Kraft zum Schreien. Sie verschlang ihre Tochter mit den Augen, wusste sie doch irgendwie, dass dies der letzte Moment war, in dem sie die Kleine sah. ›Sie hat rote Haare‹, dachte sie, und einen winzigen Augenblick verdrängte das Entzücken und eine tiefe Liebe all den Schrecken.

Der Moment wurde von der Alten jäh unterbrochen. Sie hob ihren Stab. Die Seile wurden gestrafft, Althea spürte einen brutalen Zug in den Gliedern, als sie an den Seilen vom Stein gehoben wurde. Sie schrie nicht mehr, sondern konzentrierte sich ganz aufs Überleben. Das wollte sie. Wo war ihr Licht? In ihrem Innern fand sie es gleich darauf, es heilte die Wunden der Geburt. ›Oh bitte, mach schnell!‹, flehte sie. Ihre Arm- und Beinmuskeln schrien auf vor Schmerz. Schwankend ging es vorwärts, doch plötzlich standen sie wieder still. Althea riss die Augen auf. Alle Goi hatten sich in einem weiten Kreis um sie versammelt. Sie schwebte. Ein hektischer Blick links und rechts von sich und sie sah die Füße ihrer Peiniger am Rande einer Felsenkante stehen. Eine Grube? Sie versuchte, den Kopf weiter zu drehen, nach unten, aber schaffte es nicht.

Die alte Hexe sprach einige Worte, leise und drohend. Auch die Goi waren verstummt, es wurde still. Nur noch das Knistern und Zischen der Fackeln war zu hören. Althea überlief es kalt, als sie meinte, in ihren Gesichtern so etwas wie Furcht zu erblicken. Was war in der Grube? Ein schreckliches Untier? Giftige Schlangen? Da ging ein Ruck durch die Seile, sie wurde herabgelassen. Althea bekam etwas mehr Freiraum, sie wand sich, drehte den Kopf, versuchte nach unten zu schauen. Vergebens. Sie sah nur nackten, immer weiter zurückweichenden Fels, schwach erleuchtet vom Licht der Fackeln. Die Felswände machten Platz für einen größer werdenden Raum. Eine Höhle? Ja, eine Höhle, entschied sie nach dem Echo ihrer eigenen, keuchenden Atemstöße. Oben war es immer noch still.

Sie ließen Althea noch ein Stück ab, dann hing sie dort. Und nichts geschah. Vorsichtig drehte sie den Kopf und versuchte, im Dunkeln der Höhle etwas zu erkennen. Und stellte mit Erstaunen fest, dass sie sehen konnte. Irgendetwas tauchte die Höhle in einen fahlen Lichtschein, irgendwo gab es hier eine Lichtquelle. Aber was... so vertraut. Althea keuchte auf. Sie kannte diese fahle Farbe. Ihr Blick flog zum Boden der Höhle. Im ersten Moment nur für uneben gehalten, schälten sich gleich darauf Konturen heraus. Verkrümmte Gestalten, vertrocknete, schwarz angelaufene Haut auf Knochen. Onas Leichnam lag auch dort, und er verwandelte sich bereits. ›Ein Todesring‹, durchzuckte es sie. Dieser Anblick glich haargenau Phelans Beschreibung vom Todesring auf der Insel. Das also geschah mit den vielen Opfern der Goi, ging ihr auf, denn sie hatte in der ganzen Siedlung keine hellhäutigen Fremden gesehen. Die vielen, vielen entführten Menschen, sie lagen alle hier unten. Es war nicht wichtig, ob sie lebendig oder halb tot oder gänzlich tot hier ankamen, Hauptsache das Opfer an diese in den Augen der Goi unbekannte Macht, an die fremden Götter, wurde erfüllt. Damit sie hier rasten durften. Althea ahnte es nicht, aber in diesem Moment hatte sie die Glaubenswelt eines ganzen Volkes erforscht.

Sie bäumte sich auf. Wo war das Tor? Die nun nach oben laufenden Seile ließen ihr mehr Raum für Bewegungen. Da, dort hinten erhaschte sie einen Blick auf eine schimmernde Fläche. Dort war es. Sie musste sich befreien und in Sicherheit bringen, dachte sie und zuckte gleich darauf zusammen. Aber was war mit ihrer Tochter? Sollte sie sie zurücklassen? Bevor sie verzweifeln konnte, entstand oben Unruhe unter den Goi. Althea wusste sofort, weshalb. Wie viele Opfer hatten sie hier schon qualvoll ersticken sehen, überwältigt von den dunklen Mächten des Todesringes? Für gewöhnlich ging es schnell, das wusste Althea. Sie hatte es selbst erlebt, damals, als Kind, mit Phelan in der Höhle unter der großen Halle von Gilda.

Althea sah auf und erblickte das Gesicht der Alten, das sich über den Rand beugte. »Lasst mich frei! Dies ist nicht eure Macht, über die ihr hier zu gebieten versucht!«, rief sie auf Ethenisch. Und sie sammelte sich und sandte mit letzter Kraft ein wenig Licht in ihre Augen. Sie mussten unheimlich im Halbdunkel der Höhle leuchten, denn die Alte wich mit einem krächzenden Schrei zurück und mit ihr die übrigen Goi, so plötzlich, dass Althea an ihren Seilen ein Stück emporgerissen wurde.

»Lasst mich frei!«, rief sie noch einmal, doch ihre Worte gingen in einem allgemeinen Aufschrei unter. Es wurde zu Gebrüll, weit entfernt, dann rasch näherkommend. Althea traute ihren Ohren nicht, doch sie sah, wie alle oben herumfuhren. Ihre Seile wurden hastig um Felsvorsprünge geknotet, und dann waren sie fort. Althea war allein, allein in der Dunkelheit. Jeldrik! Er war da. Sie schluchzte auf, es klang unnatürlich laut in der Höhle. Doch dann durchfuhr sie ein eiskalter Schrecken. Was, wenn sie ihre Tochter...? Althea schrie auf. Nein, das würde sie nicht zulassen! Sie musste sie finden und retten, bevor die Goi sie töteten. Noch war es nicht zu spät, alles andere hätte sie gespürt, Kind ihres Lichtes, das die Kleine war. Sie musste sich befreien, aus dieser Höhle raus!

Probeweise bewegte sie die Arme. Da der Zug nach oben ging statt zur Seite, hatte sie etwas Spiel. Der Schmerz war zwar mörderisch, aber es gelang ihr, indem sie an drei Gliedern den Zug erhöhte, ihren rechten Arm zu recken und das Seil etwas weiter oben zu fassen zu bekommen. So zog sie sich ein wenig nach oben, bis ihre Zähne den Knoten erreichten. Sie biss zu, zog und zerrte und brach sich ihren durch die vielen Schläge eh schon gelockerten Schneidezahn heraus, bis es ihr gelang, den Knoten zu lösen. Ihr entfuhr ein leiser Schrei des Triumphs, als sie den Arm endlich befreit hatte, und hob den Kopf. Draußen wurden die Kampfesgeräusche immer lauter. Beeil dich, Thea, beeil dich, Jeldrik, flehte sie und bäumte sich mit schier unendlicher Kraftanstrengung auf, um ihr rechtes Bein zu fassen zu bekommen.

Gerade, als sie es befreit hatte, hörte sie in der Ferne ein Rufen. Fremd und doch so vertraut war es, wie ein ferner Gruß aus der Vergangenheit. ›Thea, Thea, wo bist du? Hörst du mich?‹

›Nathan? Wie ist das möglich? Nathan!!!‹, schrie sie in Gedanken auf. ›Nathan, ich kann dich hören! Ich brauche Hilfe, ich bin in der Höhle, sie wollen mich... aaaahhh!‹ Ein scharfer Schmerz unterbrach abrupt ihre Gedanken. Althea riss den Kopf hoch. Da stand die Alte über ihr, mit vor Hass verzerrtem Gesicht, und legte einen neuen Pfeil in ihren kleinen Bogen ein. Althea sah einen Pfeilschaft aus ihrem Schenkel ragen. ›Sie lassen ihre Beute niemals entkommen, niemals!‹, durchzuckte es sie. ›Nat, beeilt euch, sie wollen mich töten!‹, schrie sie auf und drehte sich fort, sodass der nächste Pfeil fehlging. Sie hatte keine Wahl, musste die Knoten lösen. Mit letzter Kraft bäumte sie sich auf und bekam die linke Fußfessel zu fassen. Sie konzentrierte sich ganz auf ihre Finger, nicht auf die schmerzhaften Stiche, die sie durchfuhren, als die Alte traf und traf und traf. Zu wenig, dachte sie in zunehmender Pein, zu wenig, ihr Licht heilte die Wunde der Geburt, es konnte sich nicht um die Pfeile kümmern. Wie viele konnte ein Mensch vertragen, ohne dass er starb?

›Eine Druidai kann nicht sterben, sie kann nicht!‹, schrie sie innerlich, und es wurde zu einem lauten Schrei, als der Knoten endlich aufging und sie fiel. Ihr linker Arm riss sie fast entzwei. Sie spürte das Gelenk aus der Schulter springen, hörte ein Reißen, und dann riss das letzte Seil ab, in der Hast nur unzureichend festgebunden. Althea fiel und krachte auf die vertrockneten Leibname, die unter ihr zerbarsten wie trocknes Holz. Stöhnend rollte sie herum und kroch vorwärts, zog sich mit ihrem Wesen, ihrem Sein zu der hellen Fläche, mit letzter Kraft. Wieder traf ein Pfeil, in den Rücken diesmal. Althea spürte, wie ihre Kräfte schwanden. Zu viel, zu viel für ihr Licht. Es war nicht schnell genug.

›Thea!‹, hörte sie in ihrem Kopf, doch sie konnte nicht mehr.

›Sag Jeldrik, er soll auf mich warten‹, dachte sie. Mit letzter Kraft hob sie die Hand und schlug sie auf die helle Fläche. ›Ti’Anan!‹, konnte sie noch in Gedanken rufen, dann siegte die Schwäche. Mit einer Hand in der anderen Welt, den geschundenen Körper in dieser, blieb sie im geöffneten Tor liegen. Und die Zeit zwischen den beiden dehnte sich...


Es traf sie mitten im Galopp, kurz bevor sie die Siedlung erreichten. Die vier Freunde, ihr junger Begleiter und die Hälfte aller Saraner sackten plötzlich auf ihren Pferden zusammen, sodass der Heereszug in einem wirren Haufen zum Halten kam.

»Thea... aaahh!«, schrie Nathan auf. Sein Schrei war auch in Gedanken zu hören, und er erhielt Antwort. »I’ ’ann sie ’ören!«, rief er. »Phelan, ’omm schnell!« Seltsamerweise war der Junge in der Lage, sich zu rühren, während alle anderen Erwachsenen nur mit Mühe auf ihren Pferden blieben. Sie alle spürten, wie sie innerlich zerrissen wurden. Trotz der schrecklichen Bilder in seinem Kopf riss Nathan sein Pferd herum und hieb ihm die Hacken in die Flanken. Als die Männer halbwegs wieder zu sich kamen, war von ihm nur noch ein Schatten in der heranbrechenden Dunkelheit zu sehen.

»Bei den Göttern!«

»Verflucht noch mal, Nathan!«

Da kannten sie kein Halten mehr. Der Zorn, die Furcht fuhr in ihre Adern und überwand die lähmende Kraft. Phelan überkam es eiskalt. So, wie Nathan ritt, würde ihn niemand einholen können, bis auf... da schoss auch schon ein Schatten an ihnen vorbei. Kiral war es, stehend in den Halteschlaufen, um die Stöße abzufangen, während er hastig seinen Bogen bereit machte. Seine Frau folgte ihm kurz dahinter, so schnell, dass den Saranern nur das Staunen blieb.

»Hauptmann! Jeldrik! Lasst die Männer ausschwärmen! Nehmt sie von allen Seiten in die Zange. Und denkt dran, es leben dort vielleicht noch saranische Geiseln. Erschlagt sie nicht!«, brüllte Phelan und hetzte hinter seinem Schützling her.

Sie schwärmten aus, die Saraner hielten sich an die Gildaer und ritten in einem großen Bogen auf die Siedlung zu. Phelan trieb seine eh schon erschöpfte Philine bis zum Letzten, damit er Nathan nicht verlor. Ein kleiner Tross blieb bei ihm, diese Männer hatten ganz spezielle Weisungen, sein Leben zu schützen. Schon gellten die ersten Alarmschreie durch die Siedlung, da hatten Kiral und Jorid Nathan eingeholt und zwangen ihn, langsamer zu reiten, bis Phelan und die Verstärkung heran waren.

»Mach das nie wieder!«, brüllte Phelan seinen Neffen an und preschte voran. Es galt, keine Zeit zu verlieren, der Überraschungsmoment war schon fast vorbei.

Es ging alles so schnell. Bald waren sie in ein derartiges Kampfgetümmel verwickelt, dass sie ihre Pferde fortjagen mussten. Phelan wusste bald nicht mehr, was er zuerst tun sollte: Nathans Leben schützen, ihn fortbringen oder so schnell wie möglich zu Althea gelangen.

Nathan war es, der die Richtung vorgab. Scheinbar unberührt von dem wüsten Gemetzel zeigte er immer wieder auf eine Felsengruppe, schlängelte sich durch die Kämpfenden hindurch, dass sie Mühe hatten, bei ihm zu bleiben. Plötzlich wurde das Getümmel noch dichter, und mit einem Mal hatte Nathan sein Kurzschwert in der Hand, stach und schlug zu wie alle anderen. Phelan konnte nichts dagegen tun, ihn nicht mehr schützen. Sie kamen von allen Seiten, es wurden immer mehr. Also hörte Phelan auf, nur mit halber Kraft zu kämpfen, weil er die andere Hälfte darauf verwandt hatte, Nathan zu beschützen. Nun erlebten ihn seine Leute zum ersten Mal in einem richtigen Kampf, und es gab nicht nur einen, der wohl bewundert innegehalten hätte, wenn er es denn gekonnt hätte.

Die Goi kämpften mit allem, was sie hatten. Es war, als hätte sich die Erde aufgetan und einen Schwarm wütender Wespen herausgelassen. Frauen und Kinder griffen zu allem, was sich als Waffe eignete, zu Messern, Hacken und Steinen. Für die Saraner war das ein gefundenes Fressen. Während gildaische Kämpfer niemals Frauen und Kinder töteten, kannten sie diesen Ehrenkodex nicht. Jetzt hielt sie nichts mehr. Sie erschlugen alles, was sich bewegte, dunkle Haut hatte und ein Fell trug. Sie wollten Rache üben für die vielen Überfälle, die vielen Toten, denn sie wollten nicht in ein paar Jahren von der nächsten Generation Goi überfallen werden. Selbst den Gildaern blieb bald keine Wahl mehr, wollten sie überleben. Sie waren in der Unterzahl und mussten sich mit aller Härte zur Wehr setzen, sonst wären sie untergegangen.

Ein weiterer Umstand verhalf ihnen zum Vorteil. Die schweren Streitäxte der Goi waren in der engen Siedlung eher hinderlich, sodass die Gildaer und Saraner ihnen überlegen waren und langsam aber sicher die Oberhand gewannen.

Phelan hatte Mühe, Nathan zu folgen. Irgendwie schien der Junge zu wissen, woher der nächster Angreifer kommen würde, und wich geschickt aus, bis er vor der Felsengruppe stand und die Stiege zu erklimmen begann. Hier war seltsamerweise niemand mehr. »Nat!«, schrie Phelan. »Warte!« Er stürmte hinter ihm her. Doch sein Schrei blieb ihm im Halse stecken, als er am Ende der Stiege auf Nathan prallte, der geduckt und angriffsbereit stehen geblieben war.

Für Nathan war es, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Die ganze Zeit war er wie im Traum vorwärtsgestürmt, ungeachtet aller Gefahren, und hatte gekämpft, ohne wirklich wahrzunehmen, was um ihn herum vor sich ging. In seinem Kopf hallten Altheas Schreie, bis sie unvermittelt verstummten und einem Rauschen Platz machten, das er nicht einordnen konnte und ihm noch mehr Angst machte als ihre Schreie. Er stürmte die Stiege hinauf und prallte oben angekommen zurück. Vor ihm stand eine grausig anzusehende alte Hexe, den Bogen gespannt und auf seine Brust gerichtet. Ihr Blick bohrte sich förmlich in ihn, aber wenn sie dachte, dass ihm das Angst machte, dann täuschte sie sich. Er fletschte die Zähne genauso wie sie. »Wo ist Thea?«, zischte er.

»Du wirst sie nicht finden«, zischte sie zurück. »Die Götter haben ihr Opfer bekommen.«

Für Nathan war es ein Schock zu begreifen, dass er ihre Sprache verstand und fehlerfrei sprechen konnte. In diesem winzigen Moment erkannte er, dass er nach Hause gekommen war. Seine Heimat, seine Wurzeln. Das war das Schlimmste von allem, die Erkenntnis, dass er hierher gehörte, zu diesen Ungeheuern. Es war sein Volk. Es machte ihn derart zornig, dass er ohne Rücksicht auf die Gefahr auf die Alte zuging. Weder sie noch er bemerkten, dass sich hinter ihm Phelan, Jeldrik und Jorid den Pfad hinaufschoben.

»Sie kann den Göttern nicht geopfert werden, sie ist von ihrer Art!«, schrie er.

»Verräter!«, kreischte die Alte und schoss.

»Nein!« Phelan warf sich vorwärts, erwischte Nathan an seinem Umhang und riss ihn zu Boden. Der Pfeil ging fehl. Hinter ihm zischte ein Schwert heran und fällte die Alte mitten im Versuch, einen zweiten Pfeil einzulegen. Als Phelan sich herumrollte und seine Waffe hob, sah er, dass sie verschwunden war.

Jeldrik und Jorid stürzten an ihm vorbei zum Rand der Grube. »Bei den Göttern!« Jeldriks Fluch ließ Phelan auffahren.

»Thea!«, schluchzte Nathan und kroch zu ihnen.

»Hörst du sie? Kannst du...« Phelan verstummte bei dem Anblick, der sich ihm bot. Unten lag die Alte, inmitten eines Haufens aus vertrockneten Leichen. Dann sah Phelan Onas kaum noch zu erkennende Gestalt. Und dann die Seile. »Oh nein«, flüsterte er.

»I’ ’ann sie ni’t meh’ ’ö’en.« Jetzt weinte Nathan richtig, und er zitterte. »Thea ’at ’esa’t, sie ist in de’ Höhle. Und die da ’at ’esa’t, dass sie Thea ab’eschossen ’at. Das da unten, das ist böse. Ih’ dü’ft da ni’t ’unte’«, schniefte er und fasste nach Phelans und Jeldriks Hand, als wolle er sie zurückhalten.

Doch Jeldrik stand nur da, starrte hinab und war bar aller Empfindungen. Sie alle wussten, was das zu bedeuten hatte. Ein Todesring. Keiner von ihnen konnte da hinunter.

Plötzlich zuckte Nathan zusammen. »Da sind Stimmen, viele Stimmen«, flüsterte er mit weit aufgerissenen Augen. »Sie sind ’anz leise.«

Sie fuhren alle zu ihm herum. »Das Tor ist noch offen?« Alle drei Erwachsenen fielen auf die Knie und beugten sich vor, so weit sie konnten. »Thea! Thea! Bist du da unten?«, schrie Jorid laut.

Ein vielstimmiges Fauchen war die Antwort, dann verstummte es abrupt. »Das To’ ist zu«, sagte Nathan in die nun folgende Stille hinein und zerrte dann plötzlich an Phelans Hand. »Wi’ müssen we’!«

»Was meinst du...?« Phelan stockte. Ein unmerkliches Vibrieren ging durch den Boden. Es wurde stärker, immer stärker, bis sie sich aneinander festhalten mussten. »Verflucht!« Er wusste sofort, was das zu bedeuten hatte. »Zurück! Runter vom Felsen!« Er packte den wie erstarrt stehenden Jeldrik und zerrte ihn mit sich. Jorid fragte nicht lange, sondern folgte ihnen, sie hörte die Furcht in seiner Stimme. »Zurück, zurück!«, rief er Kiral und den anderen Kämpfern entgegen, die eben die Stiege erklimmen wollten. Keinen Moment zu früh kamen sie unten an, da folgte ihnen lautes Getöse und Felsbrocken polterten hinter ihnen her.

»Bei den Göttern, was ist das?«, rief Oren.

»Weg, weg vom Felsen! Er stürzt ein!«, schrie Phelan. Sie brachten sich in sichere Entfernung und blickten sich dann außer Atem um. Von der Felsengruppe war nur noch eine große Staubwolke zu sehen.

Nathan war bleich geworden. »Phelan, was wa’ das?«

Phelan schloss die Augen. »Das war ein Todesring. In der Höhle muss ein Tor gewesen sein.« Er packte Jeldrik bei der Schulter. »Sie muss es geschafft haben, sie muss drüben sein, alles andere hätten wir doch gespürt. Sie haben ihr geholfen.«

Gleich darauf hörte das Zittern auf. Vorsichtig gingen sie wieder auf die Felsen zu, und es tat Phelan in der Seele weh, Nathan voranschicken zu müssen, da er als Einziger einen Ring spüren konnte. Er war noch da, lag jetzt sogar frei und war größer als zuvor, sodass sie nicht mehr an die Felsen herankamen.

Es versetzte Nathan in Todesangst. Bleich und verstört hockte er am Rande des Platzes und zitterte am ganzen Leib, ließ aber niemanden an sich heran, selbst Jorid nicht, die ihn trösten wollte. Die Kämpfer standen stumm und ratlos in sicherer Entfernung und wussten nicht, was sie dazu sagen sollten, dass ihre Anführer die Suche nach Althea so unvermittelt aufgaben. Es war ihnen ein Rätsel.

Die vier Freunde bildeten einen geschlossenen Kreis gegen die anderen und berieten sich leise. Jeldriks Stimme war tonlos, wie gestorben. »Hat sie es geschafft? Sind sie und unsere Kleine in Sicherheit?«

Nathan hob den Kopf, als die leisen Worte zu ihm herüberwehten.

Phelan stieß eine Verwünschung aus. »Wenn eure Kleine drüben zur Welt kommt, dann kann sie nie wieder...«

Er wurde von einem Schrei unterbrochen. »Neeeiiin!« Es klang wie das Jaulen eines gequälten Hundes. Sie brauchten einen Moment, bis sie begriffen, dass es von Nathan gekommen war. Der Junge presste sich die Hände vors Gesicht und krümmte sich zusammen.

Phelan war sofort bei ihm. »Nathan, was ist?«

»Sie ’at es mi’ ’ezei’t. Sie ’at Thea die ’leine we’enommen. Sie wa’ volle’ Blut.«

»Waas?! Du meinst...?!« Jeldrik machte Anstalten, Nathan zu packen, aber Phelan hielt ihn zurück.

»Warte!« Seine Gedanken überschlugen sich. »Du meinst, sie ist noch hier? Theas Tochter ist hier geboren worden?«

Nathan nickte zögernd und schniefte gleich wieder los. »Sie ’at es mi’ ’ezei’t. Ich wusste ni’t, dass das Theas... dass Thea...« Er schlug die Hände vor das Gesicht und lehnte sich an Phelan, so sehr schämte er sich seiner Tränen.

Phelan warf Jeldrik einen warnenden Blick zu, ja nichts zu sagen, so sehr es ihn auch drängte, mehr zu erfahren. »Nat, hör mir zu. Gewiss ist es für dich nicht leicht zu verstehen, was du gesehen hast, und niemand macht dir einen Vorwurf, dass du es nicht verstanden hast. Aber hörst du, es gibt es noch Hoffnung. Thea ist in Sicherheit, wir glauben fest daran. Ich werde dir auch bald erklären, warum. Aber vielleicht... vielleicht kannst du uns sagen, wo die Kleine ist? So, wie du immer Dinge findest, die verloren gegangen sind?«

›Oh bitte, lass sie nicht tot sein‹, flehte er innerlich.

Nathan richtete sich auf und ließ langsam die Hände sinken. Phelan nickte ihm aufmunternd zu, alle anderen Regungen mit Macht verbergend. »Ist ’ut. I’ ma’s.«

»Bitte«, grollte Jeldrik, und Nathan zuckte zusammen. »Wenn sie noch lebt...«

»I’ ve’su’s«, stammelte der Junge und schloss die Augen. Er stand auf und machte einen Schritt zurück, drehte sich um und ging langsam auf die Hütten zu, wie im Schlaf. Phelan dirigierte die Männer, die ihn schon aufhalten wollten, in einen weiten Halbkreis um ihn herum und bedeutete ihnen, den Jungen zu schützen. Langsam gingen sie hinter ihm her, einen gespannten Bogen in der Hand, sollte ihm irgendwoher noch Gefahr drohen. Aber niemand war mehr dort.

»Wohin will er denn?«, fragte Jeldrik voller Ungeduld.

»Schscht!«, machte Phelan.

Nathan trat zielsicheren Schrittes zu der einzigen Hütte, welche die Kämpfe intakt überstanden hatte, wohl, weil sie so grausig aussah mit den vielen von Fackeln beleuchteten Totenschädeln, die an der Außenseite befestigt waren. Er zögerte kurz.

»Nat, lass mich erst nachsehen«, sagte Phelan und wollte ihn zurückziehen.

»Nein! I’ muss da allein ’ein. Bitte, Phelan. I’ muss!«

»Du bringst mich noch einmal um den Verstand!«, fluchte Phelan unterdrückt und trat dann beiseite. Wenn Currann davon erfuhr, würde er ihn vierteilen lassen, soviel war sicher.

Leise schlüpfte Nathan hinein. Dass er womöglich in eine Falle lief, war ihm egal. Er wusste nur, dass er es allein tun musste.

Nur dank der vielen Übungen, die sein Vater und sein Onkel mit ihm gemacht hatten, entging er der Speerspitze. Sie sauste aus dem Halbdunkel auf ihn zu und verfehlte ihn nur knapp. Halb blind von den Fackeln draußen sah er, wie Schatten in Bewegung gerieten. Kreischend stürzte sich ein Wesen auf ihn, mit Klauen und Zähnen. Nathan schrie auf und warf sich zur Seite. Im Fallen packte er den Speer und verpasste der Gestalt einen harten Stoß, sodass sie an die gegenüberliegende Wand flog. Nathan war von der Wirkung seines Stoßes wirklich überrascht. Sie war klein, kleiner als er.

»Niemand darf hier herein!«, fauchte sie und wollte sich wieder auf ihn stürzen. Aber Nathan überwand seine Überraschung und durchbohrte mit der Speerspitze ihr Fell und spießte sie damit an der löchrigen Hüttenwand fest.

»Ich schon!«, fauchte er zurück. Seine Augen hatten sich an die Dämmerung in der Hütte gewöhnt, und er erkannte ein Mädchen, etwa so alt wie er, und genauso verlaust und verdreckt wie die Alte. »Wo ist sie? Wo ist die Kleine?« Es gelang ihm mühelos, sie dort an der Wand zappeln zu lassen, und ein Teil von ihm freute sich diebisch, wie sie ihn anfauchte und um sich trat, ohne dass sie loskam.

»Nat!« Phelan stürmte mit gezücktem Schwert herein.

Angesichts der blanken Waffe brach das Mädchen in schrilles Geschrei aus. »Frevel, Frevel!«

»Was sagt sie? Du verstehst das doch, Nat, oder?«

Nathan ließ zu, dass Phelan den Speer übernahm. »Oh ja! Aber der Fluch gilt nicht für uns, denn wir sind Königssöhne!«, rief er in der Sprache der Goi. Woher er das wusste, konnte er nicht sagen, nur, dass es einer Erinnerung gleich in ihm hochkam. »Du darfst uns nicht anrühren. Und jetzt sag mir, wo ist die Kleine?«

Sie zischte nur böse und spuckte ihn an.

»Nat!«

»Sie will es ni’t sa’en. Schaff sie ’aus, Phelan, bitte. Sie len’t mi’ ab.«

Das tat Phelan nur allzu gerne, nicht aber ohne vorher den Raum gründlich abgesucht zu haben. Noch einmal würde er seine Pflicht Nathan gegenüber nicht vernachlässigen. Es war niemand mehr dort. »Bleib draußen«, sagte er zu Jeldrik, als er das Mädchen zu den anderen Kindern brachte.

»Bei den Göttern!« Jeldrik war am Ende seiner Duldsamkeit angelangt, und nur mit vereinten Kräften gelang es ihnen, ihn zurückzuhalten.

Die Geräusche vor der Hütte erreichten Nathan nicht. Er hockte sich auf den Boden und konzentrierte sich. Gleich darauf spürte er die deutliche Anwesenheit eines Lebewesens. Eines friedlich schlummernden Lebewesens, wie er in einer abgedeckten Grube am hinteren Ende der Hütte herausfand. Sie hatten die Kleine in weiche Felle gewickelt. Nathan hob sie vorsichtig heraus, als sei sie ein zerbrechlicher Gegenstand, und schlug die Felle auseinander. Sie war gewaschen und die Nabelschnur entfernt, sie hing ihr wie ein Amulett um den Hals. Der Nabel war bereits verheilt. Nathan wusste nicht viel über neugeborene Kinder, aber er hatte all seine jüngeren Geschwister kurz nach der Geburt gesehen und ahnte, was das zu bedeuten hatte.

Durch die Berührung zuckte sie zusammen und schlug die Augen auf. Aus eisblauen, klaren Augen sah sie zu ihm auf. ›Wie wunderschön sie ist‹, dachte Nathan und raunte ihr zu: »Du bist wie deine Mutter, wie Thea. Wie du wohl heißen solltest?«

›Faye‹, hallte es in seinem Kopf wider. Ob es von der Kleinen kam oder aus anderer Quelle, das vermochte er nicht zu sagen. Tief angerührt drückte Nathan sie an sich und blinzelte die unwillkürlich wieder aufsteigenden Tränen fort. »Kleine Faye. Ich bringe dich zu deinem Vater. Er wartet schon auf dich.«

Es war totenstill in der Siedlung. Selbst die wenigen gefangenen Goi, kleine Kinder zumeist, hielten den Atem an, als Jeldrik seine neugeborene Tochter auf den Arm nahm und ein paar Schritte aus der Siedlung hinauslief, um seinen aufgewühlten Gefühlen einen Moment freien Lauf lassen zu können.

»Was machen wir nur ohne sie, kleine Fee?«, flüsterte er hilflos und wischte sich verstohlen die Tränen mit der freien Hand ab. Seine Tochter gluckste leise. Jeldrik sah sprachlos auf sie herab, als sie ihm ein strahlendes Lächeln schenkte, und eine so überwältigende Woge aus Liebe und Verzweiflung stieg in ihm auf, dass er am liebsten den Kopf zurückgeworfen und geheult hätte wie ein Wolf in der Nacht.

Plötzlich fand er sich von seiner Familie und seinen Freunden umgeben. Phelan, Jorid und Kiral bildeten einen geschlossenen Kreis mit ihm, Nathan in ihrer Mitte, und hielten ihn fest. Jeldrik atmete tief durch. Er war nicht allein. Und Thea war es auch nicht. Wo immer sie war, sie war bei ihm und er bei ihr.

Nathan legte sein Gesicht an Fayes kleine Wange. »Sie weiß, dass Thea no’ lebt. Sie ist wie sie. Sieh ’er«, sagte er zu Jeldrik und zeigte ihm den bereits verheilten Bauchnabel. Dann sah Nathan zu ihm auf. »Sie ’at ’esa’t, du sollst auf sie wa’ten. Sie wi’d zu’ü’ommen.«

»Thea wird es schaffen, sie wird einen Weg zurückfinden«, sagte Phelan eindringlich und strich seiner kleinen Nichte sanft über die wirren roten Haare. »Und Faye weiß es auch.«

Als hätte Faye auch etwas dazu zu sagen, begann sie unvermittelt zu krähen. Jorid streckte die Arme aus. »Gib sie mir, Bruder. Ich habe Jamal zwar schon fast abgestillt, aber für sie reicht es noch allemal.«

Nur widerwillig ließ Jeldrik sie los und beobachtete voller Eifersucht, wie Jorid seine kleine Tochter anlegte und leise zärtlich auf sie einsprach. Die Wut, kurzzeitig von seinen Gefühlen verdrängt, schoss wieder in ihm hoch. Jeldrik hätte die Wände hochgehen mögen, stattdessen jedoch grollte er: »Gibt es Gefangene? Wenn ja, dann tötet sie alle!«

»Es sind nur Kinder«, widersprach Phelan.

»Pah!«, knurrte Kiral. »Ihr solltet es tun, sonst werden sie irgendwann wieder zu den Waffen greifen. Nein, Jeldrik hat recht. Entweder ihr tötet sie, oder ihr nehmt sie als Sklaven mit.«

Lautes Geschrei unterbrach ihre Überlegungen, gefolgt von einem wahnsinnig zornigen Gebrüll. »Seht!« Phelan reckte sich, um an Jeldriks breitem Rücken vorbei sehen zu können. Alle drehten sich um. »Sie haben einen von ihnen lebend gefangen.« Sie rannten zu der Gruppe Saraner, die eine dunkle Gestalt an langen Seilen zwischen sich herzerrten und sich einen Spaß daraus machten, ihn mit harten Stößen zu Boden zu schicken und zu verhöhnen. Die Gildaer standen mit verschränkten Armen und missbilligender Miene dabei, griffen aber nicht ein.

»Was ist hier los? Wo kommt der her?«, rief Phelan.

Einer von Orens Wächtern versetzte dem Gefangenen einen harten Tritt in die Kniekehlen, sodass er auf allen vieren landete. Noch ein Tritt und ein Zug an den Seilen, und der Gefangene lag mit dem Gesicht im Staub. Oren selbst hockte sich neben ihn und packte ihn mit angewiderter Miene beim verlausten Schopf. »Wir wollen, dass ihr ihn euch anseht. Oder vielmehr du, Junge. Komm her.« Oren zerrte dabei den Kopf hoch, sodass sie dem Gefangenen ins Gesicht sehen konnten. Die schwarze Farbe war verschmiert von Schweiß und Blut, aber dennoch...

»Verflucht noch eins!«, stieß Phelan leise hervor und legte Nathan beschützend den Arm um die Schultern.

Der Junge stand still. Alle standen still, wie gebannt zwischen Nathans Gesicht und dem des Gois hin- und hersehend. Trotz des Schmutzes, trotz des Altersunterschiedes, die Ähnlichkeit war unverkennbar. Nathan und ihr Feind waren einander wie aus dem Gesicht geschnitten.

»Wir haben uns gedacht, du möchtest vielleicht entscheiden, was aus ihm werden soll«, sagte Oren zu Nathan. Damit offenbarte er die ganze Härte der saranischen Männerwelt.

Es löste lautstarken Protest unter den Gildaern aus, und Jorid rief: »Seid ihr verrückt geworden?! Das ist noch nichts für ihn!« Ihre Worte erschrecken Faye, sie brach in lautes Geheul aus. Jorid brachte sie fort, und Phelan wollte seinen Neffen ein Stück zurückziehen, aber dieser machte sich von ihm los.

Nathan wusste nicht, was ihn trieb. Er wusste nur, dass er es zu Ende bringen musste, wollte er nicht als halber Mensch nach Hause zurückkehren und die Frage seiner Herkunft ungelöst lassen. Langsam und ohne dass er es bewusst wahrgenommen hätte, zog er sein Schwert und hockte sich vor den Fremden.

Der massige Goi hörte auf, sich zu wehren. Jedem anderen hätte diese grausame Fratze eines Menschen eine Reaktion entlockt, nicht jedoch Nathan. Stumm und mit seinen bohrenden, unergründlichen Augen sah er den Goi an, als würden zwischen ihnen lautlose Worte hin und her fliegen.

Was auch so war. Plötzlich presste sich Nathan die Hände an die Schläfen und keuchte auf. Er wurde überflutet von Bildern, so grausam und mächtig, dass er fast das Bewusstsein verlor.

Der Goi zischte böse: »Du kleiner Bastard! Du bist es nicht wert, das Blut unseres Volkes in dir zu haben. Mein Blut! Du hast sie hergeführt! Verflucht mögest du sein für deine Tat. Mögest du niemals einen Platz finden, weder hier noch bei denen noch im Jenseits!«

Nathan schrie auf. »Ich habe einen Platz, und ich habe eine Familie. Sie lasten mir nicht an, wer ich bin. Was ich bin!« Die letzten Worte spie er dem Feind ins Gesicht, und in ihnen lagen sein ganzer Zorn und die Verachtung über jede Kränkung, über jeden schiefen Blick, die ihm jemals in seinem kurzen Leben zuteilgeworden waren. »Ich werde dafür sorgen, dass ihr ihnen nie wieder etwas antun könnt!« Nathan stand auf und sah auf den Goi, der sein leiblicher Vater war, herab. »Ihr habt euch zu weit vorgewagt, denn ihr habt euch mit dem König von Gilda angelegt. Meinem Vater! Denn das ist er, ganz egal, was du getan hast.« Nathan sah zu Oren auf, und seine Augen glommen derart, dass nicht nur Oren sich unwillkürlich straffte. »Stellt ihn auf die Füße.«

Dann hob er sein Schwert. »Das ist für das, was du meiner Mutter angetan hast. Und mir. Und allen anderen!« Und er stieß zu.


»Bei den Göttern, Junge, in ein paar Jahren möchte ich nicht zu deinen Gegnern gehören!« So und so ähnlich verabschiedeten sich die saranischen Krieger von Nathan, als sie beim Abzweig in die saranischen Hochtäler angekommen waren. Jeder schlug ihm auf die Schulter, es wirkte fast wie ein Ritual, das Glück bringen sollte.

Nathan ließ es mit unheimlicher Ruhe über sich ergehen. Er spürte die Blicke der anderen im Rücken, der gildaischen Soldaten, seines Onkels, Kirals und Jorids. Seit seiner wohl längsten Rede hatte er kein Wort mehr gesprochen. Niemand hatte seine Tränen gesehen, die er nachts heimlich neben Faye vergossen hatte, niemand ahnte, wie sehr ihn die vergangenen Ereignisse innerlich verfolgten und ihm schlaflose Nächte bereiteten. Aber er hatte auch so etwas wie seinen Frieden mit seiner Abstammung gemacht. Das hatte er für seine Mutter getan, für ihre Ehre. Er ahnte aber auch, dass er mit seiner Tat noch unheimlicher für die Gildaer geworden war, doch das war ihm egal. In diesen Tagen war er erwachsen geworden, unwiderruflich.

Sein leiblicher Vater, das Ungeheuer, war jetzt ohne Kleidung und entmannt und zu Fuß unterwegs ins Tiefland, aneinandergekettet mit den gefangenen Kindern, allesamt Mädchen. Mit schlafwandlerischer Sicherheit hatte Nathan genau das Mittel gefunden, das den Goi am meisten das Gesicht verlieren ließ. Wie sagte Oren doch, der Tod wäre ein viel zu großes Geschenk für ihren Gegner. Die gefangenen Jungen jedoch traten den Weg in die Sklaverei an. Sie würden im Heer der saranischen Sklaven aufgehen oder in ferne Länder verkauft werden.

Ein paar Tage noch waren sie in dem Lager geblieben und hatten nach einer Möglichkeit gesucht, das Einfallstor gegen die Goi zu sichern. Schließlich hatten sie den Fluss gestaut und in eine andere Bahn gelenkt und so die einzige Aufstiegsmöglichkeit unwiderruflich verschlossen. Im kommenden Frühjahr würde Phelan eine Truppe entsenden, welche dieses Tal für die Gildaer in Besitz nahm und sicherte. Die Saraner überließen ihnen dieses Territorium nur allzu gerne. Sie waren an der Bergwelt nicht interessiert, denn es gab kein Holz, und sie waren damit zufrieden, dass jetzt wieder Ruhe an ihrer östlichen Grenze einkehrte.

Schweren Herzens nahmen die vier Freunde Abschied voneinander. Phelan hielt seine kleine Nichte eine ganze Weile an sich gedrückt, als wolle er sie nie wieder loslassen. »Im kommenden Frühjahr besuche ich euch, sobald ich die Männer hergebracht habe. Ich muss doch sehen, wie die Kleine wächst«, scherzte er, aber es klang hohl, und niemandem entgingen die Tränen in seinen Augen.

Jorid nahm sie Phelan ab, küsste sie auf die Stirn und übergab sie dann ihrem Bruder. »Ich mag sie gar nicht loslassen. Reitet nur zu, sie wird bald Hunger bekommen und den ganzen Wald zusammenschreien. Heute Abend sollte sie bei einer Frau sein.«

Phelan umarmte seinen Freund samt seiner Tochter vorsichtig. »Denk dran, sie wird zurückkommen. Es mag eine Zeit dauern, denn die Zeit drüben läuft langsam, und wer weiß, wie schwer verletzt sie ist. Aber die Feen werden ihr helfen.« Phelan schloss kurz die Augen, als wieder ihrer aller Befürchtung in ihm hochkam. Würden sie Althea gehen lassen? Nun, da sie Nachkommen hatte? Oder von ihr den Weg aller Auserwählten fordern? Phelan schüttelte unwillig den Kopf, nickte Jeldrik noch einmal kurz zu und saß auf. »Reiten wir! Auf nach Hause!«


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Trägerin des Lichts - Vererben

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