Читать книгу Trägerin des Lichts - Vererben - Lydie Man - Страница 12
Kapitel 6
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»Faye, nun komm endlich, du sollst ins Bett gehen, sagt Großmutter!« Kjell war furchtbar genervt von der Sturheit seiner kleinen Schwester, die partout nicht hören wollte. Den ganzen Tag schon hockte sie am Rande des Fürstensitzes auf einem Weidezaun und sah auf die Sümpfe hinaus, wie sie es so oft in letzter Zeit getan hatte.
Kjell war ernsthaft erbost darüber. Zum einen, weil sie und Bjarne ihm seit Wochen etwas verschwiegen, was mit Sicherheit mit dem geheimen Ort in den Sümpfen zu tun hatte, zum anderen, weil er unbedingt in die große Halle zurück wollte, weil dort eine ernsthafte Verhandlung im Gang war. Eine Verhandlung, die über die Zukunft seiner Familie entscheiden sollte. Bei dem Gedanken daran wurde ihm speiübel, und der Zorn überkam ihn, der Zorn auf seinen Vater. Weil er so schwach gewesen war. Oder so dumm. Oder... es war der ganze Zorn und die Enttäuschung eines dreizehnjährigen Heranwachsenden, der die Welt nicht mehr verstand. Seit sein Onkel Phelan und seine Tante Noemi im letzten Jahr wieder nach Gilda abgereist waren, war alles schief gelaufen. Seitdem hatten sie nur noch Streit und Zank und Unfrieden im Haus, und sein Vater, sein bedingungslos verehrter Vater, hatte seine Familie verraten.
»Ach, dann bleib doch, bis du festgewachsen bist!«, grollte er unterdrückt und kehrte seiner Schwester den Rücken. Sie reagierte nicht einmal, hatte es vermutlich gar nicht gehört. Zuweilen lebte sie in ihrer eigenen Welt und kam nur ungern daraus hervor. Manchmal beneidete er sie darum.
Missmutig stapfte er zur großen Halle zurück und ging dabei einen großen Bogen, damit er seiner Großmutter Sylja nicht in die Arme lief. Der wollte er nicht erklären, warum Faye schon wieder nicht dort war, wo sie hingehörte. Auf halbem Wege jedoch kam ihm eine wohlbekannte Gestalt den Hügel hinauf entgegen. »Wo ist Faye?«, rief Bjarne ohne Gruß.
»Na wo schon?«, gab Kjell zurück und rollte die Augen. Als wenn sein jüngerer Bruder das nicht wüsste. Abfällig betrachtete er ihn, wie er dort in der Dämmerung stand und unruhig in Richtung der Sümpfe spähte. Dreckstarrende Kleidung, selbst für saranische Verhältnisse, sein Umhang schleifte hinter ihm her, und er hatte einen verschmierten Blutfleck im Gesicht. Kjell verstand seinen jüngeren Bruder ebenso wenig wie seine Schwester. Regnar war heute von der langen Winterreise zurückgekehrt, wie üblich als letzter aller Winterfahrer und zum Höhepunkt des Frühjahrsfestes, das sich so plötzlich in einen Albtraum verwandelt hatte. Bjarne war sofort in den Hafen gerannt, um beim Ausladen zu helfen, und hatte sich wie immer eine blutige Nase von Regnars Männern eingefangen. Es war Kjell unbegreiflich, was ihn immer wieder dorthin zog. Vermutlich hatte das Geheimnis in den Sümpfen damit zu tun.
Bei dem Gedanken wurde er wieder wütend. »Sieh nach Faye!«, blaffte er. »Ich will in die Halle, bevor sie anfangen.«
»Und dir das auch noch anschauen?!«, rief Bjarne außer sich. »Ich will das nicht sehen! Wenn Vater gezwungen wird, mit ihr den Bund einzugehen, dann gehe ich zu Regnar aufs Schiff. Und Faye auch.«
»Ein kleines Mädchen auf Regnars Schiff? Du spinnst wohl! Dann kannst du sie ja gleich den Huren anbieten. Nein, wenn Vater gezwungen wird, dann werde ich...« Kjell verstummte.
»Wirst du was?«, fragte Bjarne lauernd, weil er genau wusste, dass Kjell eben nicht wusste, was er dann tun sollte.
»Ach, lass mich in Ruhe!«, fauchte Kjell und ließ seinen Bruder stehen.
»Feigling!«, rief Bjarne ihm hinterher und streckte ihm die Zunge heraus. So war es schon immer gewesen. Sein Bruder mochte sich nicht entscheiden, zu wem er stand. Ständig versuchte er allen schön zu tun, ihrem Vater, Roar, Sylja, selbst ihrem Onkel Phelan. Ach, der kluge Kjell, so fleißig, und was er alles kann! Es hing Bjarne zum Halse raus und machte ihn rebellisch. So ein Streber! Er hatte sich längst seine eigenen Freunde gesucht, dort, wo Kjell niemals auch nur seine hochnäsige Nase hinstecken würde. Es war ihm genug, und dort war er anerkannt, weil er stark war, und ja, auch klüger als alle anderen. Nur um Fayes willen verbrachte er nicht den ganzen Tag bei seinen Freunden im Hafen, sondern kümmerte sich auch um sie. Weil sie von so vielen schief angeschaut wurde, weil sie hinter vorgehaltener Hand für nicht ganz normal gehalten wurde. Selbst von Kjell, selbst von Sylja. Sie war wie ihre Mutter, nur nicht mit deren Macht. Noch nicht.
Was keiner der anderen wusste und Kjell allenfalls ahnte, war, dass sie regelmäßig zu dem geheimen Ort in den Sümpfen zurückgekehrt waren, dort Kleidung und Nahrung und den Heilerkorb ihrer Mutter frisch bestückt und sich immer weiter in die Höhle vorgewagt hatten. Regnar hatte es streng verboten, und als Schutz hatte er das Tor verbarrikadiert, mit derart schweren Felsbrocken, dass Bjarne erst jetzt mit seinen elf Jahren kräftig genug gewesen war, einen nach dem anderen fortzuräumen. Er mochte nicht daran denken, was geschah, wenn Regnar das entdeckte, und er mochte auch nicht an den Tag zurückdenken, als er und Faye das erste Mal vor dem Tor gestanden hatten und sie in ihrer Arglosigkeit die Hand darauf gelegt hatte. Noch heute verfolgte sie beide diese unheimliche, summende Wolke in ihren Träumen, wie sie direkt in ihre Gedanken einzudringen und sie zu lähmen schien. Nur mit knapper Not waren sie entkommen, und sie ahnten, dass ihre Mutter in ernsthafter Gefahr schwebte. Sie war in der Nähe gewesen, wollte ihr Versprechen endlich wahr machen. Bjarne hoffte es so sehr, und Fayes seit Tagen andauernde Wacht bestärkte ihn in seiner Hoffnung. Hoffentlich kam ihre Mutter noch rechtzeitig, bevor es zu spät war. Bevor... nicht daran denken!
Er rannte einfach los, als könnte er den Gedanken abhängen. Dabei war das so zwecklos, wie vor einer lästigen Erkältung davonzulaufen. Gleich darauf stemmte er sich neben Faye auf den Zaun, der unter seinem Gewicht bedenklich knackte. Bjarne war der stämmigere der beiden Brüder, er hatte eher Altheas Gestalt geerbt anstatt die langen, schlanken Glieder seines Vaters wie Kjell. Das kümmerte ihn nicht. Er hatte schon lange aufgegeben, mit seinem Bruder mithalten zu wollen.
»Und?«, fragte er leise.
Faye wandte langsam den Kopf, als bemerkte sie ihn erst jetzt und wache aus einem tiefen Traum auf. Ihr Blick ging durch ihn hindurch, als sähe sie in unbestimmte Fernen. Es waren solche Verhaltensweisen wie diese, welche der Sechsjährigen einen merkwürdigen Ruf eingetragen hatten. Das Traumkind. Sie stammte von den Feen. So oder so ähnlich sprachen die Leute von ihr. Die Wohlwollenderen.
»Sie kommt«, antwortete Faye mit ihrer leisen, hohen Stimme, die ebenfalls nicht in diese Welt zu passen schien, und sprang vom Zaun. Sie drehte sich um und hielt Bjarne die Hand hin. Er ließ sich von ihr widerstandslos mitziehen. Was Faye auch tat, wohin sie auch wollte, es hatte alles seinen Zweck. Seit sie ganz klein gewesen war, fand sie verletzte Vögel, Kinder in Not, eine gestürzte alte Frau... er hatte längst gelernt, ihr zu vertrauen.
Langsam trottete er hinter ihr her auf dem Pfad in die Sümpfe hinunter. Es wurde dunkel, der Pfad war nur noch als grauer Schatten vor ihnen zu erkennen, und der muffige Geruch des brackigen Wassers schlug ihnen entgegen. Zu Beginn der Sümpfe wandte sich Faye in die Richtung, wo die Leute des Sedats für gewöhnlich mit ihren Booten anlegten. Nun, die Anlegestelle war voller Boote, sie waren zur Versammlung in der großen Halle gekommen. Um über ihren Vater zu richten... rasch verdrängte Bjarne den Gedanken.
Aber Faye beachtete die Boote gar nicht. Sie lief den Pfad weiter, hinein in die Sümpfe, bis es nicht mehr weiter ging. Dort stand sie und starrte, starrte wie schon so oft. Er trat hinter sie, schlang die Arme um sie und legte das Kinn auf ihren Kopf. »Wo kommt sie, kleine Fee?«, fragte er leise.
»Dort.«
Ihre ausgestreckte Hand sah er nicht mehr. »Was ist...?« Die Worte blieben ihm im Halse stecken. Vor ihnen, irgendwo über dem undurchdringlichen Schilf, wurde es hell. Ging dort der Mond auf? Aber nein, der stand doch im Westen! Bjarne schlug auf einmal das Herz bis zum Halse. Eine fast wahnwitzige Hoffnung, nur einen winzigen Moment, schoss in ihm hoch. Was, wenn sie es wirklich war? »Das wird einer der Männer des Sedats sein«, flüsterte er, wie um sich zu beweisen, dass er nicht völlig irre war nach den Ereignissen der letzten Tage.
Faye zuckte zusammen. Sie wand sich aus seinen Armen und machte einen Schritt vorwärts, und noch einen und noch einen, bis sie knietief im Wasser stand. Ein dunkler Schatten schob sich durch das Schilf. Es war der Bug eines kleinen Bootes. »Mama!«
War das Faye oder er selbst gewesen? Verwundert bemerkte Bjarne, dass er nasse Füße hatte. Er war ins Wasser gegangen wie seine Schwester, spähte genauso hoffnungsvoll voraus wie sie. Da ließ er alle Vorbehalte fahren. Mit einem großen Schritt stand er neben ihr, packte sie und drückte sie fest an sich, gerade als ein Licht durch das Schilf zu schimmern begann. Eine Gestalt wurde sichtbar, doch sie war nicht beleuchtet von einer Laterne oder einer Öllampe. Sie selbst leuchtete, die Hände, welche den langen Stock führten, mit dem das Boot gestakt wurde. Ein langes glänzendes Gewand warf das Licht in tausend kleinen Funkeln zurück, sodass die beiden Kinder geblendet die Augen zusammenkneifen mussten. Das Gesicht der Gestalt konnten sie gegen das Licht nicht erkennen, aber das war auch nicht nötig. Leuchtende Hände hatte nur eine.
»Sie ist es, sie ist es wirklich!« Bjarnes Jubelschrei hallte laut durch die Abenddämmerung, und er drückte Fayes Schultern so fest, dass ihr ein Schmerzenslaut entfuhr. Ihr rannen die Tränen herunter, aber nicht vor Schmerz. All ihre Träume, ihr ganzes Dasein hatten auf diesen Moment gewartet. Sie war nicht verrückt, nein, sie war es nicht! Sehr wohl hatte sie mit ihren begabten Sinnen das Gerede hinter ihrem Rücken mitbekommen, was sie noch verschlossener und einzelgängerischer gemacht hatte.
Althea hörte den Schrei, aber auch sie konnte über ihre leuchtenden Hände hinaus fast nichts sehen. Wahrscheinlich hatte sie jemanden erschreckt, kein Wunder. Deshalb stakte sie ruhig weiter, bis sich ihr Boot auf den Uferstreifen hinauf schob, und nahm dann ihr Licht zurück. Doch kaum hatten sich ihre Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt, erblickte sie die beiden Gestalten halb im Wasser. Ein kleines Mädchen und einen größeren stämmigen Jungen. Ihr Herz machte einen Satz. Sie wusste sofort, wer das war, obwohl es unmöglich war, dies in der Dunkelheit zu erkennen.
»Faye?« Es war nur ein Flüstern, aber es genügte. Die Kleine rannte los, platschte durchs Wasser auf sie zu, und Althea brachte fast das Boot zum Kentern, so schnell sprang sie heraus.
Was war das für ein Gefühl, ihre Tochter das erste Mal in den Armen zu halten? Jede andere Mutter hätte vielleicht geweint, ihre Tochter mit Koseworten überschüttet, ihre zarte Haut gespürt, ihren Duft einzufangen versucht. Nicht so Althea. Sie spürte mit ganz anderen Sinnen, hielt Fayes roten Lockenschopf mit leuchtenden Händen umfangen. Sicherlich, die anderen Dinge nahm sie auch wahr, mehr unbewusst jedoch. Sie spürte mit ihrem Licht und erhielt Antwort einer gleichgesinnten Seele.
»Du hast es geöffnet, meine kleine Fee, du bist wie ich.« Sie lösten sich voneinander, sahen einander an, und Althea erkannte in den Augen ihrer Tochter neben der gleichen Freude, die auch sie empfand, all diese Gefühle, die sie selbst auch seit ihrer Kindheit begleitet hatten. Dass kaum jemand sie verstand, die Einsamkeit, die Unsicherheit. Althea drückte sie fest an sich. »Mein armer Schatz, wie schwer hast du es gehabt! Aber jetzt bin ich ja da.«
Altheas Blick fiel hinter Faye auf die zweite Gestalt, die immer noch abwartend im Wasser stand. Sie streckte die Hand aus. »Bjarne. Komm her.« Endlich setzte er sich in Bewegung und kam zu ihr. Nur ganz kurz ließ er es zu, dass sie ihn umarmte, dann wand er sich wieder heraus.
»Mutter.« Er schluckte, wusste nichts zu sagen. Da hatte er all die Jahre gewartet und gehofft, und jetzt kam sie ihm vor wie eine Fremde. Und er behandelte sie auch noch so!
»Ist schon gut. Ich weiß.« Althea hätte heulen mögen angesichts der widerstreitenden Gefühle in seinem Gesicht. Wie groß er geworden war und wie stark! »Lassen wir uns etwas Zeit, hmm?«, lächelte sie und drückte Faye an sich, die im Gegensatz zu ihrem Bruder keine Vorbehalte kannte und sich glücklich an ihre Mutter schmiegte.
Da erhellte ein erleichtertes Lächeln Bjarnes angespannte Züge. Er fiel ihr um den Hals wie einst der kleine Junge, der Trost bei ihr gesucht hatte. Althea lachte glücklich auf und drückte ihn ganz fest an sich. »Himmel, du bist ja schon fast so groß wie ich. Und so stark wie Regnar, was?«
»Jaa, Regnar hat das Tor mit Felsen zugemacht, und Bani musste sie alle wieder wegtragen, damit wir hinkonnten«, piepste Faye. Sie war stolz auf ihren starken Bruder, das hörte Althea mit jedem Wort.
»Oh oh, hoffentlich hat er euch nicht erwischt!«, lachte Althea, obschon ihr wieder die Tränen kamen. »Ich bin so froh, dass ihr es gewagt habt. Ohne euch hätte ich das Tor niemals so schnell gefunden. Es war ganz schön knapp. Die Wächter hätten euch fast gehabt.«
»Wächter waren das? So wie der kleine Wächter, von dem uns Tante Emi erzählt hat?« Faye schaute mit großen Augen zu ihr auf.
»Moment mal, Noemi? Habt ihr sie in Gilda besucht? Oder war sie hier?«
»Sie war hier, mit Onkel Phelan und ihren Mädchen«, sagte Bjarne, »bis letzten Herbst, da sind sie nach Gilda zurückgegangen. Sie kamen, als Rike nach Branndar ging, um Belan zu heiraten und Vater niemanden mehr hatte...« Er verstummte und musste schlucken.
»Was ist?«, fragte Althea, beunruhigt über den plötzlich so ängstlichen Gesichtsausdruck ihrer beiden Kinder, der irgendwie nicht zu ihnen zu passen schien.
»Papa... Papa hat... hat...« Faye konnte nicht weitersprechen. Sie schüttelte heftig den Kopf, dass alle Locken nur so flogen, und brach in Tränen aus.
Erschrocken drückte Althea sie an sich. »Was hat euer Vater?«
Bjarne machte sich von ihr los. Seine Augen glommen in der Dunkelheit, so zornig war er. »Onkel Phelan und Tante Emi sind im Herbst nach Gilda zurückgegangen, und dann hat Vater eine Frau gesucht, die ihm das Haus führt...«
Althea wurde kalt. ›Oh nein, bitte nicht...‹, dachte sie und schluckte.
»...und eine von denen, die anfragten, war Sigurd, aber die hat er gleich wieder rausgeschmissen und gesagt, dass er lieber eine Goi-Frau zu sich ins Haus holen würde als jemand aus Harcons Clan...«
»...und da ist sie furchtbar böse geworden, Mama, und hat gekreischt. ›Das wird dir noch leidtun, Jeldrik Roarsfalir!‹, hat sie geschrien«, flüsterte Faye an Altheas Schulter.
»Aber Papa hat nur gelacht und hat sie einfach stehen lassen und hat eine alte Witwe ins Haus geholt. Sie ist nett und schimpft fast nie mit uns.«
›Dem Himmel sei Dank!‹, dachte Althea, aber ihre Unruhe blieb. »Warum seht ihr dann so aus, als wäre etwas Schreckliches geschehen?«
»Ist es ja auch«, schniefte Faye und schmiegte sich noch dichter an sie.
»Bjarne, rede endlich! Was ist passiert?«
Ihr Jüngster trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Du musst ganz schnell mitkommen. Sie halten Gericht über Vater, weil er... weil er...«
»Waas?!« Althea war mit zwei schnellen Schritten am Ufer und zog ihre Kinder mit sich. »Was ist geschehen?«
»Es... es gab ein Fest... ich weiß nicht mehr, welches«, schluckte Bjarne, auf einmal verzagt. »Da waren alle Männer furchtbar betrunken und haben sich viele Weiber...«
»Bjarne! Was redest du?!«, fuhr Althea ihn an. Ihr war eiskalt geworden. »Sag schon, was ist mit eurem Vater?«
»Sigurd sagt, dass sie ein Kind von ihm bekommt. Sie will, dass er es anerkennt... Papa hat sich geweigert und das für Unsinn erklärt. Deshalb halten sie Gericht über ihn. Es gibt Zeugen...«
Ein grässliches Schwindelgefühl stieg in Althea auf. Sie wusste, was das bedeutete. Sie wollten, dass Jeldrik seinen Pflichten nachkam und den Bund mit ihr einging. Ihre Freude auf die Heimkehr, ihre Sehnsucht nach dem lang vermissten Gefährten verwandelte sich in Eiseskälte. »Was für Zeugen? Die hat Harcon doch gekauft, da möchte ich wetten.« Ohne dass sie es bewusst bemerkte, hatte sie ihren Heilerkorb geschultert und lief mit ihren Kindern im Arm den Pfad aus den Sümpfen hinaus in Richtung Siedlung.
»Nein!« Bjarne blieb stehen. Seine Stimme bebte nun vor Zorn. »Alle haben gesehen, wie sie aus der großen Halle Arm in Arm weg sind, und wir... wir...«
Althea wandte sich zu ihm um. Sie fühlte, wie Faye in ihrem Arm zitterte. »Sprich weiter, Bjarne«, verlangte sie mit einer ihr selbst unheimlichen Ruhe. »Was habt ihr gesehen?«
»Ich bin in der Nacht aufgewacht, weil es so laut war«, schniefte Faye. »Und da hat Bani nachgesehen. Sie lagen zusammen im Bett und haben... sie waren halt sehr laut.«
Althea musste die Augen schließen. In ihren Ohren rauschte es, so hart schlug ihr Herz, und etwas in ihr zersplitterte. Ihr wurde schwindelig, sie ging in die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. »Nein! Was hast du getan?! Jeldrik! Was hast du nur getan?« Ihre Kraft, die sie die ganze Zeit am Leben gehalten hatte, zerbarst in tausend Scherben. Das war der endgültige Todesstoß. Geschwächt von der kräftezehrenden Zeit in der anderen Welt und dem Übergang, konnte sie dem nichts mehr entgegensetzen. Sie hockte da im Schlamm und zitterte ebenso sehr wie ihre Tochter, die mit ängstlicher Stimme an ihr rüttelte und sie bat, sie anflehte, mit ihnen zu kommen und doch noch alles gut werden zu lassen.
Aber das konnte Althea nicht. Diesen Verrat an ihr, an allem, was sie gemeinsam erlebt hatten, was sie war, konnte sie nicht verzeihen. Niemals!
»Mama, Mama, du musst mitkommen!«, rief Faye. »Sag ihnen... sag ihnen...«
»Ich kann ihnen nichts sagen, kleine Fee, denn die Tatsachen sind unumstößlich.« Althea holte tief Luft und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre ganze Zukunft lag vor ihr wie ein böser Traum.
»Aber... aber wenn du wieder da bist, kann er doch nicht den Bund mit ihr eingehen«, sagte Faye kläglich.
Althea nahm ihre Hand und drückte sie. »Nein, das kann er nicht, solange wir den Unsrigen nicht trennen. Aber was nützt das? Er hat mich verraten, er hat euch verraten.« So hart klangen die Worte aus ihrem Mund, dass Faye erschrocken zusammenzuckte.
Bjarne jedoch nickte grimmig. »Das hat er getan. Was wirst du jetzt tun?«
»Ich kann nicht in Saran bleiben.« Es kam einfach so aus Althea heraus. Instinktiv entschied ihr Innerstes, und sie wehrte sich nicht dagegen. »Nicht mit diesem Verrat. Ich werde gehen. Und ihr...«
»Wir kommen mit.« Es klang erleichtert, wie Bjarne das sagte, und Faye nickte sofort. Es war keine Frage für sie. Sie wollten nicht mehr bei ihrem Vater bleiben.
»Dann kommt, beeilen wir uns lieber.« Sie stemmte sich hoch, auch wenn ihre Knochen wie aus Stein zu sein schienen. »Bjarne, ist jemand zuhause bei euch?«
»Nein, die sind alle bei der großen Halle. Soll ich unsere Sachen packen?«
»Sie liegen im Stall unter dem großen Strohhaufen«, sagte da Faye. »Ich hab’s heute Morgen getan.«
»Du hast es gewusst?« Staunend sah Althea auf sie herab. Sie näherten sich nun der Siedlung, und mit dem schwachen Licht von dort konnte Althea das erste Mal den Schnitt ihres Gesichts und die Farbe ihrer Augen erkennen. Faye glich ihr fast bis aufs Haar, nur die Augen glänzten in dem unheimlichen Blau ihres Vaters.
»So etwas tut sie ständig. Die Leute denken, sie ist nicht ganz normal.« Es war eine reine Feststellung, und Faye zuckte bei den Worten ihres Bruders auch nicht zusammen.
Althea tat es weh, das zu hören, aber es war ja die Wahrheit. »Sie haben recht, denn wir sind Druidai, kleine Fee. Das macht ihnen Angst. Alles, was sie nicht kennen und nicht einschätzen können, macht ihnen Angst. Das habe ich selbst schon oft erfahren müssen. Aber seht, da sind wirklich eine Menge Leute vor der großen Halle. Lasst mich mein Gesicht verbergen, damit mich nicht gleich jemand erkennt.«
»Mit dem Kleid? Vergiss es!«, sagte Bjarne. »Es ist nicht einmal schmutzig und glitzert wie der Schatz in der Höhle.«
»Stammt es von den Feen?«, fragte Faye ehrfürchtig.
»Oh ja.« Althea holte tief Luft. »Ich wünschte, ich hätte es nicht mitgenommen, sondern in der Hütte gelassen. Ich dachte... nun, dass es eurem Vater vielleicht Freude bereitet. Aber dafür ist es jetzt zu spät.«
»Zieh den anderen Umhang drüber, dann wird es gehen«, sagte Bjarne. Auch die Kinder schlugen die Kapuzen ihrer Umhänge hoch. So gelang es ihnen, unerkannt bis vor die Tore der großen Halle zu gelangen. Niemand schenkte ihnen Beachtung, obwohl es sehr voll war. Nichts liebten die Saraner mehr als Skandale und eine hoch hergehende Verhandlung vor dem Sedat, und selbst jetzt noch schlossen die Letzten lautstarke Wetten über den Ausgang ab, und nicht nur einer rieb sich vor lauter Häme die Hände, dass der hochfahrende Jeldrik Roarsfalir endlich einmal selbst das Nachsehen hatte. Kein Wort über das Schicksal der Kinder, über Althea, die ja als tot galt. Über so etwas machten sich die Saraner keine Gedanken.
›Nicht mein Volk‹, dachte Althea und zwang sich, dies ganz frei von ihren aufgewühlten Gefühlen zu betrachten. Es war nie ihr Volk gewesen. Oh ja, es war Zeit, einen deutlichen Schlussstrich zu ziehen. Sie drückte ihre Kinder fest an sich und schob sich durch die Menge bis vor das Tor. Zutritt zur großen Halle hatten nur die Clansführer und ihre Nachfolger sowie die Schiffsführer. Allen anderen war es streng verboten, und niemand wäre auf den Gedanken gekommen, dem zuwider zu handeln. Deshalb achtete auch niemand auf die drei kleinen Gestalten, die sich unauffällig durch das Tor schoben.
Althea lief ein eine Wand aus Leibern. Die Halle war bis auf den letzten Platz gefüllt und die Luft zum Schneiden dick. Tabakrauch, der Dunst von Met und nicht zuletzt die Ausdünstungen der Anwesenden machten das Atmen schwer. Im Gegensatz zu den Versammlungen, die Althea früher erlebt hatte, war es vergleichsweise ruhig. Alle wollten hören, was vorne gesprochen wurde. Wie sollte sie...?
Da zerrte Bjarne an ihrer Hand. Althea wandte sich zu ihm um und machte einen überraschten Schritt zurück, sodass sie mit dem Rücken gegen das Tor prallte. Regnar. Er stand zuletzt, hinter allen anderen Männern, und ganz allein, selbst in dieser Enge. Seine Raubtiergestalt war geduckt, anspannt wie vor einem Kampf. Noch hatte er sie nicht bemerkt, aber das änderte sich, als Althea Bjarnes Schultern losließ und ihn vorsichtig am Arm berührte. Er fuhr herum, bereit zum Angriff, aber mitten in der Bewegung brach er ab, als sei er gegen eine Wand gelaufen.
›Großvater.‹ Althea benutzte keine Worte, sondern sprach in Gedanken.
›Du bist es?‹ Er hob die Hände, streifte ihre Kapuze zurück und umfasste ihren Kopf. Seltsam ergriffen sah er sie an. Dann stieß er ein leises, verblüfftes Knurren aus. ›Gerade noch rechtzeitig, will ich meinen‹, hallte es in ihrem Kopf.
›Nein, dafür ist es zu spät.‹ Althea umarmte ihn nicht, sah ihn nur an. Derlei Gesten waren nichts für ihn. ›Kannst du dein Schiff abfahrbereit machen?‹
Regnar zog die Augenbrauen hoch, sein Zeichen höchster Überraschung. ›Du willst gehen? Und dem dort vorne kein Ende bereiten?‹ Die Kinder hörten mit großen Augen den Worten, die zwischen ihnen hin und her flogen, zu.
›Hier ist kein Platz mehr für mich. Aber ich werde dem trotzdem ein Ende bereiten, da kannst du sicher sein. Also, wirst du es tun?‹
›Es wartet auf euch im Hafen.‹ Es war für Regnar keine Frage, dass die Kinder sie begleiten würden. Blitzschnell bat Faye ihn noch in Gedanken, ihre Sachen zu holen, und zeigte ihm, wo er sie fand, dann glitt er wie ein Schatten aus der großen Halle.
Althea hatte ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne gewandt. Über die Rücken der großen Saraner hinweg konnte sie nichts erkennen und die Worte weiter vorne nicht verstehen, so hart schlug ihr Herz. Sie machte sich bereit, sich durch die Menge zu schieben, da brüllte vorne jemand voller Wut auf.
»Bezweifelt hier irgendjemand, dass Jeldrik Roarsfalir mit meiner Tochter den Bund eingehen muss?«, dröhnte eine ihr nur allzu bekannte Stimme durch die Halle. Harcon!
Grummelnd erhob sich ein Chor von Stimmen, es schwoll immer weiter an. Althea wusste, jetzt oder nie. »Ja, ich!«, rief sie so laut, wie sie konnte, und noch dazu in ihrem klarsten Temorisch.
Schlagartig wurde es still in der Halle. Alle sahen sich verwundert um, woher diese Stimme gekommen war. Althea streifte sich mit einem Ruck den Umhang ab. Die Wirkung war verheerend. Das Licht der vielen Fackeln und Leuchter brach sich in ihrem Gewand und zudem auf ihrer Haut, auf der immer noch ein wenig der leuchtende Blütenstaub aus der Feenwelt haftete. Geblendet wichen die Männer und Frauen vor der Lichtgestalt zurück, die so plötzlich mitten unter ihnen erschienen war, sodass sich trotz der Enge der Halle eine breite Gasse vor ihr auftat, bis hin zum Kreis der Clansführer.
Althea umfasste die Schultern ihrer Kinder fest und schritt voran. Sie ignorierte die Blicke der Umstehenden, ihre Sinne waren auf zwei Gestalten vorne gerichtet: Die eine, hochgewachsen, mit finsterer Miene und verschränkten Armen, schleuderte wütende Blitze auf die Umstehenden und hatte sie noch nicht wirklich bemerkt. Die andere jedoch, halb hinter Roar stehend und die Hand auf dessen Schulter, spähte mit großen Augen in den Gang. Es war Kjell, ihr Ältester. Althea zwang sich, ihren sehnsüchtigen Blick von seiner Gestalt zu nehmen, beschleunigte ihren Schritt und rief: »Jeldrik kann nicht den Bund mit Sigurd Harconsfarlan eingehen, denn er ist noch mit jemand anderem verbunden...« In diesem Moment gelangte sie in den Kreis der Clansführer und vor den Sedat.
»Mutter!«, entfuhr es Kjell, aber er rührte sich nicht, er wagte es nicht. Zu fremd sah sie aus, und, oh ja, sehr, sehr wütend.
Althea beachtete ihn nicht. Sie ließ ihre beiden jüngeren Kinder los und ging geradewegs auf Jeldrik zu, das Gesicht genauso zornig verzogen wie er. »Mit mir!«, beendete sie den Satz, holte aus und verpasste ihm eine derart harte Ohrfeige, dass er das Gleichgewicht verlor und in die Arme der hinter ihm Stehenden stolperte. Es war Althea egal, dass es ihn der Lächerlichkeit preisgab, ihr Zorn fand sofort ein neues Ziel, ein Ziel, das bei ihrem Anblick schreckerstarrt zurückgewichen war.
Sie ignorierte den Sedat und die anwesenden Clansführer und fletschte die Zähne, als sie sich Harcon und seiner Tochter näherte. »Ich weiß nicht, was ihr mit eurem heimtückischen Spiel beabsichtigt, aber ihr werdet es nicht auf dem Rücken von mir und meinen Kindern austragen!«, fauchte sie und packte zu. Sigurd schrie auf, als Althea sie mit einem harten Stoß ihres Lichtes zu Fall brachte. Grimmig lächelte Althea auf sie herab, denn ihr vager Verdacht wurde sofort bestätigt. »So, schwanger willst du sein, du kleines Miststück? Wie merkwürdig, denn ich spüre kein Leben in dir! Wo kommt denn dann dein Bäuchlein her? Hast du zu viel gegessen?« Blitzschnell hatte sie ihr Messer gezückt und Sigurd das Kleid aufgeschlitzt. Die junge Frau kreischte auf und krümmte sich zusammen, aber es war zu spät. Alle konnten den breiten Stoffstreifen um ihren Bauch herum sehen.
Harcon stand wie erstarrt, und er geriet mächtig ins Schwitzen, denn Altheas Zorn richtete sich jetzt gänzlich auf ihn. »Wolltest du dir ein weiteres Stück von dem großen fetten Kuchen abschneiden, welcher das Vermögen meiner Familie ist? Das war doch dein Plan, nicht wahr?«
»Ich... ich... hatte keine Ahnung!«, rief er. »Ich wollte...«
»Pah!« Althea unterbrach ihn mit einem zornigen Schrei und hob die Arme. »Jetzt, wo ich dich nicht mehr mit genügend Münzen versorgen kann, versuchst du mit Lug und Betrug meiner Familie habhaft zu werden. Ich bedaure, dir jemals die Hand gereicht zu haben, Harcon, und ich werde es niemals wieder tun! Ich verfluche euch beide, euren ganzen Clan, der nichts als Unfrieden und Hader unter den Saranern stiftet. Mögest du, Sigurd, niemals eine Frucht im Leibe tragen und euer Stamm aussterben wie die Ragai und die Goi, deren Leiber nun tief im Süden verfaulen!«
Abrupt kehrte sie ihm den Rücken zu und fand sich auf einmal allein im Kreis der Clansführer. Ihr gegenüber stand Jeldrik, der sich fassungslos aufgerappelt hatte und sie anstarrte, als sei sie ein Geist. »Thea...« Er machte eine Bewegung auf sie zu, hob die Hände.
»Bleib mir vom Leibe!«, fauchte sie, und er zuckte zurück. »Du bist nicht besser als diese beiden dort. Die Versammlung ist beendet!«, rief sie laut, nahm ihre beiden Kinder bei der Hand und rauschte hoch erhobenen Hauptes die Gasse herunter, bis sie vor dem Tor angelangt war, das sich wie von Zauberhand vor ihr öffnete.
Hinter ihr herrschte Totenstille. Aber nur für einen Moment, dann brach Tumult aus. Jeldrik wusste nicht, was zuerst tun, hinter Althea her oder sich Harcon vorknöpfen. Angesichts der nach vorne drängenden Massen blieb ihm kaum eine Wahl. Es brachen sich seine aufgestauten Gefühle in der einfachsten Tat Bahn.
Mit brennenden Augen sah Kjell zu, wie sein Vater auf Harcon losging. Alles in ihm war aufgewühlt und voller Zorn. Sie hatte ihn nicht beachtet, ihn nicht einmal angesehen, und sich nur um Bjarne und Faye gekümmert! Und jetzt war sie wieder fort, mit seinen beiden Geschwistern. Das war so ungerecht! Hatte er sie nicht stets verteidigt, immer darauf beharrt, dass sie zurückkehren würde? Er fühlte sich von ihr verraten, wie zuvor schon von seinem Vater.
In seinem Zorn bedachte er natürlich nicht, dass die Versammlung wohl kaum der Ort für ein tränenreiches Wiedersehen lang vermisster Familienmitglieder war. Alles in ihm schrie danach, diese Ungerechtigkeit zu rächen, und er wollte es gleich tun. Unbemerkt von Roar zog er sich zurück, schlängelte sich hinter seinem Großvater durch die Männer, bis er an den Ausgang zu den Räumen des Clansführers gelangte. Dort war zum Glück niemand, und es gelang ihm, Sylja und allen Sklaven aus dem Weg zu gehen, sodass wirklich niemand sah, wie er den Fürstensitz verließ.
Als er atemlos in sein Zuhause stürmte, war sein erster Zorn längst verraucht, und er wollte nur noch seine Mutter sehen, sie umarmen, hören, dass alles wieder gut werden würde. Es waren die Wünsche eines kleinen Jungen, erkannte er, als er in dem stillen, leeren Haus stand und zu begreifen versuchte, dass er ganz allein war. Niemand war dort. Und als hätte er es geahnt, fand er Bjarnes und Fayes Schlafstätte leer, die Felle waren fort und ihre anderen Dinge auch. Fassungslos stürmte er nach draußen. Sie waren fort! Ohne ihn! Zornig heulte er auf, und er wusste nicht, was er tat, als er schnellen Schrittes hinunter zum Hafen stürmte, in die einzige Richtung, wohin sie gegangen sein konnten.
Auf Regnars Liegeplatz herrschte hektisches Treiben. Müde und noch halb betrunken von der Feierei in den Schenken schleppten seine Männer Lasten zum Schiff und beluden es, angetrieben vom lautstarken Gebrüll des Alten. Es kam nicht oft vor, dass er selbst diese Arbeiten beaufsichtigte, und das sagte ihnen, dass etwas Ernstes vorgefallen sein musste, und sie beeilten sich, ihm Folge zu leisten.
Althea saß mit ihren beiden Kindern am Rande, hielt die weinende Faye fest an sich gedrückt und sprach leise mit Bjarne. Als Kjell auf den Liegeplatz stürmte, stand sie sofort auf und fing ihn ab. »Kjell! Ich wusste, dass du herkommst.« Sie wollte ihn an sich ziehen, aber er stieß sie grob zurück.
»Was hast du getan?!«, schrie er außer sich. Seine Stimme überschlug sich dabei.
Himmel, er kam bald in den Stimmbruch, dachte sie und erkannte wehmütig, dass sie bereits ein wenig zu ihm aufsehen musste. »Es tut mir leid, Kjell. Ich konnte nicht dort bleiben, nicht zwischen all diesen Männern. Und nicht bei deinem Vater.«
Faye hatte sich unterdessen aufgerappelt und kam zu ihnen. »Kjell... bitte sei nicht so böse«, rief sie schluchzend. »Wir können nicht hier bleiben, versteh es doch. Er hat Mama wehgetan, so sehr.«
Es nahm Kjell den Zorn, seine Schwester so zu sehen. »Oh, kleine Fee, weine doch nicht. Ich bin nicht böse, nicht wirklich jedenfalls.« Ohne viele Umstände hob er sie hoch in seine Arme, und sie schmiegte den Kopf an seine Schulter. Diese Geste wirkte so vertraut, dass es Althea einen Stich versetzte. Kjell schnitt eine Grimasse in ihre Richtung. »Wo wollt ihr denn hin, hmm?«, fragte er Faye, um sie etwas zu beruhigen.
»Uropa nimmt uns mit.«
»Ich möchte nicht mehr mit eurem Vater in einem Haus leben, Kjell«, sagte Althea, und diesmal bebte ihre Stimme vor unterdrücktem Zorn. »Ich habe mein Leben riskiert, um zu euch zurückzukehren, und einen hohen Preis dafür bezahlt. Ich muss eine Weile fort von hier, Zeit und Ruhe haben, all dies zu überdenken und wieder zu Kräften zu kommen, und die habe ich hier nicht. Vielleicht kehre ich nach Saran zurück, aber vielleicht bleibe ich auch für immer fort.«
»Und was wird aus uns?«, fragte Kjell nicht ganz frei von Anklage.
»Nun, Bjarne und Faye kommen mit mir, sie wollen auch nicht hier bleiben. Wir werden zu unseren Verwandten nach Gilda reisen. Du kannst wie sie entscheiden, was du möchtest. Ich kann verstehen, wenn du bei deinem Vater und Großvater bleiben willst, auch wenn es mir schwerfällt.« Althea betrachtete ihn forschend, sein verschlossenes Gesicht, die zornig blitzenden Augen, die ganze Gestalt, die seinem Vater bis aufs Haar glich. Sie wollte ihn nicht drängen, spürte sie doch die Vorbehalte gegen sie genau. Das war Roars Werk, das ahnte sie, aber es war zu spät und er zu alt, um ihn wieder leicht davon abzubringen. Wenn Kjell mitkam, dann würde es lange dauern, bis sie wieder Vertrauen zueinander fassten.
»Du wolltest doch schon immer mal nach Gilda, Kjell«, sagte Faye flehentlich. »Bitte, bitte, komm doch mit.« Sie hing an beiden ihrer Brüder gleichermaßen und wollte sich nicht von einem trennen.
Ihm ging es offenbar genauso, denn Althea sah an seinem Gesicht, wie er mit sich kämpfte. Sie wagte nichts zu sagen, aber bevor Faye ihn noch weiter drängen konnte, erklangen Schritte hinter ihnen. Althea wandte den Kopf und erblickte Regnar.
»Wir sind fertig... was willst du denn hier?«, blaffte er Kjell an.
Diese unfreundliche Begrüßung stachelte Kjells Widerstand an. Instinktiv fällte er seine Entscheidung. »Meine Schwester wird nicht allein auf dein Schiff gehen und meine Mutter auch nicht. Ich komme mit!« Sprach’s und stapfte mit Faye auf dem Arm zum Schiff hinüber. Kein Gedanke daran, dass er all seine Sachen zurückließ, sein Pferd, seine Waffen, und kein Gedanke mehr an seinen Vater und Großvater. Bjarne folgte ihnen, denn das wollte er nicht verpassen, wie sein hochnäsiger Bruder das erste Mal Regnars Schiff betrat.
»Du magst ihn nicht?«, rutschte es Althea unwillkürlich heraus.
»Hmpf! Später. Lass uns sehen, dass wir fortkommen, sonst blockiert uns dein Dummkopf von Ehemann noch die Hafenausfahrt.« Regnar nahm sie untypisch sanft beim Arm und führte sie an Bord, vielleicht, weil er ahnte, dass sie diesen Schritt nicht leichten Herzens tat.
Keine der Wachen auf dem Bollwerk der Hafeneinfahrt wagte es, Regnar aufzuhalten, auch wenn klar war, dass diesmal ungewöhnliche Passagiere mit ihm fuhren. Sie hätten es sich wohl nicht im Entferntesten vorstellen können, wer da mit ihm segelte, denn die Gerüchte aus der großen Halle waren noch nicht zu ihnen vorgedrungen, und sie hielten es auch nicht für nötig, ihre Hauptmänner zu benachrichtigen. Zu ungewöhnlich waren Regnars späte Ankunftszeiten und oft überraschende Aufbrüche, als dass es ihnen wichtig erschien.
So erreichte Jeldrik die Botschaft über Regnars plötzlichen Aufbruch nicht. Als er sich nach einer turbulenten Verhandlung, aus der sich Harcon nur mit Mühe retten konnte und die in der Ächtung von Sigurd endete, endlich aus der großen Halle entfernen konnte und nach Hause zurückkehrte, musste er feststellen, dass es verlassen war. Leer. Ohne Leben. Er wusste sofort, was geschehen war, und seine Hoffnung, sie möge hier auf ihn warten und er hätte Gelegenheit, alles zu erklären und sich mit ihr zu versöhnen, zerbarst zu Staub. Voller Zorn heulte er auf, wie schon sein Sohn vor ihm. Sie konnte nicht hierbleiben, nein, er wusste, das konnte sie nicht. Viel zu gut kannte er sie, als dass ihr eine andere Möglichkeit blieb.
Verwundert sahen die Bewohner Sarans Jeldrik hinterher, wie er außer sich zu Regnars Liegeplatz stürmte und dort seinen Verdacht bestätigt fand. Die Wachen der Hafeneinfahrt berichteten ihm kurz darauf, dass Regnar vor einigen Stunden überraschend aufgebrochen war.
Jeldrik ließ sie ohne einen Dank oder auch nur einen Gruß stehen und kehrte wie betäubt in sein Haus zurück. Dort saß er lange und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Immer wieder stieg ihr Bild vor ihm auf, wie sie die lange Gasse zwischen den Männern herunterkam, das fremdartige Gewand, die Haare und Haut golden schimmernd wie von einer fremden, wunderschönen Königin. Sie sah aus, als käme sie aus einer anderen Welt. Was ja auch stimmte. Jahre der Hoffnung und der Sehnsucht brachen nun aus ihm heraus und machten der Verzweiflung Platz. Jeldrik konnte dem nicht mehr standhalten. Er verkroch sich in seiner Kammer, ließ all seine Beherrschung fahren und ertränkte seinen Kummer im Met.
Tagelang wurde er nicht gesehen, bis Roar der Kragen platzte. Er brachte ihn wieder auf die Beine, unter wüsten Beschimpfungen und mit Hilfe Syljas, die ihre ganz eigenen Methoden mit trunkenen Kerlen hatte.
Später saß Jeldrik mit dröhnendem Schädel in der Küche seines Hauses und ließ sich von Sylja ein Mahl bereiten, und währenddessen schimpfte sie auf ihn ein, nun schon seit Stunden, so kam es ihm vor.
»Nun lass es doch endlich gut sein! Sie ist fort, das ist nicht mehr zu ändern«, stöhnte er in der Hoffnung, so dem Redeschwall zu entkommen.
Aber weit gefehlt. Sylja legte jetzt erst recht los. »Du bist ein Feigling und ein Schwächling! Was meinst du wohl, warum sie fort ist?«
»Weil sie denkt, dass ich etwas mit Sigurd hatte? Das denkt ihr doch alle!«, grollte er und rieb sich stöhnend die Schläfen. »Verfluchte Sigurd, verfluchter Harcon! Niemand interessiert sich für meine Version der Geschichte!«
»Ach?« Sylja wandte sich vom Herd um, den Schöpflöffel drohend erhoben. »Gibt es die denn? Oder sind das nur Ausflüchte?«
»Nun, ich...«
»Komm mir jetzt nicht mit ›ich war betrunken und ich wollte nicht...‹«, keifte sie, doch dann sah sie Jeldriks gequälten Blick, und ihr Herz schmolz dahin, wie es das schon früher getan hatte. Sie legte den Löffel fort, setzte sich zu ihm und griff seine Hand. »Was ist denn passiert, hm? Sprich endlich darüber, Junge!«
Nach der Aussprache mit Sylja ging es Jeldrik etwas besser. Er war wieder in der Lage, klar zu denken. Obwohl sich alles in ihm danach sehnte, sofort hinter Althea herzufahren und sie zurückzuholen, wusste er, dass er damit nur noch mehr Schaden anrichteten würde. Erst musste er in Saran seine Angelegenheiten regeln, damit er eine Weile fort konnte, und dann erst würde er ihr nachreisen und den Kampf um seine Familie aufzunehmen, um seine Vertraute und Seelenhälfte.
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Für Althea verging die nur wenige Tage währende Fahrt nach Norden wie im Traum. Sie hatte keine Ahnung, welches Jahr es war, wie alt die Kinder waren. Wären sie nicht gewesen, sie hätte sich sicherlich komplett in Regnars Verschlag verkrochen, so erschöpft, wie sie von den Ereignissen war. Der Übergang von einer Welt zur anderen war immer kräftezehrend, egal, ob man sich dabei nun veränderte oder nicht. So aber riss sie sich mit ihrem letzten Bisschen Beherrschung zusammen und war einfach für ihre Kinder da, ob diese es nun wollten oder nicht.
Bjarne schien den plötzlichen Aufbruch noch am besten von allen zu verkraften. Regnars Schiff war schon immer für ihn von großer Anziehungskraft gewesen, und nun ging er ganz in dieser Welt auf, fasste überall mit an, ruderte sogar – auch wenn er dabei auf dem vordersten und damit unbeliebtesten Platz am Bug sitzen und diesen sich mit einem anderen teilen musste – und ließ sich von der Raubeinigkeit von Regnars Männern nicht stören. Im Handumdrehen hatte er sich einen Platz innerhalb der Besatzung erobert.
Nicht so jedoch Kjell. Er stand die ganze Zeit außen vor, machte nicht einmal einen Versuch, auch nur ein Wort mit den Männern oder seinem Urgroßvater zu wechseln, geschweige denn fasste er mit an. Mit verschränkten Armen, die Augen ständig wachsam über die Männer schweifend, stand er stets wie ein Leibwächter in der Nähe seiner Mutter und seiner Schwester. Dabei bekam er die ganze Verachtung der Männer zu spüren. Nicht, dass ihn jemand anzurühren wagte, aber die Blicke und manch leise Bemerkung sagten Althea, dass Kjell unter den Männern keinen guten Stand hatte, und sie fragte sich, woran das wohl lag. Ihr selbst begegneten sie nämlich mit fast etwas, das an Ehrfurcht grenzte, und dies übertrug sich auch auf Faye. Das Traumkind. Die kleine Fee. Instinktiv spürten diese raubeinigen Gesellen, dass die Kleine nicht von ihrer Art war. Wie Regnar auch. Es war etwas an ihnen, das ihnen Angst machte.
Als Althea ihren Großvater leise auf Kjell ansprach, schnaubte der verächtlich und steckte sich in aller Seelenruhe eine Pfeife an. »Kjell ist ein Muttersöhnchen, nur dass die Mütter in diesem Fall Roar und Jeldrik sind«, knurrte er gerade so laut, dass der Junge es auf jeden Fall hören musste. »Er macht sich nicht die Hände schmutzig. Alle denken – und das bekommen selbst wir mit, auch wenn wir so selten da sind – dass er sich für zu fein für den Hafen hält. Aber keine Sorge, bei seinem Vater war es dereinst genauso. Er war immer in Roars Schatten, bis er auf die Insel kam und selbst für sich einstehen musste. Wenn Jeldrik schlau ist, schickt er ihn für eine Weile fort. Obwohl...«, Regnar lachte grollend, »...die Entscheidung hast du ihm ja jetzt abgenommen. Ich bin gespannt, was er nun tut.«
Althea musste die Augen schließen, so plötzlich schoss der Schmerz in ihr hoch. Die ganze Zeit hatte sie vermieden, an Jeldrik zu denken, weil sie wusste, wie schlecht es um ihre mühsam aufrecht erhaltene Beherrschung stand. Sofort spürte sie Fayes kleine Hand in ihrer. Auch ihre Tochter hatte bisher kaum ein Wort gesprochen, trotzdem hatten sie einander bereits gut kennengelernt, Bilder und Gefühle ausgetauscht und so die vergangenen Jahre aufgeholt, und auch wenn Bjarne nichts davon zeigte, so wusste sie doch, dass er ihnen heimlich zugehört hatte. Nur Kjell sprach nicht, nicht ein Wort, und nur allzu oft spürte sie seinen argwöhnischen Blick auf sich gerichtet, wenn sie sich lautlos mit Faye unterhielt. Er ahnte, dass sich etwas zwischen ihnen abspielte, er war eifersüchtig, und die Tatsache, dass sie mit seinen beiden jüngeren Geschwistern im Arm vor der versammelten Clansführerschaft erschienen war und ihn ignoriert hatte, verstärkte das noch. Sie wusste nicht, wie sie ihm wieder näherkommen sollte, und sie wollte vor Regnars Männern auch keinen Versuch unternehmen.
Zu ihrem Glück wehte ein kräftiger Südwestwind, sodass sie rasch nach Norden gelangten. Der Anblick des Felsens von Temora mit seinen vielen hochragenden Gebäuden, Treppen und Brücken ließ selbst Kjell für eine Weile seine Vorbehalte vergessen. Er trat dicht neben seine Mutter, um ihren Erzählungen zu lauschen. Selbst die Männer spitzten die Ohren, denn Althea berichtete einiges, was sie noch nicht wussten. Viel hatte sich getan, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Altheas Augen erfassten neue Gebäude, Gärten auf der Seeseite, die vorher noch nicht da gewesen waren. Bei SEINEM Angriff hatten die Wellen einen Teil der Felsen ins Meer gespült, und die Temorer hatten alles getan, um das verbliebene Land bis in den letzten Winkel zu nutzen.
Die Kinder sahen mit staunenden Augen zu dem Felsen hinauf, wie sie langsam darauf zu fuhren. Als Regnar nicht den Hafen zu Fuße Temoras ansteuerte, wunderten Bjarne und Faye sich sehr, nur Kjell nicht. »Du willst zu Clansführer Mahin?«, fragte er seine Mutter. Es war der erste richtige Satz seit Betreten des Schiffes.
»Ja, das will ich. Warst du schon einmal dort?«, fragte Althea zurück.
»Ja, zweimal, mit Vater. Der Clansführer ist nett. Seine Frau Verna auch.«
Althea lächelte bei der Erinnerung an ihre Freunde. »Ich kenne die beiden schon sehr lange. Sie behaupten, ich hätte ihren Bund gestiftet, musst du wissen.«
»Das haben sie mir erzählt. Wie haben sie sich denn kennengelernt?« Jetzt sah er sie zum ersten Mal an, neugierig und ohne Vorbehalte.
Althea verbarg ihre Freunde darüber gut. »Du weiß ja, wie Phelan und ich aus Gilda geflohen sind und ich später aus Temora. Eines Tages gab es einen schlimmen Sturm...«
Bis sie fertig war mit ihrer Erzählung, waren sie an Temora vorbei, und Mahins Siedlung kam in Sicht. Obwohl, Siedlung war nicht mehr der richtige Ausdruck dafür. Um die gesamte Bucht herum standen die Hütten, selbst weit oben am Rand waren welche zu sehen. Es war eine richtige kleine Stadt mit einem Wachturm hoch oben auf den Felsen der Hafeneinfahrt und sogar einigen Gebäuden aus Stein.
Auf einmal wurde Althea seltsam unwohl zumute. »Wenn das keinen Menschenauflauf gibt«, murmelte sie gedrückt. Wie sehr erinnerte sie das an ihre Heimkehr damals, als sie das erste Mal aus der Feenwelt zurückgekehrt war! Auch da hatte sie sich nicht getraut, den Menschen gegenüberzutreten, und diesmal fehlte ihr schlicht und einfach die Kraft dazu. Da spürte sie, wie jemand ihre Hand nahm und sie drückte. Es war eine langfingerige Hand, noch nicht ganz ausgewachsen, aber schon wesentlich größer als ihre.
Ertappt ließ Kjell sie wieder los. »Ich kann ja erst einmal allein von Bord gehen und Mahin vorwarnen. Ihr folgt dann später, wenn sie ausladen.«
»Allzu viele werden eh nicht dort sein«, knurrte da Regnar neben ihnen. »Die Frauen bleiben in den Häusern und die Männer meiden uns.«
»Aus gutem Grund«, erwiderte Kjell, und er duckte sich nicht, als Regnar die Hand hob.
»Aufhören!«, gebot Althea mit dem letzten Rest ihrer Kraft. Es war etwas in ihrer Stimme, das die Männer sofort innehalten ließ. »Ich will keinen Streit, den hatte ich wahrlich schon genug. Willst du das für mich tun, Kjell? Dann warten Faye und ich im Verschlag.«
»Habe ich deine Erlaubnis, Mahin an Bord zu bringen?«, fragte Kjell seinen Urgroßvater steif.
Regnar knurrte nur und ging weg. Als Kjell Einar, Regnars zweitem Mann, einen fragenden Blick zuwarf, grinste der. »Das heißt dann wohl ja. Aufstehen, ihr Ratten!«, brüllte er unvermittelt los. »Holt das Segel ein! An die Ruder!«
Bjarne rannte sofort mit den anderen nach vorne zum Bug. Althea sah ihm etwas wehmütig hinterher. »Der Alte würde ihn gerne mitnehmen«, sagte Einar.
»Bjarne? Jetzt schon?« Althea riss ihren Blick von Bjarne los und sah Einar erstaunt an. »Er kann noch nicht allein ein Ruder führen.«
Einar grinste durch sein schadhaftes Gebiss. »Nein, noch nicht. Im Moment ist er ein Hänfling, und die werden noch nicht genommen. Erst wenn er ein Ruder allein stemmen und einlegen kann, darf er mit. Und, was sagst du?«
Althea schüttelte nur den Kopf. »Wenn du denkst, ich schreibe meinen Kindern vor, was sie einst werden sollen, dann irrst du dich. Wenn er alt genug ist, mag er selbst entscheiden. Obwohl...«, sie sah zu Bjarne hinüber, der mit wahrer Begeisterung das Ruder festhielt, »...die Entscheidung ist wohl schon gefallen.«
»Scheint mir auch so«, brummte Einar und stapfte nach vorne zum Bug, um lautstark das Schiff in den Hafen zu manövrieren.
Althea wusste, das war ein Ritual, das sich kein Saraner nehmen ließ, und zog sich mit Faye in Regnars Verschlag zurück. Sie war Kjell dankbar, dass er ihr einen riesigen Menschenauflauf ersparte, und freute sich, dass es sie beide wieder etwas mehr zueinander gebracht hatte.
Durch die Ritzen des windschiefen Verschlages hindurch beobachtete Althea, wie ihr Ältester den Clansführer geschickt an Bord lotste. Mahins Anblick machte Althea wieder einmal klar, wie viel Zeit vergangen war. Die kurzen Haare waren mittlerweile vollständig ergraut, und seine knappen Gesten, seine Haltung und jeder Zoll seiner schlichten, aber doch sehr kostbaren Kleidung machten deutlich, dass man es hier mit einem wichtigen, mächtigen Mann zu tun hatte.
Bis zuletzt dachte Mahin, es ging um die Ware. Als Kjell langsam die Tür des Verschlages öffnete und Mahin vor lauter Überraschung erstarrte, da wusste Althea, dass sie richtig gehandelt hatte. Sie fand einfach keine Worte, hätte sich am liebsten verkrochen.
»Bei den Göttern... Thea!« Mit zwei schnellen Schritten war er bei ihr und drückte sie an sich, als wäre sie ein kostbarer Schatz. »Wie...?«
»Sag nichts. Bitte, frag nicht«, flüsterte sie erstickt und lehnte erschöpft an ihm.
Mahin umfasst ihr Gesicht mit beiden Händen und hob es zu sich an. Er erschrak, was er darin erblickte. Diese Erschöpfung, der Ausdruck ihrer Augen, voller Tränen. Es war, als sei etwas in ihr zerbrochen. »Himmel, was ist dir nur geschehen?«, murmelte er erschrocken. Zum Glück konnte Althea seinen Blick durch die Tränen nicht sehen, sonst wäre es wohl um ihre Beherrschung geschehen gewesen. Erschrocken sahen die Kinder zu, wie ihre Mutter um Fassung rang. Dass es so schlimm war, hatte sie bisher gut verborgen.
Auch Mahin erkannte, wie es um sie bestellt war. »Schscht, ist ja gut. Sag, was möchtest du? Sag’s einfach.« Er strich ihr tröstend über die Wange.
Sie wusste, er würde ihr jeden Wunsch erfüllen. Am liebsten hätte sie Noemi bei sich. Der Wunsch kam übermächtig in ihr hoch, aber ihre Freundin war weit weg. Da blieb nur ihre zweite vertraute Freundin. »Ich möchte zu Maret, in unsere Hütte. Ich kann jetzt nicht...«
»Du brauchst nichts zu erklären. Ich bringe dich und deine Kinder hin, und in ein paar Tagen, wenn du dich ein wenig erholt hast, kommst du uns besuchen, einverstanden?« Althea konnte nur noch erschöpft nicken.
Vom Rest des Weges nahm Althea nicht mehr viel wahr. Jetzt, wo sie in Sicherheit war und jemanden hatte, der sich um sie kümmerte, brach ihre Beherrschung zusammen. Nur noch undeutlich hörte sie Mahins leise Anweisungen an die Kinder, sah sie den Weg durch den Wald und hörte das Bellen eines Hundes. Das Letzte, was sie wahrnahm, war das tränenüberströmte Gesicht ihrer Freundin Maret, wie sie sich über sie beugte.
Althea schlief geschlagene zwei Tage und Nächte. Ab und zu wurde sie halb wach, sah über sich die vertrauten Formen der Hütte, hörte draußen die Stimmen ihrer Kinder und Marets und schlief beruhigt wieder ein.
Erst am späten Abend des zweiten Tages wachte sie wieder auf. Sie fand Faye dicht neben sich schlummernd, und die Jungen hatten sich ihr Lager auf Noemis ehemaliger Schlafstätte eingerichtet. Sie hob den Kopf und erblickte unter sich die Gestalt ihrer Freundin. Maret saß am Tisch und schrieb. »Maret.«
Sie sah auf. Freude erhellte ihr Gesicht, und sie umarmte Althea fest, als diese lautlos zu ihr heruntergeklettert kam. Althea brach prompt in Tränen aus, sodass Maret sie umgehend nach draußen brachte und fest die Tür hinter ihnen schloss, damit die Kinder nicht wach wurden.
Maret führte Althea zur Steinplatte am Bach, weit genug entfernt von der Hütte, dass Althea all ihrem Schmerz freien Lauf lassen konnte. Sie hielt Althea fest in den Armen und hörte zu, wie diese ihren Zorn herauswürgte und auf Jeldrik fluchte, und sagte erst einmal gar nichts. Das harte Leben in den Wäldern, die Schicksale der vielen Menschen Nitreas und ihr von jeher verständnisvolles Wesen hatten Maret zu einer ganz besonderen Frau werden lassen. Vorschnelle Verurteilungen waren ihr fremd.
In den letzten Tagen hatte sie sich schon ein ungefähres Bild von den Ereignissen machen können. Die Kinder waren verstört, auch wenn die Jungen es meisterhaft hinter Hochmut (Kjell) und Ruppigkeit (Bjarne) verbargen. Nur die Kleine war ohne Arg, und als sie erst einmal Fayes Vertrauen erlangt hatte, folgten ihre Brüder ganz schnell, sodass es bis zur Preisgabe der Ereignisse nicht mehr weit gewesen war. Im Gegenzug hatte Maret ihnen einige Dinge aus dem Leben ihrer Mutter als Heilerin erzählt, welche sie anscheinend noch nicht kannten. Besonders Kjell hatte daran zu kauen, dass seine allseits verehrte Mutter einst das Leben eines Bastards, einer Ausgestoßenen geführt hatte, und er kam gehörig ins Grübeln. Allen Hochmut angesichts der ärmlichen Hütte legte er daraufhin ab.
Maret musste bei der Erinnerung daran lächeln, während sie Althea in den Armen hielt und sie weinen ließ. Wie ähnlich er seinem Vater war! Stolz und knurrig, aber im Grunde ein guter Kerl mit einem weichen Kern. Irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass Jeldrik Althea einfach so verraten hatte. Das passte nicht zu ihm, und genau das musste sie versuchen, Althea schonend beizubringen.
Schließlich lag Althea ruhig neben ihr, den Kopf in ihrem Schoß. »Geht es dir jetzt besser?«, fragte Maret behutsam.
»Hmm...«, machte Althea und rieb sich die verquollenen Augen. »Ich habe schrecklichen Durst. Und Hunger. Muss wohl schon eine Weile her sein, dass ich etwas zu mir genommen habe.«
»Ja, wärest du nicht von allein wach geworden, hätte ich dich bald geweckt. Du hast seit zwei Tagen nichts gegessen und getrunken und davor auch nur wenig, wie deine Tochter mir berichtet hat. Warte hier, ich hole dir etwas.«
Während Althea hungrig ihr Essen verschlang, sagte Maret erst einmal nichts, sondern beobachtete sie nur. Ein Schimmer umgab ihre Freundin, vermutlich stammte er noch aus der anderen Welt. Den meisten wäre er gar nicht aufgefallen, aber Maret sah seit jeher genauer hin als alle anderen, und ihr fiel er sofort auf. »Du leuchtest richtig«, sagte sie, als Althea fertig war und sich mit dem Kopf auf ihrem Schoß lang ausgestreckt hatte.
»Es wird weggehen«, sagte Althea nur. Sie hatte die Augen geschlossen und atmete tief und ruhig.
Auch wenn Althea es nicht wollte – das spürte Maret deutlich – mussten sie darüber reden, und der beste Zeitpunkt war jetzt. Sie beugte sich vor und griff nach der Hand ihrer Freundin. Sie hatte einige Dinge zu sagen. »Thea, ich verstehe deinen Schmerz und deinen Zorn«, begann sie und drückte ihre Hand. »Nach solch grausamen Erlebnissen heimzukehren und so etwas vorzufinden, das hätte jede andere in Verzweiflung getrieben.«
»Ich bin aber nicht jede andere«, presste Althea hervor.
»Eben, meine Liebe, eben. Deshalb hast du vor aller Augen deine Stellung behauptet und sie in ihre Schranken gewiesen, sowohl die kleine Verräterin als auch deinen Mann. Du hast die Kinder genommen und sie fortgebracht. Daran wird Jeldrik noch lange denken.«
»Gut so!«, murmelte Althea.
»Glaubst du, er wird das einfach so akzeptieren?« Zufrieden spürte Maret, wie ihre Freundin zusammenzuckte.
»Darüber... darüber habe ich noch nicht nachgedacht.« Althea richtete sich abrupt auf und streifte Marets Hand ab. Sie schlang die Arme um die Knie und starrte auf die im Mondlicht glitzernden Strudel des kleinen Baches. »Nein. Nein, das wird er vermutlich nicht.«
»Weißt du, was ich merkwürdig finde?«
Althea wandte sich um. Allmählich wurde ihr Kopf wieder klar, und sie kannte ihre Freundin gut genug, um zu spüren, dass diese einen Plan verfolgte. »Spuck’s aus, Maret. Was denkst du über die ganze Sache?«
Maret lächelte prompt. »Ertappt. Ich habe mich in den vergangenen Tagen viel mit deinen Kindern beschäftigt. Ich mag sie, alle drei, so verschieden sie sind. Kjell ist ein blitzgescheiter, schon sehr verantwortungsbewusster junger Mann, manchmal sehr aufbrausend und etwas hochmütig, wenn er etwas nicht weiß oder wenn er unsicher ist. Bjarne ist ein gutmütiger Rabauke mit einem weichen Herz, und deine Faye ist einfach wundervoll. Anders kann ich es nicht beschreiben. Sie alle drei verehren dich, und sie alle drei haben gerade ihren Vater verloren. Nicht erst durch eure Abreise, sondern schon vorher. Das hat sie sehr verstört.«
»Ich weiß.« Althea presste die Lippen zusammen.
»Ich finde merkwürdig, dass Jeldrik das zugelassen hat, dass er nicht mit ihnen geredet hat. Nicht ein Wort. Ein Mann wie er, der seine Familie durch solch schwere Zeiten bringen musste, hätte doch gemerkt, dass sich seine Kinder von ihm entfernt haben, und wenigstens versucht, es ihnen zu erklären. Es sei denn...«
»Es sei denn...?« Althea verstummte.
Maret ließ ihr keine Zeit. Nachdenken konnte Althea später noch genug. »Es sei denn, ihm blieb keine Wahl, oder es war eine geschickt arrangierte Falle. Weißt du, bei den Saranern geht es vor allem darum, nicht das Gesicht zu verlieren. Dein Jeldrik ist ein stolzer Mann...« Sie verstummte, als Althea einen Laut ausstieß, ein Geräusch zwischen Verblüffung und Lachen.
»Etwas Ähnliches hat mir einst Siri geschrieben, als Jeldrik mich allein gelassen hatte, in dem Winter vor Kjells Geburt. Sie sagte damals, dass er an etwas gescheitert sei und sich dafür hasste.«
»Hmm... du steckst nicht in seiner Haut. Vielleicht ist etwas geschehen, was ihn schweigen ließ. Dieser Sigurd und ihrem Vater ist alles zuzutrauen. Vielleicht hat er dem aber auch keine solche Bedeutung beigemessen. So oder so wirst du dir anhören müssen, was er zu sagen hat, denn eines steht fest: Er wird dir folgen. Er hat das Gesicht verloren, vor den Augen seiner Familie und aller Saraner, und er wird alles tun, um es wiederzuerlangen.«
»Ha! Und du denkst nicht, dass er auch wegen uns, wegen unserer Liebe tut?«
Es tat Maret weh, Althea diese Illusion zu zerstören. »Thea, es ist sehr viel Zeit vergangen. So sehr du auch im Recht warst, du hast ihn vor den Clans bloßgestellt und ihm seine Kinder genommen, seine Erben. Auch wenn du seine Seelenhälfte bist, können übermäßige Gefühle nur allzu leicht in Hass umschlagen. Das beste Beispiel dafür sind deine Großeltern, schon vergessen? Du hast ihm wehgetan, ihr habt euch beide sehr verletzt. Das verzeiht man nicht so einfach. Eure Liebe hat in all den Ereignissen keinen Raum.«
Ihre Worte trafen Althea wie ein Schwerthieb. Ja, sie fühlte sich von ihm verraten und, das gestand sie sich jetzt ein, sie hatte ihn absichtlich verletzt, Rache an ihm genommen, ihn bewusst öffentlich gedemütigt. Es hatte sie mit wildem Triumph erfüllt. Dass sie dabei ihre Liebe aufs Spiel setzte, etwas, das tief in ihr verankert war und zu ihr gehörte wie ihr Licht, ihr innerstes Wesen, das hatte sie dabei nicht bedacht.
»Habe ich sie verloren?«, flüsterte sie gebrochen.
Maret umarmte sie. »Noch ist es nicht zu spät. Ihr werdet euch wiederfinden müssen. Aber alles zu seiner Zeit. Komm. Gehen wir schlafen, und morgen, da überlegen wir, was wir weiter tun wollen. Es gibt da eine ganze Menge Leute, die dich unbedingt sehen wollen.«
Althea war nach dieser Aussprache wie befreit und konnte der Begegnung mit ihren Freunden gelassen entgegen sehen. Natürlich floss die eine oder andere Träne, aber diesmal waren es Freudentränen. Verwundert sahen die Kinder zu, wie herzlich ihre Mutter von allen empfangen wurde, so ganz ohne Vorbehalte, wie so viele Saraner ihr stets begegnet waren.
»Mutter hat hier richtige Freunde«, bemerkte Kjell Maret gegenüber, als er sah, wie Althea von Schmied Bryns Armen fast zerquetscht wurde und seine Frau Rana sie gar nicht mehr loslassen wollte. Dutzende von Leuten drängten um sie, alle wollten Althea begrüßen. Selbst wer sie nicht kannte, hatte von Thea, der Heilerin, gehört. Die Kinder mussten feststellen, dass ihre Mutter einen geradezu legendären Ruf besaß.
Es waren so viele Menschen. Schon nach wenigen Augenblicken schwirrte Althea der Kopf. Nicht nur, dass sie die jüngsten Kinder von Verna und Mahin und von Bryn und Rana noch gar nicht kannte, auch hatten ihre beiden ältesten Töchter bereits geheiratet und sie zu Großeltern gemacht. Stolz zeigten Livie und Phelana ihren Nachwuchs vor, genauso stolz wie ihre Eltern. Anschließend führten Verna und Mahin ihre Besucher durch die Siedlung, die noch größer war, als es von der Seeseite aus zu sehen war. Sie hatten die Wälder weiter gerodet, um Platz für weitere Ackerflächen und Hütten zu schaffen. Siedlung und Hafen florierten, das sah man. Mahin hatte sich und seiner Familie ein neues Steinhaus gebaut, das ganz oben einer kleinen Festung gleich über der Siedlung thronte.
»Ich möchte nicht noch einmal, dass mein Zuhause von einer Flutwelle weggespült wird«, sagte er und führte sie hinein. »Zweimal hat mir gereicht.«
So neu und ungewohnt für die Verhältnisse in Nitrea das Haus auch war, eines hatte sich nicht geändert: Als sei sie nie fort gewesen, fanden sich alle in der Küche ein. Sie brannten darauf zu erfahren, was geschehen war, keiner wagte jedoch zu fragen. So war es an Althea zu erzählen, und sie tat es vorsichtig, mit jedem Wort ringend.
Es war vor allem für Faye eine lehrreiche Lektion. Sie erfuhr nun zum ersten Mal, was sie von ihrem Wissen preisgeben konnte, ohne dass man sie merkwürdig ansah, und was sie besser verschwieg. Mit dem unfehlbaren Instinkt eines begabten Kindes erfasste sie genau, wie ihre Mutter es schaffte, alles zu erklären, ohne die andere Welt, das Übersinnliche auch nur zu erwähnen. Althea zeigte ihr einen Weg aus der Falle, in der sie saß, seit sie laufen und sprechen konnte. Es befreite sie.
Die Brüder staunten an diesem Tag nicht schlecht. Während die Erwachsenen das Essen vorbereiteten für ein Willkommensfest, schloss ihre kleine Schwester im Handumdrehen Bekanntschaft mit den anderen jüngeren Kindern und ließ sich bereitwillig von ihnen in ihre Spiele mit einbeziehen. Dergleichen hatte sie in Saran niemals getan.
»Sie lernt, es zu verbergen«, flüsterte Bjarne seinem Bruder zu. In ungewohnter Eintracht standen sie beisammen und wachten über Faye, mussten aber schnell erkennen, dass diese Sorge unbegründet war. Ihre Schwester lachte sogar, scherzte mit den anderen herum, obschon sie das Temorische nur gebrochen sprach.
»He, ihr!«
Kjell und Bjarne wandten sich um und fanden hinter sich eine Gruppe gleichaltriger Jungen und Mädchen, die sie spöttisch betrachteten, eben so, wie die Menschen Nitreas über die Saraner dachten.
»Taugen Saraner nur zum Kinderhüten, oder was?«, rief der Älteste von ihnen provozierend.
Kjell und Bjarne wechselten einen Blick, dann traten sie ihnen hoch erhobenen Hauptes entgegen. »Wer sagt das?«
Kopfschüttelnd wandte Althea sich ab und lächelte Verna zu. »Scheint so, als würden sich meine Söhne hier bestens amüsieren«, sagte sie und setzte sich wieder zu ihren Freundinnen. Diese lachten, und sie nahmen sich ihre Becher und prosteten sich zu. »Auf unsere Familien.«
»Auf unsere Familien«, erwiderte Althea und musste den schmerzhaften Stich unterdrücken, der sie durchfuhr.
»Was hast du jetzt vor, Thea?«, fragte Rana nach einer Zeit des Schweigens.
Maret warf ihr einen schnellen Blick zu, aber Althea beschloss, ehrlich zu antworten. Sie hatte sich dies in der vergangenen Nacht gut überlegt. »Ich bleibe nur ein paar Tage hier, dann brechen wir auf nach Gilda. Ich möchte Galvin und Gayle wiedersehen, außerdem möchte ich, dass die Kinder ihre Urgroßmutter kennenlernen. Auch wenn ich sie nicht ausstehen kann«, fügte sie hinzu, als die anderen ihr Erstaunen ausdrückten, »finde ich doch, dass sie es sollten. Dieser Zweig ihrer Familie ist ebenso wichtig wie die anderen. Wisst ihr, ich möchte meinen Kindern nichts verschweigen, so wie es einst mein Vater getan hat. Ihnen sollen später alle Möglichkeiten offen stehen.«
»Und dazu gehört auch Temora«, sagte Maret und nickte ihr zu.
»Ja, auch Temora«, bekräftigte Althea und nahm einen weiteren Schluck des heißen Würzweins, den Verna ihnen allen eingeschenkt hatte. Er wärmte sie, aber noch mehr wärmte sie die Anteilnahme ihrer Freundinnen. »Ich brauche eure Hilfe. Wir sind ziemlich überstürzt aus Saran aufgebrochen, mit nichts außer meinem Heilerkorb und zwei Bündeln von Bjarne und Faye. Wir benötigen Pferde, Proviant und Kleidung.«
»Mach dir keine Sorgen, Thea«, sagte Verna, »Mahin hat schon alles veranlasst. In drei Tagen bricht eine Handelskarawane nach Norden auf, mit der könnt ihr reisen, und von Galeac brechen regelmäßig welche nach Morann auf.«
Althea nickte vorsichtig. Sie wollte Verna nicht erklären, dass sie lieber allein reiten wollte, ohne Ankündigung. Alles, was sie vermeiden wollte, war ein allzu großer Aufruhr, und das würde ihr auch gelingen. War sie erst einmal über die Grenze, dann würde sie mit ihren Kindern auf Nebenpfaden durch die Steppe bis nach Gilda reisen, und sie wusste auch schon, wen sie sich dafür als Begleitung suchen wollte. Doch das brauchten ihre Freunde nicht zu wissen, sonst brächten die es noch fertig und gaben ihr eine Wache mit.
Etwas aufgemuntert durch ihre weiteren Pläne verbrachte Althea mit ihren Kindern einen fröhlichen Abend bei ihren Freunden. Nun, da sie die größten Sorgen los war, konnte sie ihre Aufmerksamkeit ganz ihnen widmen. Verna und Mahin gingen völig in ihrer Rolle als Führer der Siedlung auf, hielten fast Hof und schlichteten nebenbei ein paar Streitereien. Bryn fachsimpelte mit Regnar über seine neuesten Waffen und Rana beschäftigte mit Livie und Phelana die Jüngsten der Gruppe. Nur Maret saß schweigend dabei und beteiligte sich nicht an den Gesprächen. Sie sah irgendwie einsam aus, befand Althea, und wunderte sich, woran das wohl lag. Dies war schließlich ihre Familie.
Irgendwann wollte sie das nicht mehr mit ansehen, stand auf und setzte sich neben Maret. »Was ist mir dir? Du siehst irgendwie bedrückt aus.«
Ertappt zuckte Maret zusammen und lächelte dann etwas beschämt. »Ach, es ist nichts. Bei solchen Festen überkommt mich immer ein wenig die Traurigkeit, musst du wissen. Es erinnert mich daran, dass ich niemals eine eigene Familie haben werde.«
»Aber Maret, warum denn nicht?«, fragte Althea, nun ehrlich erschrocken. »Sicherlich gibt es jemanden, an dem du Gefallen findest.«
Marets Miene wurde verschlossen, und ein harter Ausdruck legte sich über ihr Gesicht. »Ich soll Gefallen finden an einem Mann?« Sie schnaubte verächtlich. »Es gibt keinen im Volke Nitreas, der mir gefällt, und ich will auch keinen dieser Kerle in meinem Haus haben. Außerdem meiden sie mich, als Frau, verstehst du, weil sich Chayas Ruf auf mich übertragen hat oder sie mich für zu hässlich halten. Was weiß ich. Und in Temora... weißt du, Arnor besucht mich manchmal, aber er will nur reden. Er kommt zu mir, damit er seine Gedanken mit jemandem teilen kann, der frei ist von den Lehren und Einschränkungen der Gemeinschaft. Wir sind Freunde, nichts weiter.«
Althea verstand plötzlich nur allzu klar. »Du willst ein Kind.«
Maret nickte bedrückt. »Und ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll. Ich werde bald dreißig Jahre alt, und mir läuft die Zeit davon.«
Das verstand Althea. Mit dreißig Jahren galt eine hart arbeitende Frau im Volke Nitreas, wie in Saran auch, unweigerlich als alt. »Und dir einfach heimlich jemanden im Hafen zu nehmen, einen von Regnars Männern zum Beispiel, kommt natürlich nicht infrage. Oh Maret, ich weiß nicht, wie ich dir helfen soll.«
»Ich hatte schon mit dem Gedanken gespielt.« Maret presste die Lippen zusammen. »Es wäre der letzte Ausweg. Aber ein schlechter Charakter vererbt sich auch, und die Vorstellung, einen kleinen Regnar aufzuziehen...«
»Vielleicht solltest du Galvin bitten. Er hat da ja so einen Ruf...« Sie sahen sich an und prusteten los. Lachend drückte Althea ihre Freundin an sich und wischte ihr unauffällig eine Träne ab. »Es wird sich alles finden, du wirst sehen. Alles wird gut.«
An diesen Satz musste Althea noch lange denken, als sie und die Kinder sich am nächsten Tag nach Temora aufmachten. Er galt auch in höchstem Maße für sie selbst. Marets Schicksal hatte ihr die schmerzliche Erkenntnis beschert, dass sie zwar Kinder, aber kein Zuhause hatte. Sie würde ein Neues erschaffen müssen, so schwer das auch war.
Doch nun wartete erst einmal ein schwieriger Weg auf sie: Aislinn. Der unbeliebteste Teil ihrer Familie, aber sie verbarg ihr Unbehagen gegenüber den Kindern gut, damit sie ohne Vorbehalte nach Temora gingen.
Im Bannwald hatte sich kaum etwas verändert, bis auf dass er noch undurchdringlicher geworden war als damals. Sie erkannte die Pfade alle wieder und zeigte ihren Kindern die getarnten Übergänge. Die Jungen und Faye waren mit Feuereifer dabei. Diese Wohnstätte war wie ein großes Abenteuer für sie, mit den vielen verborgenen Pfaden und geheimen Türen. Wenn sie wüssten, was in Gilda auf sie wartet, dachte Althea amüsiert. Sie zeigte ihnen auch alles andere, die Felsenenge mit dem einzigen Zugang nach Temora, die alten Höhlen, wo ihre Vorfahren einst gehaust hatten, mit den vielen Malereien und Verstecken. Es gab ihr Zeit, sich auf die Begegnung mit Aislinn vorzubereiten.
Durch die vielen Umwege war es schon Mittag, als sie aus dem Wald hinaus auf die Wiese oberhalb des Felsens traten. Althea überkamen die Erinnerungen mit einer Plötzlichkeit, dass sie die Augen schließen musste. Hier waren Phelan und sie damals um die Wette geritten und sie einfach durch den Ring gerannt, eine folgenschwere Tat. Ein weiteres Bild drängte sich hoch, die Wiese voller Zelte, die Menschenmassen beim Einheitsfest. Und gleich darauf, wie sie leer gefegt war und in unheimliches Licht getaucht, SEINEM Licht.
Die Kinder blieben geraume Zeit stehen und nahmen den Anblick in sich auf, während sie sich in düsteren Erinnerungen erging. »Sieh mal, Mama, sie haben eine runde Mauer. Warum denn das? Warum so weit draußen?«, fragte Faye neben ihr und holte sie zurück in die Gegenwart.
Althea folgte ihrem Finger. Tatsächlich, sie hatten eine Mauer gezogen. Na, so was! War die Macht des Ringes so schwach geworden? Aber nein, sie war nur kniehoch. Es sah eher aus wie eine Markierung, als wolle man verhindern, dass sich die damaligen Ereignisse wiederholten und einfach jemand hineinstolperte. Althea folgte dem Lauf der Mauer mit den Augen und entdeckte an der Straße, die aus der Siedlung hinauf zum Steinkreis führte, einen neuen Steinbogen. Zwei Gestalten in langen Gewändern standen dort Wache.
»Ah! Sie wollen nicht, dass man sich einfach so dem Ring nähert.«
»Welchem Ring?«, fragte Kjell und Bjarne wie aus einem Mund.
»Das werdet ihr gleich sehen«, erwiderte Althea. »Kommt. Gehen wir zu den beiden und kündigen uns an. Und ihr macht keinen Schritt ohne mich, verstanden?« Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass ihre Kinder denselben Fehler begingen wie sie damals. Und auf keinen Fall würde sie in die Siedlung gehen und sich von dort aus ankündigen lassen, wie es Besucher für gewöhnlich taten. Sie wusste, einer von Clansherr Jeskos Brüdern hatte die Geschäfte dort übernommen, und sie wollte keinem Mitglied dieser Familie begegnen. Wegen Taisto, seines Sohnes, der ihr einst so nachgestellt und ein grausames Ende durch den Diener gefunden hatte.
Die beiden Priester am Tor, es waren eine junge Frau und ein junger Mann, schienen erst vor Kurzem die Weihe empfangen zu haben. Die Male auf ihrer Stirn wirkten noch frisch. Althea überkam so eine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Menschen durch den Ring ohne Hilfe der Armreifen zu bringen, war gewiss kräftezehrend, sodass man diese unliebsame Aufgabe den Jüngsten der Gemeinschaft überließ. Oder sie stärkten daran ihre Fähigkeiten oder als Strafe vielleicht? Althea war gespannt, was sie tun würden.
So ungewöhnlich war es offenbar nicht mehr, dass jemand Einlass nach Temora begehrte. Allenfalls die Tatsache, dass sie nicht den Weg aus der Siedlung hinauf kamen, musste den beiden merkwürdig vorkommen, aber sie blieben freundlich und höflich, als sie Althea nach ihrem Begehr fragten.
»Ich möchte zu Aislinn«, antwortete Althea.
Angesichts ihrer klaren Aussprache zuckten die beiden zusammen. Die junge Frau überwand ihre Überraschung zuerst. »Ich fürchte, das wird nicht möglich sein. Die Herrin Aislinn ist erkrankt. Sie kann niemanden empfangen.«
»Krank?«, fragte Althea beunruhigt und war, ohne dass einer der beiden rechtzeitig reagieren konnte, einfach durch das Tor geschritten. »Wie krank? Ist es ernst?«
»Aber...?«
»Wie...?«
»Wer seid Ihr?!«, fragte die junge Frau und starrte Althea mit großen Augen an.
Althea lächelte leicht. »Ich bin Althea, die Tochter Thoralds, und Aislinn ist meine Großmutter. Sicherlich habt ihr beide schon von mir gehört. Wie ernst ist es?«
Die beiden gerieten ins Stammeln. »Ihr seid...?«
»Mutter, was bedeutet das?«, fragte Kjell ungeduldig dazwischen. Die Kinder standen immer noch vor dem Tor.
»Musst du ihr helfen?« Faye wollte zu ihr und wurde von einem erschrockenen Aufschrei daran gehindert.
»Nein, nicht!«, rief die junge Priesterin. »Sei vorsichtig, Mädchen, dort läuft der Ring entlang. Nicht, dass du fällst.«
»Der Ring?« Faye schaute sich verwundert um, doch da dämmerte es ihr. »Ach, der! Der zählt nicht für mich. Komm, Bani!« Und bevor Althea es verhindern konnte, liefen die beiden vor den staunenden Augen der Priester einfach so hindurch.
Althea ärgerte sich, dass sie ihre Kinder nicht zurückgehalten hatte. Da das Unheil nun aber bereits angerichtet war, beobachtete sie die Reaktion der anderen genau. »Kjell?«, fragte sie nicht ohne Hintergedanken.
Ihr Ältester hatte die Stirn gerunzelt. »Falls du fragst, ob ich ihn spüre, ja, das tue ich. Ich habe letztes Jahr die Prüfung gemacht und konnte den Kelch nicht anfassen.«
»Und warum bist du dann nicht hier?«, rutschte es dem jungen Mann heraus.
»Ich wollte nicht«, erwiderte Kjell stolz. »Vater meinte, es wäre eine gute Erfahrung für mich.«
»Wenn du den Kelch spürst, dann bist du begabt«, stellte Althea fest. »Versuche, durch den Ring zu gehen. Ich weiß, er ist unheimlich, und man braucht dafür einen festen Willen.« Sie hieß die beiden Priester mit einer knappen Handbewegung zu schweigen, als diese protestieren wollten. »Konzentriere dich auf deine Stärke. Ignoriere die Schwäche. Stelle dir vor, du schiebst ihn mit deinem Schwert wie einen Vorhang beiseite.«
Voller Stolz beobachtete Althea, wie Kjell sein Unbehagen niederrang und mit geschlossenen Augen auf den Ring zu trat. Doch schon beim ersten Schritt hinein knickte ihm das Bein weg, und er schlug der Länge nach hin. Kein noch so gutes Zureden half. Kjell blieb liegen und konnte sich nicht bewegen.
»Das wird so nichts«, rief der junge Priester und wollte ihm aufhelfen, aber Faye war schneller. Kaum berührte sie ihn, war diese seltsame Schwäche verschwunden.
»Verdammt!« Fluchend schlug Kjell mit der Faust auf den Boden und sprang dann in einem Satz aus dem Ring. Er ärgerte sich maßlos über diese Niederlage und blitzte seinen jüngeren Bruder wütend an, der seine Freude darüber kaum verbergen konnte. »Grins’ nicht so blöde!«, fauchte er, und dann fragte er die beiden Priester etwas höflicher: »Wie macht man das?«
»Nun... wir...« Unsicher sah der junge Mann auf Faye herab, die Kjell immer noch an der Hand hielt, als wolle sie ihn beschützen.
»Wir müssen es auch zu zweit tun«, gab die junge Frau unumwunden zu. »Allein schaffen wir es noch nicht, einen anderen Menschen durch den Ring zu bringen. Deshalb stehen wir hier, damit wir es üben. Man braucht den Segen der Götter dafür. Und viel Kraft.« Bei den letzten Worten sah sie Althea unbehaglich an.
Diesen Blick kannte Althea nur allzu gut. »Es ist eine Gabe«, sagte sie knapp, »und nicht allen ist sie gegeben. Bringt uns nun zu Aislinn, ich möchte nach ihr sehen. Wie ernst ist es?«
Keiner der beiden wagte, gegen ihren Befehl, denn das war er, aufzubegehren. Die junge Frau begleitete sie nach Temora hinein, während ihr Priesterbruder am Tor blieb. »Die Herrin Aislinn liegt schon seit einigen Wochen mit einem Fieber darnieder. Ich habe die Hohepriesterin sagen hören, dass es das Alter sei. Sie erholt sich nicht. Die Brüder und Schwestern haben sich in der großen Halle versammelt, um die Götter für ihr Wohl zu bitten.«
»Tatsächlich?« Mehr sagte Althea nicht. Sie konnte sich vorstellen, dass es einige gab, die bei diesem Gebet nicht ganz mit dem Herzen bei der Sache waren. Aislinn war nicht beliebt, vielmehr gefürchtet.
Stumm schritten sie am Steinkreis vorbei, über die Brücke und auf den Vorplatz. Aus Richtung der großen Halle war leiser Gesang zu hören, doch die Priesterin ließ sie unbeachtet und schlug den alten, Althea bekannten Weg zu Aislinns Gemach ein.
Mit großen Augen liefen die Kinder hinter ihr her. Selbst Kjell, der sich eigentlich schon zu alt für solcherlei fand und immer noch ob seines Scheiterns im Ring grollte, sah sich mit offenem Mund um, erfasste die feine, geschwungene Bauweise der Gebäude, die vielen Winkel und Ebenen. Wie gerne würde er all dies erforschen, die geheimen Schlupflöcher kennenlernen, von denen es hier mit Sicherheit viele gab.
Leider schien seine Mutter dafür keinen Blick zu haben, denn sie ging zielstrebig auf ein hohes, nur mit einer Reihe Fenster versehenes Gebäude zu, ohne dass die Priesterin ihr den Weg zeigen musste. Sie kannte sich gut hier aus, staunte Kjell, der bisher immer gedacht hatte, seine Mutter meide Temora wie eine ansteckende Krankheit. Offenbar gab es noch vieles, was er nicht von ihr wusste, aber er würde es herausfinden, das schwor er sich.
Es gab nur diesen einen Aufgang und innen nur eine Tür. Was wohl die Wichtigkeit der Bewohnerin verdeutlichen sollte, dachte Kjell leicht verächtlich.
»Ich verlasse Euch hier, Herrin.« Die Priesterin verneigte sich und ließ sie hinein.
Oben angekommen, klopfte seine Mutter leise an. Die Tür von Aislinns Gemach wurde von einer jungen Priesterin geöffnet, die bei ihrem Anblick überrascht die Augen aufriss. »Ich würde gerne nach deiner Herrin sehen«, sagte Althea.
»Aber...«
»Wer ist dort?«, rief von drinnen eine zittrige Stimme.
Die junge Priesterin war verwirrt. »Herrin, hier ist eine Fremde mit drei Kindern, die Euch zu sehen wünscht.«
»Wer wagt es...?!« Es klang wie ein heiseres Kreischen, und wohl nicht zum ersten Mal, das sah Kjell daran, wie die junge Priesterin zusammenzuckte und um Geduld ringend kurz die Augen schloss.
Althea tat sie leid. »Ich sehe schon, sie hat sich nicht verändert. Lass mich nach ihr sehen, dann wird es ihr besser gehen. Kommt mit, Kinder.« Die junge Priesterin war so verblüfft, dass sie einfach beiseitetrat und ihr den Weg freimachte. Gleich darauf standen sie vor der Schlafstätte der alten Frau.
Fast nichts hatte die vom Fieber ausgemergelte Gestalt noch mit der stolzen Frau gemein, die Althea von früher her kannte. Einzig die Augen verrieten nach wie vor einen unbändigen, harten Willen, auch wenn sie vor Fieber glänzten. Sie waren aufgerissen und wurden so weit, dass man das gelblich angelaufene Weiße gut sehen konnte. Ein strenger Geruch nach Alter und Krankheit lag über dem Lager, den auch das weit geöffnete Fenster nicht vertreiben konnte.
Althea ließ Aislinn keine Zeit für weitere Ausfälle. Kaum war der Mund der alten Frau protestierend geöffnet, hatte Althea schon ihre Kapuze zurückgestreift und setzte sich neben sie. Sie griff nach Aislinns Hand, die knochig und dünn und eiskalt war. »Wie es scheint, bin ich gerade noch rechtzeitig gekommen.« Althea lächelte vorsichtig.
»Althea...! Es hieß, du seist tot!«, keuchte Aislinn.
»Nein, ich war gefangen und konnte mich erst nach langer Zeit befreien. Keine Angst, ich werde dir helfen.« Althea drückte leicht ihre Hand. »Aber zunächst einmal... Kinder, kommt her.«
Zögernd traten die Geschwister näher, kamen aber nicht ganz heran. Ihnen war der Anblick der alten Frau unheimlich, sie erschien ihnen fast wahnsinnig.
Aislinns Augen schnellten zu den Kindern, blickten erst verwirrt, dann weiteten sie sich noch mehr. »Sind das...?«
»Aber ja. Dies ist deine Urenkel, Kjell, Bjarne und Faye. Komm her, setz dich, Kleines, und nimm die Hand deiner Urgroßmutter, das wird sie beruhigen.« Althea sagte dies nicht ohne Grund. Sie wollte, dass Faye langsam ihre Fähigkeiten entdeckte, wollte sie ausbilden. Ihre Tochter sollte die Gelegenheit erhalten, eine vollständige Druidai zu werden und nicht wie sie selbst ständig in irgendwelche Fallen stolpern. Sie wusste aber auch um die Gefahr, sollte Aislinn entdecken, welche Gabe Faye besaß. Deshalb ließ sie die alte Frau zunächst einschlafen. »Und jetzt spüre, was ich tue«, befahl sie.
In einer Mischung der widersprüchlichsten Gefühle sah Kjell auf die leuchtenden Hände seiner Mutter. Noch nie hatte sie ihnen das gezeigt, sie hatte es in Saran immer verborgen und behauptet, ihre Gabe sei mit dem Fall Gildas verschwunden. Nur aus den Erzählungen der anderen, seines Onkels Phelan und seiner Tante Noemi vor allem, kannte er es, und er brauchte nur einen Blick auf die Mienen seiner beiden jüngeren Geschwister zu werfen, um zu wissen, dass sie es nicht das erste Mal sahen. Eifersucht schoss durch ihn wie ein giftiger Strahl. Dieser Fremden zeigte sie es, aber ihm nicht? Auf der ganzen Fahrt hatte sie mit ihm kaum ein Wort gewechselt, aber mit Faye sich lautlos unterhalten!
Mit brennenden Augen wich Kjell zurück und stieß dabei mit der wie erstarrt dastehenden Priesterin zusammen. Erschrocken fuhren sie beide auf.
»Was... was ist das?«, keuchte sie.
»Mutter ist eine Druidai, die Erbin der alten Priesterschaft«, erwiderte Kjell. ›Und du bist keiner‹, hämmerte es in seinem Kopf, und er wunderte sich nicht, wie bitter seine Worte klangen. Er gehörte nicht dazu. Verachtete seine Mutter ihn gar? Weil er seinem Vater, weil er Roar so ähnlich war? Auf einmal verspürte er den Drang zu heulen wie ein kleiner Bengel. Er hielt es nicht mehr aus und floh aus dem Gemach, rannte einfach blindlings davon.
Irgendwann kam er wieder zu sich, keuchend nach Atem ringend. Er fand sich auf der äußersten Seeseite der Insel wieder. Tief unter ihm toste die See gegen den Felsen, er wurde von einem salzigen Nebel eingehüllt, der klamm und kalt über seine Haut strich. Das Wetter war umgeschlagen, es würde Sturm geben. Die Wellen und die in gischtigen Nebel gehüllte Küste waren ein beeindruckender Anblick, dem er sich selbst in seiner Aufgewühltheit nicht verschließen konnte. Sie halfen ihm, sich zu beruhigen. Bald hockte er, das Kinn auf die angezogenen knochigen Knie gestützt, auf den Felsen und schalt sich einen kindischen Narren.
Seine Mutter war Heilerin, und natürlich wollte sie helfen und herausfinden, wie begabt seine kleine Schwester war. Denn im Gegensatz zu ihm und Bjarne hatte sie Faye ja nicht erlebt, sie nicht aufwachsen sehen. Ihnen war allen klar, dass sie etwas Besonderes war. Er war mitgekommen, um Faye zu beschützen, und, das wurde ihm nun in aller Deutlichkeit bewusst, weil er sich vor seinen Geschwistern hatte beweisen wollen. Kein Gedanke an seine Mutter, er war selbst schuld, dass sie ihm voller Vorbehalte entgegen gesehen hatte. Weil er sie nicht freundlich behandelt hatte, sondern voller Abwehr. Verdammte Eifersucht! In diesen Stunden lernte Kjell eine bittere Lektion über sich selbst, und diese Erkenntnisse machten ihn ein ganzes Stück erwachsener. Mit dem festen Entschluss, es nie wieder so weit kommen zu lassen, sondern immer für sie da zu sein, stand er auf.
Wie war er nur hierher gekommen? Er vermochte es nicht mehr zu sagen. Überall um ihn herum war nur schroffer steiler Fels und ein tiefer Abgrund. Wo war der Weg zurück? Kjell beugte sich vorsichtig nach vorne. Ah, dort unten war ein Pfad. Vorsichtig kletterte er zu ihm herunter und stellte fest, dass er versteckt durch die Felsen lief. In der Hoffnung, dass der Pfad ihn einmal um die Insel herum zu den Gebäuden zurückführen würde, folgte Kjell ihm, sich gegen den stärker werdenden Wind an den Felsen festklammernd.
Er konnte nicht ahnen, dass er dabei gegen ein Tabu verstieß. Sämtlichen Priestern und Novizen war es streng verboten, diesen Pfad zu benutzen, denn er war bei starkem Wind und Eis sehr gefährlich, und zudem hatte SEIN Angriff vor Jahren einen Teil der Felsen ins Meer gespült. Mehr als einmal musste Kjell waghalsige Kletterpartien unternehmen, um einen Felssturz zu überwinden, unter sich nichts als nackten, glatten Fels und die tosende See. Ohne dass er es ahnte, wandelte er dabei auf denselben Pfaden, die seine Mutter und ihre Freunde einst benutzt hatten. So gelangte er mühsam auf die windabgewandte Seite der Insel, auf der er ein wenig verschnaufen konnte. Irgendwo musste es hier doch einen Aufgang geben? Er hob den Kopf und erkannte ein paar Mannhöhen über sich den Beginn einer Mauer. Also waren dort Gebäude. Vielleicht war hier ja irgendwo eine Tür oder eine Treppe?
Gleich darauf verwandelte sich der Pfad in einen von dornigem Gestrüpp überdachten Tunnel, und tatsächlich, da war auch eine Tür. Kjell beschloss sie zu nehmen, bevor er noch in die Tiefe gerissen wurde.
Hinter der Tür führte eine schmal gewundene Treppe steil nach oben. Von irgendwo her fiel Licht herein, sodass er ihr problemlos folgen konnte. Durch einen verdeckten Durchlass trat er erleichtert ans Licht, nur um gleich darauf zu erstarren. Er stand mitten in einem Priestergemach, wie er es deutlich an der Schlafstätte, den Dokumententruhen und dem Schreibpult erkennen konnte. Dutzende Öllampen erhellten die vielen Ecken und Winkel und sagten ihm, dass er nicht allein war.
›Verdammt!‹, dachte er. Jetzt war er wirklich in Schwierigkeiten. Er zog hastig die Luft ein und wollte zurückweichen, aber zu spät. »Darf ich fragen, was du hier zu suchen hast?«, fragte eine strenge Stimme neben ihm.
Kjell fuhr herum und fand sich einem Priester gegenüber, der ihn mit verschränkten Armen musterte. Sein Schreck währte jedoch nur einen Moment, dann erkannte er ihn. »Galvin!« Er schlug seine Kapuze zurück.
»Bei den Göttern! Kjell?! Wie kommst du denn hierher?« Galvin begrüßte ihn völlig entgeistert. »Hat Maret dich geschickt? Bist du mit deinem Vater hier? Habt ihr von Thea...?«
»Sie ist hier«, platzte Kjell mitten in seinen Redeschwall hinein.
»Wer? Maret?« Galvin runzelte die tätowierte Stirn.
»Nein, nicht Maret. Ich bin mit meiner Mutter hier.«
»Deiner...« Galvin starrte ihn an, und Kjell nickte. Es dauerte einen Moment, bis Galvin diese Neuigkeit in vollem Umfang begriff. Dann war es um seine Fassung geschehen. Er wurde totenbleich und wich zurück, drehte sich um, schlug die Arme über dem Kopf zusammen und lehnte sich mit der Stirn an die kühle Wand, als wolle er nicht, dass Kjell seine Schwäche sah. »Sag, was ist passiert? Wo habt ihr sie gefunden? Wie ist sie...?« Die letzte Frage ging in seiner erstickten Stimme unter.
Da begriff Kjell. Er dachte, sie hätten ihren Leichnam mit hergebracht. »Aber nein, sie ist nicht tot. Sie ist zurückgekommen, sie ist oben bei Aislinn und hilft ihr.«
»Waas?!« Galvin fuhr herum, und Kjell konnte ein paar glitzernde Spuren in seinem hellen Bart sehen. »Sie lebt?« Galvin kam auf ihn zu, packte ihn bei beiden Schultern. »Ist das wirklich wahr?«, fragte er, wollte es noch nicht glauben, aber als Kjell nickte, stieß er einen Jubelschrei aus und umarmte ihn.
Kjell kam dieser abrupte Umschwung merkwürdig vor, daher machte er sich schnell wieder von Galvin los. »Mutter kam durch die Sümpfe nach Saran zurück, gerade noch rechtzeitig, um... um...« Er schluckte und konnte nicht weitersprechen. Es gärte immer noch in ihm, trotz aller Erkenntnisse.
Galvin hatte schon immer eine besondere Wirkung auf die jungen Menschen Temoras gehabt, zumal er mit den Jahren ein guter Zuhörer und vor allem ein guter Menschenkenner geworden war. Außerhalb der regulären Ränge der Gemeinschaft zu stehen, erlaubte ihm einen völlig anderen Durchblick. Die widersprüchlichen Gefühle im Gesicht von Altheas und Jeldriks Sohn sagten ihm, dass etwas Ernstes geschehen war. Sofort wurde er sehr wachsam. »Was ist passiert? So schlimm? Komm, setz dich und erzähl. Warum seid ihr hier?«
Einem Dritten, quasi Unbeteiligten die ganze Geschichte erzählen zu können, half Kjell mehr, als er sich hinterher eingestehen mochte, und dass Galvin als Saraner auch die Folgen der Entwicklung gut abschätzen konnte, umso mehr. Zum ersten Mal konnte er offen sprechen, denn er dachte, Galvin als Priester würde diese Dinge nicht für eigene Zwecke missbrauchen. Nur, da täuschte er sich sehr. Denn Galvin war kein Unbeteiligter.
Bald war dieser vollends über die Ereignisse im Bilde. Er hatte Kjell Mut zugesprochen und Trost, innerlich jedoch konnte er die kleine warme Flamme der Freude nicht unterdrücken. Althea war zurück... Althea war zurück... und sie hatte Jeldrik verlassen. Sie war frei! Als leise Schritte und Stimmen vor der Tür laut wurden und es klopfte, war es um seine Beherrschung geschehen.
Kjell musste schlucken, als er sah, wie Galvin seine Mutter in die Arme schloss, ihren Kopf mit beiden Händen umfasste und ihr einen stürmischen Kuss auf die Stirn gab. Bisher hatte er immer gedacht, die beiden seien gute Freunde, aber einen winzigen Moment lang blitzte eine durch nichts verhüllte Freude in Galvins Gesicht auf, und das Begehren in seinen Augen zeigte deutlich, wie es wirklich um ihn bestellt war.
›Er liebt sie‹, dachte Kjell und bereute es sogleich, dass er so offen gewesen war. Er hatte ihm viel zu viel verraten. Für diesen Mann war das Wissen, dass seine Mutter seinen Vater verlassen hatte, ein Geschenk der Götter, das sah er deutlich. Galvin hatte alles mit Leichtigkeit aus ihm herausgeholt, ihn ausgenutzt. Es war eine weitere bittere Lektion für Kjell, wie dumm und naiv er gewesen war, einem Fremden die innersten Familiengeheimnisse anzuvertrauen, und mit Genugtuung sah er, wie seine Mutter ihren Freund rasch wieder losließ.
Von Galvins wahren Gefühlen war freilich nichts mehr zu sehen, als die beiden sich voneinander lösten und er lächelnd auf sie herab sah. Da wirkte er wie ein Freund, ein besorgter Freund. »Du siehst müde aus. Dein Sohn hat mir schon erzählt, was geschehen ist. Willst du zu deiner Familie?«
Althea nickte und wandte sich ab. »Ja, das will ich, so schnell wie möglich. Ich konnte nicht in Saran bleiben.«
Galvin musste wohl erkannt haben, dass sie einen Moment Ruhe brauchte, denn er trat zurück und bedrängte sie nicht weiter. »Weiß Gayle schon, dass du hier bist? Nein? Dann werde ich sie holen. Setzt euch doch. Dort hinten findet ihr etwas zu essen und zu trinken. Ich bin gleich wieder da.«
Kaum war er fort, sank Althea geschwächt auf eine der Truhen. »Mutter, geht es dir gut?«, fragte Kjell besorgt.
Althea hob beruhigend die Hand. »Es ist nichts. Die Heilung deiner Urgroßmutter war anstrengend, das ist alles. Komm her, kleine Fee«, sie streckte die Hand nach ihrer Tochter aus, die immer noch mit ihrem jüngeren Bruder an der Tür stand, »gib mir ein wenig von deiner Kraft.«
Staunend sah Kjell, wie Fayes Hand in der ihrer Mutter zu leuchten begann. »Du kannst es?«, fragte er verblüfft.
»Ja. Hab’s gerade gelernt«, wisperte Faye, weil ihre Mutter die Augen geschlossen hatte und ein wenig ruhte. »Ich glaube nicht, dass Urgroßmutter es gemerkt hat, aber sie wollte trotzdem nicht, dass ich gehe.«
»Nein, das kann ich mir vorstellen«, sagte da Althea. »Sie hat versucht, dich an sich zu binden, nicht wahr?« Faye nickte zögerlich. »Oh, sie hat sich nicht verändert! Eine Novizin, die ihre eigene Urenkelin ist, würde ihr zu einer ganz anderen Machtposition verhelfen, auch ohne dass sie von deinen Fähigkeiten weiß. Wenn sie es wüsste, wärest du in großer Gefahr, kleine Fee, verstehst du das?«
»Sie würde von mir verlangen, alles zu tun, was sie will?«
»Nicht nur sie, sondern alle. Sollten sie entdecken, dass du heilende Kräfte besitzt, dann würden sie dich zwingen, alle zu heilen, die krank sind, und nicht nur sie.« Sie erklärte ihrer Tochter ein wenig, welche Verbindung eine Druidai mit den von ihr geheilten Menschen einging und welche Gefahr damit verbunden war. »Und wenn du dich weigerst, würden sie versuchen, dich zu brechen. Deshalb halte deine Fähigkeiten geheim, hast du verstanden? Dann gerätst du nicht in diese Falle.«
Faye nickte stumm, doch plötzlich riss sie die Augen auf. »Oh nein! Ich bin durch den Ring gelaufen! Jetzt ahnen sie bestimmt etwas.«
»Ja, das ist jetzt nicht mehr zu ändern«, seufzte Althea. »Wir müssen uns etwas ausdenken, solltest du einmal zu ihnen gehen. Aber keine Angst, diese Gefahr droht dir nicht jetzt. Wir gehen nach Gilda.« Althea machte die Augen auf und lächelte ihrer Tochter beruhigend zu, was die Kleine erleichtert erwiderte.
»Das ist auch besser. Die Alte ist eine Hexe«, sagte Bjarne verächtlich. »Sie hat Faye Angst gemacht.«
»Bjarne! Wie redest du über deine Urgroßmutter?«
»Ist doch wahr...«
»Klingt ganz nach Aislinn«, sagte da eine Stimme von der Tür. »Thea!« Gayle lief auf sie zu und umarmte sie stürmisch und noch völlig außer Atem. »Bei den Göttern, wie hatte ich gehofft und gebetet...«
»Ich weiß, ich weiß es«, flüsterte Althea und drückte ihre Freundin tröstend an sich, weil diese prompt in Tränen ausbrach.
Nachdem sich der erste Sturm der Gefühle gelegt hatte, saßen sie, bis es draußen dunkel wurde, in Galvins Gemach beisammen, aßen und tranken und redeten. Althea erzählte ihnen fast alles, was sie erlebt hatte, nur ihre Gefühle Jeldrik gegenüber verschwieg sie, und hieran lernte Kjell die kleinen, aber feinen Unterschiede zwischen guten Freunden und Vertrauten.
»Du hast Aislinn also gesund gemacht«, sagte Gayle irgendwann und lächelte Faye zu, was die Kleine aber nicht erwiderte. Die Kinder waren merkwürdig schweigsam, und keiner von Gayles Versuchen, sie aus der Reserve zu locken, hatte bisher gefruchtet. Sie rätselte, weshalb. »Ha, da werden einige aber bitter enttäuscht sein, allen voran Marets Arnor, der sich gute Chancen ausgerechnet hat, an Aislinns statt in den Rat aufzurücken. Daraus wird wohl erst einmal nichts.«
Ihre Stimme war so voller beißendem Spott, dass Althea aufhorchte. »Du bist nicht gerade eine seiner Bewunderinnen, oder?«
Gayle schnaubte. »Weißt du, gerade er, als einer der einflussreichsten Auserwählten, hätte viele Änderungen bewirken können, aber was hat er getan? Was hat sich verändert? Nichts, rein gar nichts! Die Gemeinschaft ist abgeschottet wie eh und je, die Rituale fast dieselben, stimmt’s, Galvin?«
»So ist es. Sie haben nichts gelernt. Immerhin wurden seit SEINEM Angriff eine Menge gesunder Kinder geboren, sodass wir genug Nachwuchs haben...«
»Woran du ja nicht ganz unschuldig bist, nicht wahr?«, frotzelte Althea. »Ist Niunes Kind gesund auf die Welt gekommen?«
»Ja, ist es«, antwortete Gayle. »Sie schieben es auf deine Kraft.«
»Damit hatte ich nichts zu tun, mein Licht war nicht verfügbar, es hat dich geschützt, kleine Fee«, wehrte Althea ab und legte den Arm um ihre Tochter.
Gayle betrachtete das Bild andächtig. Wie ähnlich sie sich sahen, nur diese Augen... Wenn Faye älter war, würde sie sich vor Bewunderern kaum retten können. Sie hatte etwas ungemein Anziehendes, und Gayle hoffte für ihre Freundin, dass sie ihre Tochter genug vor den Fallen dieser Welt wappnen konnte. »Wenigstens da haben sie dazu gelernt«, seufzte sie. »Wenn eine Auserwählte auch nur kleinste Anzeichen zeigt, dass sie empfangen hat, wird sie von allen Ritualen ausgeschlossen.«
»Das klingt nach einer Strafe, Gayle«, merkte Althea verwundert an. Für sie war der Schutz des neuen Lebens das Höchste.
»Das ist es auch, finde ich. Du schenkst der Gemeinschaft neues Leben und darfst zum Dank dafür nicht mehr den Göttern nahe sein. Es gibt viele Auserwählte, die nicht wollen, dass sie empfangen.«
»Und sie finden auch Mittel und Wege dafür, das möchte ich wetten«, sagte Althea mit einem unauffälligen Blick auf ihre Freundin. So sehr Maret sich ein Kind wünschte, Gayle hätte bestimmt genügend Gelegenheit dafür gehabt. Sie wollte nicht, das ahnte Althea. »Wäre es denn nicht eine echte Aufgabe für dich, einen Weg zum Göttlichen zu finden, ohne diese schädlichen Tränke einzunehmen?«, fragte sie leicht spöttisch lächelnd. »Das würde dir sicherlich einige Ehren eintragen.«
»Du meinst...?« Gayle wechselte einen erstaunten Blick mit ihrem Bruder, und der hob die Schultern. Verblüfft stieß sie die Luft aus, bevor sie auflachte. »Das sieht dir ähnlich! Oh, wie habe ich deine verrückten Einfälle vermisst!« Spontan umarmte sie ihre Freundin und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ja, das werde ich, ganz bestimmt, und wenn ich es mit meinem Bruder ausprobieren muss.«
Galvin verschluckte sich an seinem Wein. »Ich?? Ich mit dir auf dem Weg zum Göttlichen?«, keuchte er so entsetzt, dass die beiden Frauen in Gelächter ausbrachen. »Danke, nein, das ist mir zu viel der Ehre. Da musst du dir jemand anderen suchen.«
»Gibt es denn jemanden, dem du genug vertraust, dass du das wagen kannst?«, fragte Althea, die sehr wohl wusste, wie gefährlich die Rituale waren. Durch die Erzählungen ihrer Freundin wusste sie, dass es vor allem darum ging, sich so zu verausgaben, dass sich der Geist vom Körper löste, sei es durch Schmerz, durch Lust oder eben durch die Tränke.
»Nein, nicht wirklich«, antwortete Gayle und seufzte leise.
»Sie hat einen Schwarm«, spöttelte Galvin grinsend.
»Ach?«
»Oh ja, und er...«
»Hör auf!«, rief Gayle und wurde zu ihrem sichtlichen Ärger rot. »Es ist nichts. Ich habe mir geschworen, nie wieder...«
»Ach Gayle«, Althea griff ihre Hand, »nimm es doch einfach als Geschenk, bevor dir die Gelegenheit entgeht, die Liebe deines Lebens zu finden.« Bevor sie die Worte ganz zu Ende gesprochen hatte, bereute sie diese schon, denn all der Schmerz kam unmittelbar zurück. Hastig wandte sie den Kopf ab und biss sich auf die Lippen, weil unwillkommene Tränen hochkamen.
»Thea, nicht... denke nicht daran. Schau nach vorne, auf deine Verwandten in Gilda«, tröstete Gayle. »Auf Phelan, auf Noemi...«
Althea holte zitternd Luft. »Es ist spät. Ich glaube, es ist Zeit zu gehen. Faye muss...«
»Ist schon gut, Thea.« Gayle drückte ihre Hand und unterband den aufflackernden Protest ihres Bruders mit einem warnenden Blitzen in ihren Augen.
Die Zwillinge brachten ihre Besucher ungesehen bis zum Tor hinunter. Dort wachte zu dieser späten Stunde niemand mehr, sodass sie ungestört voneinander Abschied nehmen konnten.
»Ich wünschte, ihr würdet noch ein paar Tage bleiben, aber ich merke, dich zieht es mit Macht fort«, sagte Gayle, die Althea als Letzte umarmte. »Lass uns wissen, wie es euch ergangen ist. Schreibt uns nicht erst aus Gilda, ja?«
»Wir werden sehen«, wich Althea aus. »Kommt, Kinder, gehen wir.« Sie lächelte den beiden abwesend zu und nahm ihre Tochter bei der Hand. Stumm schauten die Zwillinge zu, wie sie mit ihren Kindern die Wiese überquerte und im Schatten des Waldes verschwand.
Gayle seufzte leise. »Egal, was du jetzt denkst, egal, was du jetzt fühlst, sie ist stärker mit Jeldrik verbunden als je zuvor. Nein, sag nichts, Bruder!« Gayle hob die Hand, und Galvin klappte seinen Mund wieder zu. »Ich konnte dir jeden Gedanken ansehen.«
Es überlief Galvin kalt. »Glaubst du, sie...?«
»Nein. Dafür ist sie noch viel zu sehr in den vergangenen Ereignissen gefangen. Aber ihr Ältester, der hat’s bemerkt, und da er so misstrauisch war, hat sich das auf seine jüngeren Geschwister übertragen. Vergiss es, ein für alle Mal! Sie wird dir nicht gehören, niemals.«
Damit ließ sie ihren Bruder stehen, und er blieb in düsteren Gedanken zurück.
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