Читать книгу "Sweetheart, es ist alle Tage Sturm" Lyonel Feininger – Briefe an Julia (1905–1935) - Lyonel Feininger - Страница 10
Оглавление4. Oktober 190512 [Berlin]
[…] Ich bin voller, voller Mut und voller Vertrauen in den guten Stern, der über uns steht. Es kann aber vorkommen, und es kommt vor, dass ich manchmal auf eine Weise leide, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Ich muss dir das sagen, denn es ist süß und gut, wieder zu leiden, nach all den Jahren inneren Totseins von Herz und Hirn, durch die ich gegangen bin. Es wird dir viel bedeuten zu wissen, dass ich leiden kann, dass mein Mut nicht bloss deshalb vorhanden ist, weil ich fühllos bin […]13
d. 13. Oct. 05 [Berlin]
[…] Oh darling, warum hasse ich briefliche Tüfteleien so und vermeide sie? weil 10 Jahre lang meine Eltern sich durch ihre Briefe langsam zu Tode marterten. Ist ein Brief einmal geschrieben und losgelassen in einer besonderen Stimmung, dann in Gottes Namen soll der Empfänger bedenken: diese Stimmung, die Nüance kehrt vielleicht niemals wieder und wie alle Stimmungen, ist wahrscheinlich längst verflogen oder ins Gegenteil umgewandelt. Nimm sie hin, sie wurde Dir in grenzenlosem Vertrauen eines liebenden Herzens geschenkt. … und zerpflücke sie nicht, wenn Dir das Vertrauen lieb ist, das Dir geschenkt wurde. Antwortest Du in einer kühleren Stellungnahme, so ist bereits ein zwiefaches Missverständnis fast Voraussetzung, und jedes hin und her der Briefe bringt neue Missverständnisse. Die treffendste Antwort einer Stimmung, wenn sie nicht augenblicklich, zur Zeit selbst, erfolgt, kommt wie ein Schlag auf den Empfänger. …
d. 14. Oct. 05, abends [Berlin]14
… ich sandte Dir heute, oder war es gestern, einen ganz schlechten Druck der nächsten »Lustigen« Seite.15 Vieles ist ganz anders geworden, als ich wollte – es ist immer eine Entmutigung und vor allem eine künstlerische Ungeheuerlichkeit, dass die wichtigsten Faktoren einer Wirkung so ganz willkürlich von halbgebildeten Handwerkern gehandhabt werden, bei diesen Blättern. Ich bitte Dich nicht einen Moment zu glauben, dass ich jemals einen solchen Zentner schweren, schwärzlichen Himmel beabsichtigt habe und ein Gesicht an König Eduard von England als wäre er eine in Verwesung übergegangene Pfirsichleiche! Doch bei allem hat das Blatt etwas ausser dem Gewöhnlichen, selbst bei aller Verkehrtheit – ich möchte ein Bild so komponiert sehen, in Lebensgrösse. Es sind ja, leider, alles Axthiebe, die ich von mir gebe – wie soll etwas ausgereiftes, differenziertes entstehen? Aber ich könnte wohl, wenn! Und einmal wollen wir schon sehen. Nicht aus Ehrgeiz – nicht, bei allen Göttern, sondern aus dem innersten Gefühl der Überzeugung sage ich das. Pouf! Boum! wie der Franzose sagt, wenn einer grosse Worte macht. Liebe, mir ist jetzt wieder wohl, ich habe meine Citrone und meine Zwiebel gegen die Wand geschmissen, es hat aufgehört zu regnen draussen, meine unfertige 20 Mark-Dreck-Zeichnung (pardon) an der ich sündhafter Mensch seit zwei Tagen arbeite ohne etwas Gescheidtes draus zu drehen, habe ich verschmerzt – und in 20 Minuten kommt ein Brief von Dir.
[…] Ich schrieb ebenfalls neulich viel über unsere Findetage, aber mir ist die Zeit der ersten Tage so wunderbar und ach, so kuddelmuddel geraten – ich lebte doch in gerade den Tagen in einer so unglaublichen Zwiespalt – … wenn alles nur lustig endet. Was macht denn das Vorhergehende, der Durcharbeitungsprocess, die Gärung und das Klarwerden aus, wenn’s auch schmerzlich war? Es ist nichts umsonst. …
Sonntag, d. 15. Oct. [Berlin]
Von nun ab gelobe ich Dir ganz einfach und dumm Englisch zu schreiben, wenn es wieder so schlimm mit mir wird wie heute, vorhin. Du musst dich damit dann begnügen; denn ich will nicht solche Briefe auf meine alten Tage schreiben wie die zerrissenen heutigen. Erstens weil sie nicht überhaupt zu verstehen waren, ich selbst wurde nicht aus ihnen klug als ich sie überflog. Und dann weil ich in ihnen so verdammt waschlappig erscheine und das bin ich nicht. Ich bin seit einigen Tagen etwas überreizt von zu wenig Schlaf und dann, das weisst Du ja, bin ich überhaupt ein empfindsamer, eindrucksfähiger Mensch; komme mitunter in eine melancholische Stimmung hinein. Das alles war früher nicht, ich bin einfach nicht so viele starke Eindrücke gewohnt. Bedenke wie ich gelebt habe! abgestumpft und gleichgültig, taub für äussere Eindrücke – und jetzt ist alles gleich so wunderbar lebendig und schön. … If I could but write just as I feel, without this dreadful searching for expression, I could be happy.16 … Die »Julia«, meine Lieblingsyacht, hängt über meinem Schreibtisch.17 …
16. Oct. 05 abends [Berlin]
… Der frische sonnige Herbst-Sturm, der heut den ganzen Tag fegte, hat auch in mir den letzten Rest von Wolken und Spinnweben fortgeweht – es ist jetzt lauter Sonnenschein und blauer Himmel. Wenn ich jetzt nicht eine gute »Ulk« Seite diese Woche mache, heiss ich Matz. (Die letzte war nämlich so schlecht, dass ich sie Dir garnicht erst schicken wollte. Die habe ich aber auch an dem Dienstag d. 3. gezeichnet) … Es folgt nicht immer daraus, dass ich schlechte Sachen mache, wenn ich unglücklich bin, denn Du wirst erstaunt sein, ich habe die »Lustige« Seite, die Du gut findest, an dem grauenhaften Montag gezeichnet … trotzdem ich halb verrückt war, wollte ich doch ein »Kerl« sein … ich bin froh, dass das Blatt Dir gefällt … Heute habe ich Dir die Lustigen geschickt … alles Fro[h]narbeiten … unvollkommen in der Auffassung, weil sie nach Skizzen anderer gemacht worden sind. Aber damit muss ich Geld verdienen. Wenn es keine andre Arbeit gibt, muss ich eben die nehmen, die ich bekommen kann und noch dazu froh sein. Du wirst Dir sagen, dass wir mit dem, was uns materiell unserm Ziel näher bringt, nicht uns streiten sollen, mit dem Broterwerb. Es ist traurig genug, ich muss ja davon leben, und Gott danken dafür als eine Extra-Gabe, wenn ich wirklich alle 4–5 Bilder eines nach meinen Begriffen schaffen darf. »Darf« – ich darf immer – blos können! Ich bin eben ungleichwertig, und für vieles, was andere spielend bewältigen (wenn auch oberflächlich) bin ich schwerfällig und muss mich schrecklich quälen. Heute machte ich zwei Bilder fertig, das eine recht gut, (Du wirst es im nächsten »Ulk« sehen) habe ich in zwei Stunden spielend gemacht, fix und druckfertig, das andere Bild ist heute Abend endlich fertig geworden, und ich habe seit Donnerstag daran gewurschtelt und mich halb krank angestrengt. Mir tut die Brust ganz weh vom vielen Gebeugt-Sitzen – und es ist ein Dreck, sage ich Dir … und bringt mir ganze 20 Mark ein. Dafür 3 ½ Tage sich quälen, nicht allein physisch, sondern seelisch … Du wirst ganz traurig sein, dass sowas möglich ist … Du sagtest neulich … über meine Ton-Bilder … in den Mitteln18 … zuerst trifft so etwas wie ein Peitschenhieb … aber dann dankt man für die Erleuchtung, befreit von einer Zwangsvorstellung, und ich schöpfe daraus Bestätigung für die Art zu arbeiten, die wirklich die meine ist: Fläche und Linie. … Alles kann doch künstlerisch gestaltet werden, man muss eben können – – und das andere, was nicht die Seele, als selbstverständlich – als Mittel zum höchsten Ausdruck dem unterstellen. Es hat noch kein Mensch ausser Dir an »Korea Strasse«19 je die Seele gefunden. Gott – es ist ja eine verstümmelte Seele, hundert Unvollkommenheiten in eben so vielen Kleinigkeiten, durch Verdrucken, verätzen, auf dem langen Weg vom Kopf bis durch das Clichieren, das Drucken – und zum ersten Mal bin ich nicht zur Verantwortung gezogen worden, wieso, warum das Wasser – violett und nicht blau!
Über meine Träume habe ich keine Gewalt, ich habe schreckliche Dinge geträumt, schrecklich. Aber wenn’s dabei bleibt, ich will keine Taggespenster haben. …
Abends, Montag, d. 30. Oct. 05 [Berlin]
… today, all the afternoon I have been thinking of our work, our studies together later on, soon; … I feel again the strength to work better … dear, I am growing young again, and my fantasy is coming back. I begin to feel more simply and naively again, and wish to work at my art once more, I have such a longing for next summer … I expect to do so much then. Everything is awake now and struggling for expression, I see with new and thirsty eyes. I remember a few months ago saying to Fürst how I envied artists who could be so eager to work, I could not understand it, because I couldn’t feel so, but now I do feel it.20 …
D. 1. Nov. Vormittags (1905) [Berlin]
… staune und – lache. Es ist 11.20 Vormittag und ich habe eine der besten Seiten soeben fertig gemacht die ich seit langer Zeit gezeichnet – und alles seit ¾ 8 heut früh und dazu noch in Abständen an Dich geschrieben. … Dein Brief gestern Abend hat mich so erschüttert, und hier hast Du das Resultat, eine gute Arbeit, mit Feuer geschaffen. Liebe verlangt nach Freud ohne Namen, oder Schmerzen unsagbare, nur der Gleichmut ist ihr Tod. Und in Leid wie in Freud, wenn sie nur gross genug waren, habe ich von jeher Gutes geschaffen. […] Wann fängt die Klasse für Lithographie an? Auch erst am 8ten? Du gehst dann hin, nicht? Du kannst in kurzer Zeit ganz wertvolle Sachen lernen in Bezug auf technische Methoden und Hilfsmittel, die teilst Du mir dann später alle mit, nicht wahr? Ich habe so grosse Lust zur Lithographie … lerne auch radieren. Ich möchte vor allem alte Städte … eine Reihe von Blättern solcher Motive machen und dann einen Lokomotiv Cyclus. […]
d. 2. Nov. (1905) früh 8.20 [Berlin]
[…] ich sitze im Erdgeschoss hinter gelbdurchsichtigen Halbgardinchen, und darüber hinweg sehe ich die Häuser vor mir, und rechts und links, soweit der Ausblick gestattet, unten noch kühl im Schattenton, nach oben schon wärmer werdend, Fensterspiegeln, unten gähnend und dunkel, oben silbern und ganz oben, in den Höhen, wo sie den blauen Himmel wiederstrahlen, sind sie tiefblau. Und diese lange Klippe von Fassaden ist im obersten Stockwerk so tiefglühend gold beleuchtet von der Sonne, die wird dann warm zurückreflektiert, auf meinen Tisch, auf diesen Briefbogen, der in gold und violetten Tönen wie ein Opal schillert – und über dem Goldstreifen des obersten Stockes der Häuserwand ein türkis-blauer Himmel, zum weinen schön. Alle Tage, alle Tage jetzt. … Spiegelnde Fenster […] das ist mein und ich schenke es Dir … spiegelnde Fenster. Als kleiner Junge schon, auf dem Land, wie habe ich sie geliebt. Das wird auch einen Cyclus geben! Sonnenuntergang, alles in goldenem und violettem Halbton, und an einer Stelle, ganz ganz weit hinten, halb durch Bäume versteckt, 2–3 Reihen von westlich gewendeten Fenstern, die das Gold des Himmels wie Speere zurückschleudern, das ganze Bild in unbeschreiblich schönen Ton versetzten. In dem schon sterbenden Ost-Himmel, dem »Gute Nacht« Himmel sind plötzlich Stücke, wie Edelsteine vom sonnendurchglühten Westhimmel, ganz frank und keck hingesetzt – mir ist dies gewaltsame Aneinandersetzen von zweierlei Himmel immer etwas unheimlich schönes gewesen. … Lust zu allem, zu allem … zu solchen Zeiten bin ich mir bewusst, kein Dutzend Mensch zu sein … Alles durch Dich, alles. Über den Trennungsschmerz brachte ich kaum einen Ton heraus, wie konnte ich das, wo ich schon allem anderen voraus, dem Lichte zustrebte – … gefährlich ist’s, den »Leo« zu wecken … so viel habe ich seit einem Jahrzehnt nicht mehr gefühlt in mir von Lust und Hunger … nach Schaffen. So – Pause, meine Gier muss sich an einem Regenwurm21 satt tun, habe zu arbeiten, sonst komme ich in Teufelsküche. …
d. 5. Nov. 1905 [Berlin]
… I shall surely send you the Regenwurm when it is printed … and think dear, that even so humble a work as that … may advance us in the Attainment of our high aim – that money goes to the savings bank to morrow22 – Gott vergib mir das schlechte Bild … es steckt so viel in mir. Sei nur traurig mit mir, dass ich auf diesem Wege mein Geld verdienen muss, anstatt mit Holz hacken oder sonst einem ehrlichen Gewerbe, das nicht die Begabung in einem schändet. […]
früh morgens, d. 10. Nov. 05 [Berlin]
[…] Ich brauche ebenso sehr wie Du Paris, und in absehbarer Zeit pilgern wir dahin. Man kann ganz klein und billig dort leben, als Kunststudent, ich kenne das so genau … So wenig wissen wir immer noch von einander … Wer bist Du denn? Hast Du mich jüngst gefragt. Ich bin wirklich in New York geboren, aber schon im zartesten Kindesalter im Sommer stets monatelang auf dem Lande, in Connecticut gewesen. Mit 4 Jahren liessen mich meine Eltern ganz mit lieben Farmersleuten auf dem Lande,23 mit Leuten die ich, und später meine Schwestern, so liebten, eigentlich jahrelang mehr als unsere wirklichen Eltern. Die waren für uns, wenn sie auf wochenlangen Besuch im Sommer zu uns kamen, eigentlich für unsere Begriffe wie ein Fürstenpaar. Sie waren gefeierte Künstler und wir hörten in aller Munde nur Ausdrücke der höchsten Bewunderung für sie. Auch schienen sie uns Kindern das schönste Menschenpaar auf der Welt zu sein. Meine Mutter mit ihren glänzenden hellen Schleppkleidern, Conzertkleidern, war mehr als irgend eine Kaiserin und mein V A T E R! Gott, das alles ist heute noch in mir, diese unvernünftige, kritiklose Hinnahme alles dessen, was meinen Vater überhaupt ausmacht. … am 26. Oktober um Mitternacht herum, im Jahre 1887 bin ich in Hamburg auf der »Gellert« im Hafen angelangt.
… Nachmittags … Nebenan, eine der herrlichsten Fugen, die Bach jemals schrieb – und das Schaf, das da spielt, verhunzt sie, zum Weinen. … ach, jetzt spielt sie doch etwas, was sie wirklich kann – eine reizende Étude von Chopin – nun wirds bald besser in meinem Kopfe, wenn auch das Herz einstweilen noch nicht so recht hüpfen will. Bach kann ich nicht verhunzen hören – man kann ihn gerne schlecht spielen, wie ich, aber es muss im Bach’schen Stil erfasst sein und das können so wenige. …
Nachmittags, Sonnabend, d. 11. Nov. 05 [Berlin]
… heute Nachmittag gehst Du in die Lithographie Klasse und lernst hoffentlich etwas über den »D-ief-T-ruck«24 – und ich muss in die Lustige Sitzung, wenn sie wenigstens lustig wäre – aber es ist alles andere als gerade das. … heute früh um ½ 11 war es noch so dunkel, dass wir in der Ulk-Konferenz die elektrischen Lichter brannten. Der Himmel war ganz schiefergrau in der Königgrätzer Strasse als ich durch zur Prinz Albrecht Strasse ging – so eine sohsige25 … Stimmung, dabei hat es ganz feinen Nebelniederschlag gegeben – weisst Du so alles nass und doch halb-fester Modder, da hat alles so einen gelblichgrauen famosen, mitunter sehr tiefen Ton – und dazu steht dann ein Blau, einfach himmlisch, das Ganze schreit danach. Ja, so eine Stimmung war wie auf meinem Bild in den Lustigen Blättern im vorigen Jahr, wo der kleine Bülow vor den 3 Riesenweibern steht, vorm Reichstag, mit der blauen Aktenmappe unterm Arm. Solche Tage finde ich kolossal charakteristisch für Berliner Regentage … gleichmässig über die ganze Stadt erstreckt, die und Abenddämmerung – Kampf zwischen dem westlichen Himmel und den früh angesteckten Lichtern und Laternen am Leipziger Platz, gegen die Bellevue Strasse zu gesehen. Wie liebe ich diesen lehmigen, schweren grau-gelben Grund für einen gelben Postwagen oder einen blauen Dienstmannskittel! Blau steht überhaupt wie kaum eine andere Farbe, gerade im Berliner Strassenton, die Häuser sind doch auch so danach schreiend gestrichen, oder werden durch Staub und Wetter so, und Asphalt hat auch so was Reizvolles in der schlüpfrigen Halbspiegelung. …
Abends. 13. Nov. 1905 [Berlin]
… I played some Bach fugues before – sitting in the dark and thought you were listening to me. They are so beautiful, but one has to hear them many times before one knows how beautiful they are – –26 …
Montag Abend, d. 4. Dec. 1905 [Berlin]
… Ich höre noch Deine Worte: Dass Du jetzt ein Jahr lang ohne Not von mir getrennt bleiben könntest – nun versuche, indem Du fleissig daran denkst, es die 13 Tage lang auszuhalten! Denn länger als die Trennung wird diesmal die Zeit unseres Zusammenseins werden! … Du und ich, wenn wir alt geworden sind, müssen wir auf eine lange Schaffenszeit in der Welt zurückblicken können. In allem! …
Donnerstag Nachmittag ½ 5 Uhr, d. 7. Dec. 1905 [Berlin]
… You must bring a few books, or even one book, to read aloud to me, dear! I Shall be so happy to have you read to me; not Hans Heinz Evers, »Die Tomate«27 – Also war heute doch Sonne, von früh auf, und jetzt scheint der gute Mond. Aber die Sonne schien mir umsonst den ganzen Vormittag … denn um 10, die Zeit wo sie jetzt über die vis-à-visigen Hausdächer herüberguckt musste ich fort, um Farb-Platten zu machen. …
Sonnabend früh, d. 9. Dec. 05 [Berlin]
… ich komme ganz fix auf’n Sprung zur Dir, ehe ich in die Sitzung fahre. …
Heute scheint die Sonne wieder und es ist auch hier in der Grosstadt Frühlingsluft so warm – und ach so matschig. Aber ich bin wie auf tausend Sprungfedern heute, mein ganzes Mensch zuckt und hüpft vor dem Gefühl der Möglichkeit unserer Zukunft und was wir aus unserem Leben alles machen wollen. Und dazu kommt noch das Verklärtsein durch die kleine Viertelstunde die ich eben, in aller Frühe, am Harmonium sass. »Ich folge Dir gleichfalls mit freudigen Schritten«28 habe ich gespielt – ein liebes Ding, fast naiv geschrieben – von wem sonst als von unserm Bach. … Ich weiss so genau noch, als ganz kleiner Junge von 4–5 Jahren, in unserem Haus in New York (wir hatten ein ganzes Haus, Souterrain und 2 Stockwerke), sass ich unten im grossen Speisezimmer in der Dämmerung, und die Ofenklappe vom grossen Heizofen, der auch den darüberliegenden Musikraum durch ein Gitterwerk im Fussboden mit Wärme versorgte, machte man mir auf, damit ich besser hören konnte – und nun sass ich da, ganz verzückt, während meine Eltern Violine und Klavier spielten – Bach, Beethoven, Mendelsohn29, Schumann, Schubert – ach, ein Schauer ging durch mich, ich glaube, kein Mensch hat geahnt, was in mir vorging. Mein Vater hat jedenfalls später mich eigentlich nicht für sehr musikalisch gehalten. Es kann auch sein, dass meine technische Veranlagung in späteren Jahren das Übergewicht gewann, und die hat mein Vater niemals richtig an mir geliebt. Ich pusselte ihm zu viel, er ärgerte sich, dass ich so gut Stecknadeln, ohne sie zu verbiegen, in meine Holzsachen, die ich baute – Boote, Lokomotiven usw. – hineintreiben konnte. Das schien ihm jedes Kunstgefühl auszuschliessen. Wie an den meisten Menschen ist auch an mir viel gesündigt worden. Oder aber? ist vielleicht die zwangsweise Entwicklung nach einer entgegengesetzten Seite hin doch von irgend einem geheimen Nutzen? Vielleicht. Jedenfalls ist mein Leben reich an Möglichkeiten und ich habe nichts Verbittertes in mir. Verbittert sein ist eigentlich, für mein Gefühl, ein Geständnis der Ohnmacht, und der Armut. … Oh Du, ich bin voll Pulver und Kugeln und die Lunte ist angezündet, so komme ich mir vor, so Gutes will ich machen, mit solchem Willen dazu. …
½ 2 Mittags, Sonnabend 9. Dec.
… Und Du hast recht mit dem was Du über ausdrucksvolle Einfachheit sagst – die kann man nur auf umgekehrtem Wege erreichen, indem man nach und nach lernt, alles Überflüssige zu unterdrücken, weil man auch das Überflüssige vollständig gelernt hat und aus dem Können heraus fortlassen darf. Das ist das höchste Können, überhaupt man soll es immer anstreben … Sonnabend ist es immer so schrecklich mit den zwei Sitzungen. Man kommt garnicht dazu, irgend etwas vernünftiges zu tun. Die Ulk Sitzung hat heute ewig gedauert, ich habe die ganze Zeit über skizziert. Alles mögliche, alle Herrn, in den verschiedensten Stellungen, irgend welche Details, Ansatz der Schultern, etc. Überschneidungen, Hände, Flecke, das schärft das Auge und regt an. …