Читать книгу "Sweetheart, es ist alle Tage Sturm" Lyonel Feininger – Briefe an Julia (1905–1935) - Lyonel Feininger - Страница 11
1906
ОглавлениеAm 8. Februar trifft Lyonel James Kelley, den Chefredakteur der Chicago Sunday Tribune, der in Europa nach Zeichnern sucht, die seiner Zeitung in dem noch jungen Genre des Comics mit anspruchsvollen Werken einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz verschaffen können. Lyonel schließt einen Vertrag über zwei Comic-Serien, »The Kin-der-Kids« und »Wee Willie Winkie’s World«. Sie erscheinen ab Mai beziehungsweise ab August und werden in einer großen Titelgeschichte prominent angekündigt. Im November stellt Lyonel allerdings die Lieferung ein, weil die Redaktion ihn in Amerika haben will, er aber noch nicht bereit ist, Europa zu verlassen, und auch wegen Komplikationen in seinem Scheidungsprozess erreichbar bleiben muss. Zudem bringt insbesondere die seinerzeit ungewöhnliche Abenteuerreihe »The Kin-der-Kids« beim Lesepublikum nicht den von den Machern der Zeitung erwarteten Erfolg. Die beiden Serien, die in ihrer gestalterischen Qualität für die damalige Zeit einzigartig sind, bleiben somit unvollendet und haben in ihrer spezifischen Art keine Nachfolge gefunden. Nach drei kurzen Pausen in der Publikationsfolge kann wenigstens »Wee Willie Winkie’s World« immerhin noch bis Januar 1907 erscheinen.
Vom 12. bis 16. Februar besucht Lyonel Julia in Weimar und wohnt im Hotel Elephant. Im März endet sein Vertrag mit den »Lustigen Blättern«, für die er aber weiterhin Zeichnungen liefert. Vom 12. März an ist er wieder in Weimar und bleibt für fast fünf Monate. Er mietet ein möbliertes Atelier in der Kurthstraße 7a, heute Bauhausstraße. Zusammen mit Julia oder allein mit dem Sportrad macht der leidenschaftliche Radfahrer ausgiebige Erkundungstouren ins Weimarer Umland. Es entstehen »Naturnotizen«, knappe Skizzen, die über die Jahre zu einem Fundus für sein gesamtes Werk anwachsen.
Für Julia und Lyonel ist es eine glückliche Zeit im beschaulichen Weimar. Doch es gibt noch eine gemeinsame Sehnsucht: Zusammen nach Paris! Als Julia ein Kind erwartet, beschließt das unverheiratete Paar, dorthin zu ziehen. Der Auftrag der Chicago Sunday Tribune macht es finanziell möglich. Sie reisen am 24. Juli nach Paris, wo sie ein Atelier, 242 Boulevard Raspail, mieten. Lyonel und wohl auch Julia zeichnen zudem in der Académie Colarossi, wo auch Frauen zum Aktzeichnen nach weiblichen und männlichen Modellen zugelassen sind. Von Paris aus bereisen sie den Sommer über die Normandie (Arcueil, Meudon und Longueil). Wie schon in Paris hält Lyonel die Architektur und das Leben in den Städten in zahlreichen Skizzen fest, nach denen später Zeichnungen, Aquarelle und Gemälde entstehen.
Lyonel erhält Aufträge für die neu gegründete Zeitschrift »Le Témoin«, bei denen er ohne redaktionelle Vorschriften seine eigenen Vorstellungen verwirklichen kann. In derselben Zeitschrift werden auch Zeichnungen von Julia veröffentlicht.
Am 27. Dezember kommt in Paris Julias und Lyonels erster Sohn Andreas zur Welt. Julias Mutter Jeannette besucht das Paar in Paris, vielleicht um Julia in der ersten Zeit zu unterstützen.
Freitag, d. 9. Februar 1906 8 ½ Uhr früh [Berlin]
… und dann habe ich ein sehr grosses Ereignis zu berichten, etwas schwer-Wichtiges, etwas, auf das ich früher wie auf einen Ruf wartete – meine Zukunft in America. Der Chefredakteur der grössten Chicagoer Zeitung, »The Chicago Tribune« war bei mir und will mich haben. Er besah sich meine Arbeiten und wir haben wohl 1 ½ Stunden gesprochen, er will Sonntag mit mir ins Reine kommen, und zittere nicht, Liebe Du, ich werde nicht annehmen, ich kann nicht. Vielleicht dass ich ihn dazu kriege in 2–3 Jahren wieder an mich sich zu wenden – aber er hat’s eilig, à brûle pourpoint,30 und wird wohl nicht wieder mir später den Vorschlag machen. — Ironie des Schicksals … ich will ihn Sonntag im Hotel Bristol aufsuchen und hören was die Bedingungen sind. Es kann sein, dass doch für später etwas dabei herauskommt. Er ist, wie er selbst sagt, 7000 Engl. Meilen hergekommen, um ganz aparte neue Kräfte zu finden für das Riesenblatt, für die täglichen Witzbeilagen – eine prachtvoll bezahlte Gattung, wenn man das »Glück« hat, beim Publikum Anklang zu finden. … was müssten wir nur schon in künstlerischer Hinsicht alles aufgeben. … Morgen Abend schreibe ich dem Mister vorher, dass ich nicht darauf eingehen kann. Ich sagte ihm bereits, dass ich nicht könne, und aus welchen Gründen, aber er wollte erst Sonntag endgültigen Bescheid haben. Und nun, Du, mir hat der Besuch so gutgetan. Ein anderer Zeitungsmensch, Correspondent der New Yorker Times, hat ihn mir zugeführt, der kennt meine Sachen sehr gut und schätzt mich kolossal hoch, und später kann dann doch etwas anderes kommen, denke ich. Und sicher ist, dass ich jederzeit hinüber kann, und dann soll’s der Teufel holen, wenn ich die Tausenden der unfertigen »Künstler« der dortigen Witzpresse nicht ausstechen kann. … ich gehe niemals als Neuling hinüber, und ein Europäisches Renommée ist colossal was wert in America.
10 Minuten nach 9, Abends
… gestern Abend bin ich genau wie Du … draussen im Schnee, fast gestorben vor Sehnsucht und einer unaussprechlichen Angst vor ich weiss nicht was. Als ob mir doch das Lebensglück mit Dir zusammen entwischen sollte, ich kann das Gefühl nicht beschreiben, es ist eine Ausgeburt unseres wahnsinnigen Zustandes. …
Sonnabend früh, d. 10. Febr. 06 [Berlin]
… wenn das morgige Gespräch sehr vorteilhaft ausfiele, was Bedingungen angeht meine ich, so dass die Sache doch nicht ohne Weiteres abzutun ginge – dann würde ich ganz schnell zu Dir auf 2–3 Tage kommen und beraten, es gibt viel darüber zu sagen. Wenn ich z. B. 24.000,– Mark jährlich (6000 Dollar) mir bedingen könnte, dann wäre für alle Mal die drückende Geldfrage verschwunden aus unserm Leben. … Beunruhige Dich nicht dass ich Dir darüber schreibe. Wir werden uns klar sein müssen dass wir vieles aufgäben was unsere Zukunft so wunderbar erfüllt … für ewig wäre es ja nicht möglich dort, aber 2–3 Jahre …
Sonntag Abend, d. 11. Februar 06 [Berlin]
… ich hatte solche Kopfschmerzen vorhin, als ich Dir das Telegramm schickte, ich musste mich hinlegen und habe Migränin geschluckt, und jetzt ist’s inzwischen ½ 8 geworden. Dann kann ich nicht sehr viel an Dich schreiben, und es ist auch nicht nötig jetzt viel zu sagen – ausser dass ich morgen, Montag, mit dem Nachmittag Zug zu Dir kommen will. … Ich stehe der Sache sehr sehr kühl gegenüber. Das einzig Gute, das ich zunächst darin anerkennen will, ist, dass ich eine schriftliche Aufstellung des Anerbietens erzielt habe und die auszunutzen ist fürs erste das Wesentliche. Ich kann nicht jetzt darüber schreiben, ich bin so seelisch beansprucht diese Tage, dass ich das Gefühl habe ersticken (zu) müssen, wenn ich Dich nicht gleich sehe, und darum komme ich morgen zu Dir. Ich will sehen, auf wie lange ich bleiben kann – meine Entscheidung muss nämlich bald gefällt werden, und es ist so vieles auch hier klar zu machen. …
Unser Wiedersehen wird ja ungleich anders, als wir es uns vorstellten. Ich wollte, ich könnte den Leuten drüben trauen. – Das waren unruhevolle Tage. Ich bin zappelig und kein Wunder. Du musst diesmal mit »Heile-heile-Segen-Händchen« helfen. Und Du! Ich muss feste arbeiten bei Dir, nehme schon Arbeit mit … habe 2 Seiten zu machen, aber dalli! und Du bist dabei. …
Sonntag, d. 4. März, 1906 gegen 1 Uhr [Berlin]
… Ich war heute früh bei Engel. Alles geht nach Wunsch. Er war sehr gut und offensichtlich ergriffen, als ich ihm eröffnete dass ich, einstweilen von hier aus, für America arbeiten wollte und feste Abschlüsse in der Weise getroffen hätte dass ich dies könne – und dass ich in Anbetracht der gesteigerten Geldinteressen mich nicht länger fest hier verpflichten kann. Jedenfalls habe ich ohne Mühe ihn … an den Gedanken gewöhnt, dass ich über kurz oder lang kündigen müsse – wiewohl ich weiter mitarbeiten würde, so lange es eben gehe …. Das Bewusstsein endlich mein eigener Herr, auch in Gelddingen zu sein ist herrlich wunderbar, das quälerische ist die Ungewissheit, aber da alles jetzt bestimmte Formen angenommen hat und die Mittel mir zur Verfügung stehen unsere Pläne auszuführen, ist Heiterkeit und Ruhe in mich gekehrt …. Von Juli ab bindet mich überhaupt nichts mehr an einen bestimmten Ort, solange ich meinen Americanischen Verpflichtungen genüge.
Abends, kurz nach 9
… wie viel hat heute die Harmonika gedröhnt, lauter Freudenchoräle mit unerwarteten Dissonanzen und Accord-Auflösungen … ich habe mich mit ihr heute zu viel abgegeben, morgen wirds anders – dann habe ich so viel vor, dass ich gar nicht mehr dazu kommen kann zu spielen. … wie tausendmal besser in jeder Hinsicht wird mein selbständiges Arbeiten, schneller, leichter – ja und künstlerisch ungleich besser, wenn es auch nicht fortwährend nach Ausdrücken für welterschütternde Ereignisse suchen muss. … Ist das ein unglaublich schöner Tag heute, ich sitze mitten in der Sonnenglorie drin, und das Fenster am Sofa ist sperrangelweit auf und es ist so warm. Auf den Dächern draussen singen die Spatzen so lustig und ich bin so fleissig und froh! Die paar Tage!
Mittw. d. 7. März 06 [Berlin]
[…] ich sehe ein, dass es doch das grösste Opfer ist das Du mir überhaupt noch bringen konntest – denn um mich bist Du heimatlos geworden. … Nun, ich könnte wohl verschiedenes darüber schreiben und es wäre doch nichts was wert wäre an Dich geschrieben zu sein. Denn ich der ich Dich liebe würde Dich lieber tot wissen, als dass Du zu Deinem alten Leben wieder zurückkehrtest, um dafür wieder in Liebe und Gnaden zu Hause aufgenommen zu sein. Ich kriege, bei aller Teilnahme für das Bedauerliche an der Sache, keine erheuchelten Phrasen heraus. Es ist nicht zu verwundern wenn ich manchmal zusammenschrecke bei dem Gedanken, dass Du vieles an das Du von Kindheit an gewöhnt warst für unser Leben aufgibst. Aber wenn ich an die Seligkeit Deines lieben Gesichts denke, wenn wir über unsere Zukunft sprechen – ist alles nichtig gegen die brausende Freude die mich erfüllt, dass wir jetzt ganz am Ziele sind und alle Opfer schon gebracht.