Читать книгу "Sweetheart, es ist alle Tage Sturm" Lyonel Feininger – Briefe an Julia (1905–1935) - Lyonel Feininger - Страница 6
Andreas Hüneke Leo und Julia
ОглавлениеEs ist ein häufiges Schicksal von Künstlerinnen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerade an einigen Stellen die Möglichkeit errungen hatten, sich ausbilden zu lassen, dass wir heute kaum in der Lage sind einzuschätzen, was sie hätten leisten können, wenn sie mit der gleichen Intensität bei der Sache geblieben wären oder hätten bleiben können wie ihre Männer. Gustav Mahler hat Alma Schindler geradezu verboten, weiterhin zu komponieren, wenn sie ihn heiraten würde. So extrem ist es meist nicht verlaufen. Aber ähnliche Fälle wie bei Julia Berg und Lyonel Feininger gab es oft. In den ersten Jahren hat sie, auch nach der Heirat und der Geburt der Söhne, mitunter noch gemalt und gezeichnet und wurde darin von ihm sogar in gewissem Maße unterstützt. Doch nach und nach trat ihre eigene künstlerische Tätigkeit immer weiter in den Hintergrund und sie bemühte sich weitgehend darum, alle möglichen Hindernisse, die Lyonels schöpferisches Tun behindern könnten, aus dem Weg zu räumen. Noch gegen Ende der zwanziger Jahre, die für das Selbstbewusstsein der Frauen so viel gebracht haben, wurde ein solches Verhalten ganz als positive Leistung und der Frau angemessen verstanden. Hans Hildebrandt schreibt in seinem 1928 erschienenen Buch »Die Frau als Künstlerin«: »Das schöpferische Wirken des Weibes im Bereiche der bildenden Kunst wäre allzu gering bemessen, wollte man es ausschließlich in den gestalteten Werken suchen. Es kann sich, ohne eine einzige persönliche ›Leistung‹, zu höchster Bedeutung steigern, wenn die Frau all ihr schöpferisches Vermögen an die Kunst eines Mannes hingibt, den sie liebt. […] Die liebende Frau hat den schärfsten Blick für Vorzüge und Mängel des Einen. Beglückt, im Schatten des Größeren sich mit der zweiten Rolle zu bescheiden, versteht sie es, seinem Gestaltungsdrange herbeizuschaffen, was er ersehnt, zahllose Hemmnisse wegzuräumen. Sie lernt mit seinen Augen sehen, weckt in sich Vorstellungen seiner Einbildungskraft.«1 Das ist eine ziemlich genaue Beschreibung dessen, was sich aus der Korrespondenz von Lyonel und Julia ablesen lässt.
Als sich die beiden 1905 begegneten, war Lyonel – der sich selbst oft Leo nannte und der später von seinen Kindern und auch von Freunden Papileo genannt wurde – bereits ein anerkannter und gefragter Karikaturist. In einer wenige Jahre vorher erschienenen Geschichte der deutschen Karikatur heißt es: »Der erste von den Berliner Zeichnern ist Lionell Feininger […]. Feininger ist jeder Aufgabe gewachsen, er schafft politische Blätter von monumentaler Wirkung in kräftigen Gegensätzen […]. In ihm steckt ein außerordentliches zeichnerisches Können, ein außerordentliches Formenverständnis.«2 Aber damit gab sich Leo nicht zufrieden – und Julia auch nicht. Er wollte sich die Inhalte, und oft auch die Gestaltung, nicht von Redaktionen vorschreiben lassen und wollte ungebunden seinen eigenen künstlerischen Vorstellungen nachstreben. Julia unterstützte und ermutigte ihn von Anfang an auf seinem Weg zum freien Künstler. Sie kannte sich in der Ölmalerei bereits aus, wollte beim Studium in Weimar ihre Maltechnik vervollkommnen – er griff 1907 erstmals zu Pinsel und Ölfarbe. Sie besuchte einen Lithografie-Kurs und wurde an der Kunstschule wahrscheinlich auch in anderen Drucktechniken unterwiesen – er ließ sich von ihr die spezifischen technischen Anforderungen erklären.
In den ersten Jahren ihres Zusammenseins scheint Julia noch relativ häufig selbst künstlerisch tätig gewesen zu sein. In den Briefen wird gelegentlich darauf eingegangen, und manchmal konnte Julia Zeichnungen in denselben Zeitschriften veröffentlichen wie Leo. Ein paar von ihren Arbeiten haben sich im Familienbesitz erhalten. Die Gemälde sind traditionell realistisch, die Papierarbeiten zeigen Einflüsse des Jugendstils und wohl auch von den Karikaturen Lyonels. All das ist am Anfang einer künstlerischen Laufbahn nicht ungewöhnlich. 1912 nahm sie an einer Silhouetten-Ausstellung teil. Es ging dabei um die neue Entwicklung der alten Kunst des Scherenschnitts. Und Max Osborn beschreibt in dem Katalog dessen modernste Form als »farbiges Scherenbild«: »Die farbigen, geschnittenen, übereinandergeklebten Papiere beschränken sich bald nicht mehr auf den Hintergrund und den Rahmen, sie bemächtigen sich der Gestalten selbst. […] Alle Geheimnisse der dekorativen Vereinfachung, ja alle letzten Geheimnisse der Malerei, das Wesen der Kunst überhaupt scheint sich hier zu verstecken: wir blicken den Gesetzen der Auswahl, der Reduktion gegenüber der verwirrenden Vielfalt der Natur unmittelbar ins Auge.«3 In diesen Zusammenhang gehörte auch Julia, und die beschriebenen Werke sind eigentlich Collagen, wofür damals allerdings noch nicht dieses Wort verwendet wurde. In diesen Collagen war sie Leos späten, flächenbetonten Karikaturen sehr nahe. Gleichzeitig schuf Leo Gemälde, die meist mit Figuren bevölkert sind, die aus seinen Karikaturen entnommen zu sein scheinen. Gerade im Jahr 1912 entstanden daneben die ersten reinen Architekturkompositionen. Aber ganz verschwunden sind die komischen Figuren und ist das Groteske nie aus seiner Kunst. Für ihn blieb charakteristisch, dass er immer wieder auf Älteres zurückgriff und versuchte, aus ihm heraus ins Zukünftige vorzustoßen. Das liegt schon in dem Prinzip der Arbeit nach den »Naturnotizen« begründet, die er unermüdlich überall sammelte, wo er unterwegs war. Auf sie konnte er Jahre und Jahrzehnte später noch zurückgreifen.
Die fast pausenlose Beschäftigung mit seinen Gemälden, Zeichnungen und Aquarellen, und dann plötzlich ab 1918 ein paar Jahre lang auch mit Holzschnitten, brachte Julia dazu, immer mehr der organisatorischen Arbeit, die Leos wachsende Bekanntheit mit sich brachte, auf sich zu nehmen, um ihm unliebsame Ablenkungen von ihm fernzuhalten.
Ablenkung suchte er allerdings in Seitenwegen der künstlerischen Tätigkeit, die sein ganzes Leben durchziehen. Wesentliche Triebkraft war dabei die schon in seiner Kindheit angelegte Faszination für die verschiedenen Verkehrsmittel. Begeistert beobachtete er die Schiffe auf dem Hudson. Mit seinem Freund Francis Kortheuer baute er Schiffsmodelle, die sie auf dem See im Central Park segeln ließen. Dieses Hobby hat er mit seinen Söhnen weiter betrieben, und die Modelle mussten an der pommerschen Ostseeküste in der Regamündung ihre Seetüchtigkeit erweisen. Noch in den späten Jahren war er zusammen mit den Söhnen und den Schiffsmodellen wieder im New Yorker Central Park. Die gleiche Begeisterung brachte Leo für Lokomotiven auf, und auch dafür baute er schon als Kind mit Kortheuer Modelle. In seinen Karikaturen wandeln sich die Lokomotiven oft zu lebendigen Wesen. Für die Söhne baute er Spielzeug-Eisenbahnen aus Holz, die er mit Hingabe für eine geplante industrielle Produktion weiterentwickelte. Durch den Ersten Weltkrieg ist es aber nie zur Fabrikation gekommen. Auch für Autos und Flugzeuge entwickelte Leo gesteigertes Interesse, wovon die Briefe so manches Zeugnis ablegen. In seinem Schaffen haben sie jedoch weniger Spuren hinterlassen. Das Fahrrad taucht ebenfalls fast nur in den Karikaturen auf. Bereits in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts war er leidenschaftlicher Radfahrer, und er leistete sich während seiner gesamten Zeit in Deutschland immer wieder neue Modelle dieses für seine finanziellen Verhältnisse luxuriösen Verkehrsmittels. Das Fahrrad ermöglichte ihm die Erkundung der Dörfer um Weimar oder auf Usedom.
Leos technisches Interesse galt außerdem der Fotografie. Er hat frühzeitig mit Plattenkameras begonnen. Auch Julia fotografierte, und oft ist nicht klar, von wem die Aufnahmen stammen. Aber gegen Ende der zwanziger Jahre begann Leo, sich intensiver fotografisch zu betätigen. Dafür kamen verschiedene Anregungen zusammen. Am Bauhaus in Dessau machte fast jeder fotografische Experimente. Leos Söhne Andreas und Lux gehörten zu diesen Pionieren, bei Andreas wurde das Fotografieren in der Folgezeit der Hauptberuf. Auch Leos Tochter Lore aus erster Ehe war Fotografin. Vor allem aber wurde seit Mitte der zwanziger Jahre die Kleinbildkamera Leica mit Rollfilm produziert, die das Fotografieren ungemein erleichterte. Entgegen dem Trend der Zeit zu einer dinglichen Neusachlichkeit setzte Leo auf bewusste Unschärfen, auf verschwimmende Dämmerung, Spiegelungen und überstrahlendes Licht, um – wie in seinen Gemälden – den Bildraum zu vereinheitlichen, die Grenzen der Gegenstände zu relativieren und Transzendenz aufscheinen zu lassen. In dieser Zeit hat er auch nach Fotografien gemalt, ist damit aber nicht ganz glücklich geworden. In den späten amerikanischen Jahren kam dann die Farbfotografie neu hinzu.
Für seine Söhne hatte Leo nicht nur Spielzeug-Eisenbahnen gebaut, sondern eine ganze Stadt aus Holz geschnitzt und bunt bemalt. »Die Stadt am Ende der Welt« besteht aus krummen Fachwerkhäusern und mehreren Kirchen. Motive aus Leos malerischem und grafischem Werk tauchen auf – die Kirche von Gelmeroda und das Tor von Ribnitz. Sie ist mit Eisenbahnen und Schiffen ausgestattet und mit einer Fülle skurriler Figuren bevölkert. Auch ein paar Tiere sind dabei – ein Elefant, ein paar aufgeplusterte Raben mit schwarzen Hüten. Die Stadt wurde ständig erweitert, auch als die Söhne längst über das Spielalter hinaus waren. Der Sohn Lux hat darüber 1965 ein Buch veröffentlicht und mit Fotos seines Bruders Andreas ausgestattet.4
Neben all diesen vom Auge und vom Bildnerischen bestimmten Vorlieben und Tätigkeiten war die Musik ein unverzichtbarer Bezugspunkt für den Maler. Die Liebe zu ihr war ihm von den Musiker-Eltern sozusagen in die Wiege gelegt worden. Vom Vater wurde er auf der Violine unterrichtet, und er brachte sich selbst das Klavierspiel, später auch das Orgelspiel bei. Die Familie besaß einen Flügel, und Leo schaffte sich ein Harmonium an, um wenigstens einen Abglanz des Orgelklangs erzeugen zu können. Johann Sebastian Bach war sein Favorit unter den Komponisten, und er hatte eine sehr konkrete Vorstellung davon, wie dessen Musik und vor allem seine Fugen zu interpretieren seien – eine Vorstellung, die der heutigen Auffassung davon anscheinend näher steht als der damaligen. So war er selten zufrieden mit den Aufführungen auch seiner eigenen Fugen-Kompositionen, die er in den zwanziger Jahren schuf. In der Weimarer Bauhaus-Zeit war er mit dem Komponisten Hans Brönner befreundet und musizierte viel mit ihm zusammen, auch Bachsche Fugen. Dabei stellten sie fest, dass das Wesen Bachs doch auch in Leos Malerei zum Ausdruck komme. Laurence Feininger, der 1971 die Kompositionen seines Vaters herausgab,5 sah die Verwandtschaft zwischen dessen Malerei und Bachs Fugen in der Art, wie unscheinbare Motive – bescheidene Dorfkirchen und schlichte Fugenthemen – eine monumentale Entfaltung erfahren. Darüber hinaus kann man in den Bildern Parallelerscheinungen zu den musikalischen Ausdrucksmitteln beobachten: Echowirkungen, Variationen und Umkehrungen formaler Motive, melodieartige Stufenfolgen, Begleitmotive am Bildrande, rhythmische Gliederung, das Gegeneinandersetzen großer Klangfarbenkomplexe und anderes erzeugen ein quasi musikalisches Erlebnis. Der Verlust des Flügels beim Umzug aus dem Dessauer Meisterhaus in die kleinen Räume der Neubauten in Berlin Siemensstadt hat Leo sehr geschmerzt. Aber die Violine hat ihn nach Amerika begleitet und wurde bis ins hohe Alter gespielt.
Ans Bauhaus kam Leo 1919 wegen seiner kristallinen Architekturbilder. Noch hatte auch Julia zu dieser Zeit gestalterische Ambitionen. Jedenfalls erstritt sie sich zunächst den Status einer Hospitantin und wurde bald darauf auch als reguläre Studentin eingetragen. Aber die Ausbildung abgeschlossen hat sie nie. Laut Programm des Bauhauses erfolgte die Aufnahme »ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht«, wenn die »Vorbildung vom Meisterrat des Bauhauses als ausreichen erachtet wird«.6 Anfangs waren die Studentinnen weit in der Überzahl. Im Februar 1920 empfahl Walter Gropius, um die begrenzten Werkstattplätze den »Befähigtsten« vorzubehalten, »vor allem auch zu beachten, daß das weibliche Element nach und nach nicht mehr als 1/3 der Plätze einnimmt.«7 Im März 1921 machte Gropius den Vorschlag, »weibliche Schüler« vor allem in die »Frauen-Abteilung«, d. h. die Weberei aufzunehmen, wo keine Lehrbriefe der Handwerkskammer ausgestellt wurden. Nur in Einzelfällen sollten Frauen in die Buchbinderei oder die Töpferei gelangen, wo auch für sie ein Lehrbrief obligatorisch sei. Die Begründung für diesen Vorschlag lautete: »Nach unseren Erfahrungen werden sich Frauen in den seltensten Fällen für die schweren Handwerke wie Steinbildhauerei, Schmiede, Tischlerei, Wandmalerei, Holzbildhauerei, Kunstdruckerei eignen. Es wäre also darauf hinzuwirken, daß nach dieser Richtung keine unnötigen Experimente mehr gemacht werden.« Auch der »Formunterricht«, also die künstlerische Ausbildung, sollte nach Geschlechtern getrennt erfolgen.8 Der Meisterrat nahm diesen Vorschlag an.9 Die proklamierte Gleichberechtigung war demnach noch weit von unseren heutigen Vorstellungen entfernt. Von Julia sind aus der Bauhaus-Zeit ganz diesen Auffassungen entsprechend auch nur Marionetten für ein Puppenspiel, Spielzeugtiere aus Stoff und Karnevalsmasken durch Leos Fotografien überliefert. Lediglich die Puppen sind erhalten.
Noch kurz bevor Leo 1919 seine Tätigkeit am Bauhaus begann, lernte er den Kunsthistoriker Alois Schardt, bald Allo genannt, kennen. Von ihm fühlte er sich in seinem künstlerischen Streben ebenso verstanden wie von Julia. Allo seinerseits ließ sich von Leos fotografischer Obsession mitreißen, begann ebenfalls zu fotografieren, und als Leo während der Arbeit an den Halle-Bildern bei ihm wohnte, entwickelten beide ihre Filme in der Badewanne.
Als Schardt 1933 zum kommissarischen Direktor der Nationalgalerie in Berlin berufen wurde, haben Leo und Julia das enthusiastisch begrüßt und Hoffnungen auf eine positive Entwicklung daran geknüpft. Viele meinten zu dieser Zeit noch, nach einer »revolutionären« Phase würden die »Vernünftigen« unter den Nationalsozialisten die Oberhand gewinnen und alles werde einen erträglichen Ausgang nehmen. Doch Schardt konnte sich mit seiner Präsentation der Moderne, als deren Spitzen er Franz Marc und Lyonel Feininger sah, im Kronprinzenpalais, in dem damals die Neue Abteilung der Nationalgalerie untergebracht war, nicht durchsetzen. Damit schwand seine Hoffnung, die nationalsozialistische Kunstpolitik in seinem Sinne mitgestalten zu können. In dieser Zeit des Umbruchs, in der das Meisterhaus in Dessau aufgegeben werden musste, in der es eine neue Wohnmöglichkeit zu finden, Gemälde und Grafiken sicher unterzubringen und mit der Stadt Dessau über finanzielle Regelungen zu verhandeln galt, setzte Julia ihre ganze Kraft ein, um Leo diese Fragen nicht zusätzlich zu seinen Schaffensproblemen aufzuladen.
Überblickt man Feiningers Werk, so herrscht der Eindruck von Klarheit und Abgeklärtheit vor und man ist zu der Meinung geneigt, es sei aus einem kühl wägenden Intellekt heraus in einem abgeklärten Prozess entstanden. Die Briefe an Julia legen jedoch beredtes Zeugnis davon ab, mit welchen Zweifeln und Stimmungsschwankungen Leo zu kämpfen hatte. Wie oft sind sie aus höchster Begeisterung über das Erreichte geschrieben und kurze Zeit darauf aus tiefer Depression angesichts desselben Bildes. Manche Gemälde wurden mehrfach abgewaschen und neu aufgebaut, immer wieder umgestoßen, und manchmal gelang es ihm erst nach Jahren, sie zum »Übernatürlichen« zu zwingen. Denn darum ging es ihm: um das Erreichen einer Transzendenz. Darin war er der Romantik eines Caspar David Friedrich verwandt, und das war es vor allem, was Julia und auch der Freund Allo verstanden hatten und was Letzterer in seinen besten Bildinterpretationen zum Ausdruck brachte: Er beschrieb den Kampf des in die Höhe, ins Jenseitige strebenden Geistes mit den Kräften der Erdverhaftung anhand der Wasserflächen und der aufragenden Segel ebenso wie anhand der über den Häusern aufsteigenden Kirchtürme.
Gleichzeitig focht Leo aber stets einen Kampf zwischen klarer Formsetzung und Formauflösung aus, der sich durch sein gesamtes Schaffen zieht und in seinen letzten Lebensjahren in beide Richtungen weiter ausschlug. Denn die Einheit des Bildraums ist desto vollkommener, je weniger sie von Einzelformen gestört wird. Das hat Leo nicht zuletzt bei dem von ihm verehrten William Turner lernen können. Aber er fürchtete sich vor dieser letzten Auflösung, die auch ein Ende bedeutet, hinter dem es kein Streben und damit auch kein Leben mehr gibt. Eines seiner letzten Bilder mit dem Titel »Shadow of dissolution« – ins Deutsche übersetzt als »Dunkelgeahnte Auflösung« – ist daher auch als Todesahnung interpretiert worden.
Im Januar 1956 starb Leo. Julia hat sich fortan ganz der Erhaltung und Platzierung seines Nachlasses gewidmet. Einen großen Teil der schriftlichen Dokumente sowie zahlreiche Naturnotizen und Fotografien übergab sie der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, wo sie bis heute verwahrt werden und aus dem Nachlass T. Lux Feiningers ergänzt wurden. Ein Verzeichnis von Leos Gemälden hatte Julia schon lange in Arbeit. So konnte der ersten ausführlichen Feininger-Monografie, die 1959 erschien, ein vollständiges Werkverzeichnis nach den damals gängigen Kriterien angehängt werden.10 Hans Hess, der Sohn des mit Leo und Julia befreundeten Erfurter Sammlers Alfred Hess, konnte sich bei der Erarbeitung dieses Buches auf die uneingeschränkte Unterstützung Julias verlassen. Sie bereitete bald auch eine Publikation von Auszügen aus den Briefen Leos an sie vor, die sie jedoch nicht mehr realisieren konnte. Es entspricht ganz der anfangs beschriebenen, selbstgewählten Rolle Julias, dass sie ihren eigenen Anteil an der Korrespondenz in die Auswahl nicht mit einbezog, sondern nur Leos Briefe. Die Erschließung der anderen, nicht minder interessanten und aufschlussreichen Hälfte des Briefwechsels zwischen Leo und Julia wird noch erfolgen müssen.
1Hans Hildebrandt: »Die Frau als Künstlerin«, Berlin 1928, S. 35.
2Georg Hermann: »Die deutsche Karikatur im 19. Jahrhundert«, Bielefeld und Leipzig 1901, S. 127.
3Max Osborn: »Die Kunst der Schere«, in: Katalog der Ausstellung moderner geschnittener Silhouetten, Hohenzollern-Kunstgewerbehaus, Berlin 1912, S. 16–18.
4T. Lux Feininger, Lyonel Feininger: »Die Stadt am Ende der Welt«, München 1965.
5Laurence Feininger: »Das musikalische Werk Lyonel Feiningers«, Tutzing 1971.
6Walter Gropius: »Programm des Staatlichen Bauhauses in Weimar«, 1919; zitiert nach Hans M. Wingler: »Das Bauhaus«, Bramsche 1975, S. 41.
7Sitzung des Meisterrates am 2. Februar 1920, in: Volker Wahl (Hg.), »Die Meisterratsprotokolle des Staatlichen Bauhauses Weimar 1919 bis 1925«, Weimar 2001, S. 71.
8Walter Gropius, Paul Klee und Gerhard Marcks an den Meisterrat, 15.3.1921, in: Wahl 2001, S. 123.
9Meisterratssitzung am Donnerstag, dem 17. März 1921, in: Wahl 2001, S. 126.
10Hans Hess: »Lyonel Feininger«, Stuttgart 1959.