Читать книгу "Sweetheart, es ist alle Tage Sturm" Lyonel Feininger – Briefe an Julia (1905–1935) - Lyonel Feininger - Страница 13

1908

Оглавление

Im Frühjahr reisen die Feiningers von Paris nach London. Hier steht Lyonel zum ersten Mal vor einem Gemälde des englischen Malers William Turner (1775–1851), dessen lichtdurchflutete Bilder ihn seit frühester Kindheit faszinieren und auf seine späteren Werke großen Einfluss gewinnen.

Zum Sommeranfang erfolgt die Rückkehr der Familie von Paris nach Berlin, wo sie zunächst am Magdeburger Platz 4 wohnen, bei Julias Eltern Jeannette und Bernhard Lilienfeld, die sich inzwischen mit der neuen Lebenssituation ihrer Tochter ausgesöhnt haben. Anscheinend beraten Julia und Lyonel intensiv über ihren Lebensmittelpunkt. Aber Lyonel will sich die Option einer Rückkehr in sein Geburtsland offenhalten und entscheidet sich, die amerikanische Staatsbürgerschaft zu behalten. Die Sommermonate verbringt er allein auf Usedom, vor allem in Heringsdorf.

Im Herbst machen sich Julia und Lyonel ein weiteres Mal nach England auf: Am 25. September heiraten sie in London, wo dies im Gegensatz zu Deutschland auch für Geschiedene ohne Weiteres möglich ist.33 Nach ihrer Rückkehr nach Berlin fällt auf einer Radtour zum Schlachtensee die Entscheidung für einen Umzug in das ländliche, von Äckern umgebene Zehlendorf, damals »bei Berlin«.34 Im Oktober bezieht die kleine Familie die erste und zweite Etage eines Hauses in der Königsstraße 32.

Im Berliner Verlag Georg Bondi erscheint ein Band mit »Norwegischen Volksmärchen«, zu dem Lyonel neben der Gestaltung des Umschlags und der Initialen für die Kapitelanfänge auch acht ganzseitige Märchenillustrationen beisteuert.

Berlin, d. 29. Juni, 1908

[…] Mein Orgelchen, meine Harmonika, die tröstet mich sobald ich resolut mich von der aufreizenden Arbeit abwende. Ich habe gestern Abend bei ganz leiser Registrierung wohl eine Stunde […] geübt.

Mittwoch Abend, 1. Juli 1908 [Berlin]

… Ich habe gestern eine Seite in den »Lustigen« bekommen. So was trauriges, künstlerisch natürlich Unmögliches – und eben: sie wollen nichts Künstlerisches. […] Nun, ich nahm die Seite da ich sonst nichts mehr erwischt hätte, und will wenigstens sehen ehrlich das Geld dafür zu verdienen, denn ich brauche es. Lächerlich wars nur eine Secunde denken zu können, dass die Lustigen mir eine von den eigenen Seiten abgenommen hätten. […] Bondy hat 220,– Mark herausgeangelt aus der Kasse und mir gegeben – er war sehr verlegen, und scheint es nicht über sich bringen zu können, das ganze Geld gleich zu zahlen. […] Berlin wirkt totschlagend auf mich, sobald ich in Berührung mit Verlegern trete. Ich komme mir so hülflos vor, vor ihren Forderungen, und dabei fühle ich wie totsicher mein ganzes Renommé flöten ginge wenn sie wüssten was mein Bestreben ist. Das kommt ihnen nämlich tatsächlich wie Überschnapptheit vor, oder Unfähigkeit. Und das Gefühl: Du passt in die Gesellschaft nicht und bist unfähig ihre Forderungen zu erfüllen, ist doch manchmal danach dass man sich wirklich fragen möchte: haben DIE am Ende recht? Well – – …

Sonnabend, d. 11. Juli 08 [Berlin]

… weisst Du, wir müssen zum arbeiten kommen; mir scheint dieser Notwendigkeit gegenüber alles übrige nebensächlich zu sein. Ich sehe Dich, ohne Arbeitsinteressen, langsam geistig verstumpfen und unglücklich werden. Es ist nun einmal unabänderlich, dass wir unvermählt im Herbst Wohnung nehmen müssen also wollen wir mit Ruhe und Freude daran gehen; es muss uns der Gedanke überhaupt wie das Wichtigste vorläufig erscheinen, dass wir zur Arbeit und Ordnung endlich kommen. Nun höre in Bezug auf America: … ich will nicht Deutscher werden. Ich hätte vor kurzem nicht gedacht dass mir dieser Gedanke so ganz bis in die Seele widerstreben könnte.

… So lieb wie ich das Land in vielem habe, es würde mir alles vergällen, mein Americanisches Geburtsrecht aufzugeben. Vor allem, ohne übermässigen Patriotismus zu empfinden bin ich doch frei, aber als Deutscher wäre ich das nicht, und noch viel weniger mein Sohn. Und daran müssen wir ernstlich denken. Im Grunde bin ich Weltbürger geworden. …

Mittwoch, den 15. Juli 08 [Berlin]

… noch immer weiss ich nicht ob ich werde morgen fahren können, weil es unsicher ist, ob ich Dr. Eysler schon morgen früh sprechen … und Geld erhalten kann, und ich bin absolut auf dem Trockenen … Ich habe wieder eine Seite heute bekommen, Du siehst es geht ganz gut mit dem Verdienen, nur zahlt keiner … ich bin sehr nervös und schlafe hundsmiserabel, so dass ich nicht sehr froh über den Lauf der Dinge bin … Soeben kam Dein Telegramm – ach Gott, nun hast Du meinen Brief von gestern nicht erhalten! Natürlich bist Du ganz unruhig, ich habe Dir ja sofort telegraphiert, fast mein letzter Pfennig ging drauf, ich bin eben total abgebrannt und hereingefallen weil ich mich auf mein Guthaben bei den Lustigen verlassen habe. Morgen lachen wir hoffentlich darüber – könnte ich nur zu Dir hinfliegen! …

Magdeburgerpl. 4 Montag Abend 24.8.1908 [Berlin]

… oh girlie, Morgen freue ich mich so wie noch kaum ein Mal, weil unsere Trennung endlich aufhört und wir ein Ziel wieder vor Augen haben. Was wir jetzt auch tun, wirds zusammen sein. …

12Was Lyonel Feininger in seinen ersten Briefen zwischen dem Ostsee-Aufenthalt und Oktober 1905 an Julia geschrieben hat, hat diese in ihrer mit drei englischsprachigen Briefauszügen aus den ersten Oktobertagen 1905 beginnenden Abschrift nicht offenbart.

13Der Brief wurde auf Englisch verfasst, der Original-Text lautet: October 4th 1905 […] I am full, full of courage and confidence in our good star. But I can, and do, suffer at times in a way, that I never have thought I could. I must tell you so, because it is sweet and good to suffer again, after all the years of inner deadness of heart and brain I went through. It will be dear to you to know that I can suffer, that my courage is not only present because I feel nothing [ …]

14Die Post wurde damals mehrmals am Tag befördert und zugestellt, so dass sogar Verabredungen für den Abend ausgehandelt werden konnten.

15In Heft Nr. 42 der »Lustigen Blätter« erschien eine ganzseitige farbige Karikatur König Eduards VII. mit der Bildunterschrift »Der Rattenfänger von England«.

16Wenn ich nur so schreiben könnte, wie ich fühle, ohne diese furchtbare Suche nach Ausdruck, könnte ich glücklich sein.

17Gemeint ist eines der von Feininger gebauten Schiffsmodelle.

18Julia Feininger hat ausgespart, was sie Kritisches zu den »Ton-Bildern«, also zu der Methode, mit Grau-Tönen eine plastische Wirkung der Figuren und eine Tiefenwirkung des Raums zu erzeugen, sagte.

19Gemeint ist eine der Karikaturen Feiningers, die sich jedoch bisher nicht identifizieren ließ. Die Korea-Straße ist die Meeresdurchfahrt zwischen der koreanischen Halbinsel und den japanischen Inseln Kyushu und Honshu.

20Heute habe ich den ganzen Nachmittag über an unsere Arbeit gedacht, unsere gemeinsamen Studien später, bald. … Ich fühle wieder die Kraft, besser zu arbeiten … Liebes, ich werde wieder jung, und … meine Phantasie kommt zurück. Ich fange wieder an, einfacher und naiver zu fühlen, und möchte wieder einmal an meiner Kunst arbeiten, ich habe eine solche Sehnsucht nach dem nächsten Sommer … ich gehe davon aus, dann so viel machen zu können. Alles ist jetzt wach und ringt nach Ausdruck, ich sehe mit neuen und durstigen Augen. Ich erinnere mich, dass ich vor einigen Monaten zu Fürst sagte, wie ich Künstler beneiden würde, die so eifrig arbeiten können, ich konnte es nicht verstehen, weil ich nicht vermochte, genau dies zu verspüren, aber jetzt spüre ich es.

21Gemeint ist eine Zeichnung, die in der »Berliner Illustrirten Zeitung« veröffentlicht wurde.

22Natürlich werde ich dir den Regenwurm schicken, sobald er gedruckt ist … und ich glaube, Liebes, dass selbst so ein bescheidenes Werk wie dieses uns dem Erreichen unseres hochgesteckten Zieles näherbringen könnte – dieses Geld geht morgen zur Bank auf unser Sparkonto.

23Es handelte sich um die Familie Clapp in Sharon, Connecticut.

24Die weiche Aussprache harter Konsonanten gehört zu den dialektalen Besonderheiten in Mitteldeutschland – und gerade im Bemühen um eine korrekte Aussprache missrät es Dialektsprechern, wie hier, manchmal doppelt. – Im Übrigen ist die Lithografie ein Flachdruck, während zum Tiefdruck die Radierung gehört.

25Gemeint ist wahrscheinlich »soßige«.

26Ich habe vorhin einige Bach-Fugen gespielt – im Dunkeln sitzend und stellte mir vor, Du hörst mir zu. Sie sind so schön, aber man muss sie viele Male hören, bevor man weiß, wie schön sie sind. – –

27Du musst ein paar Bücher mitbringen, oder zumindest ein Buch, damit Du mir laut daraus vorlesen kannst, Liebste! Es wird mich so glücklich machen, wenn ich Dich hier habe und Du mir vorliest; nicht Hans Heinz Evers, »Die Tomate«. – »Tomatensoße« heißt eine frühe Schauergeschichte des wegen der Drastik seiner Schilderungen auch von erotischen Szenen skandalumwitterten Bestsellerautors Hanns Heinz Ewers, dessen Name im Brief nicht korrekt wiedergegeben ist.

28Sopran-Arie aus der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach.

29Felix Mendelssohn Bartholdy.

30Zu Deutsch: »ein schlagender Grund«.

31Meine liebe Kleine, Du musst dich nicht einsam und traurig fühlen, denn Du hast ja den kleinen Butzi, der Dich tröstet – und ich fange morgen an, mit der Arbeit, und das wird mir guttun.

32Vgl. »Bauernhaus in Lobbe auf Rügen I«, 1907, Öl auf Pappe, 37,5 × 61,5 cm, Privatbesitz, Moeller 014. Es scheint sich aber um eine andere Fassung zu handeln.

33Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 galt im Scheidungsfall das Schuldprinzip; eine gegenseitige Einwilligung der Eheleute zu ihrer Scheidung war unzulässig. Der schuldhaft Geschiedene durfte in Deutschland nur nach einem besonderen Dispens eine zweite Ehe eingehen. Diese Bedingungen gab es in England nicht.

34Erst 1920 wurde die Landgemeinde Zehlendorf nach Groß-Berlin eingemeindet.



Подняться наверх