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Mustafa Kemal zwischen Forschung und Fiktion: Eine Einleitung

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Im Jahr 1954 zog ein junger Hirte nahe dem abgelegenen Dorf Yukarı Gündeş, „hinten weit in der Türkei“ in der ostanatolischen Provinz Ardahan gelegen, mit seiner Herde auf die Weiden hinaus. Die Sonne sank gerade hinter den Horizont, da fiel im Streiflicht ein Schatten auf einen nahegelegenen Hügel und ließ dort die Silhouette eines menschlichen Kopfes erkennen. Es war, der Schäfer erkannte ihn sofort, der Kopf von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der Türkischen Republik. In der festen Überzeugung, dass ihm eine geradezu religiöse Offenbarung zuteil geworden war, meldete der entgeisterte junge Mann sein Erlebnis unverzüglich den örtlichen Behörden. Diese wiederum verloren keine Zeit und ließen in der ganzen Republik verkünden, bei diesem äußerst seltenen Naturschauspiel habe es sich zweifellos um ein Wunder gehandelt. In der Gegend um Yukarı Gündeş ließ die Begeisterung auch mit der Zeit nur unwesentlich nach, und so entschied man schließlich 1997, am Schauplatz des Geschehens von 1954 fortan jedes Jahr ein Festival zu veranstalten, dem in der Folge riesige Besuchermassen zuströmten, um das Wunder mit eigenen Augen zu sehen. Als im „verflixten siebten Jahr“ des Festtages unter dem Motto „Auf den Spuren und im Schatten Atatürks“ ein nichtsahnender Schäfer, der mit seinen Tieren just in kritischen Moment, in dem der Schatten sichtbar wurde, mitten in die Silhouette hineinmarschierte und das Spektakel so unterbrach, tobte die versammelte Menschenmenge vor Zorn. Ein Parlamentsabgeordneter, der sich unter den Zuschauern befand, donnerte los: „Ausgerechnet hier seine Tiere weiden zu lassen, ist eine Respektlosigkeit sondergleichen! Das ist Hochverrat! … Warum ist Karadağ, wo das Wunder geschehen ist, nicht schon längst unter staatliche Aufsicht gestellt worden?“1 Diese einigermaßen bizarre Episode enthält bereits die Essenz des quasi-religiösen Personenkultes, der sich schon zu Mustafa Kemal Atatürks Lebzeiten um den Staatsgründer entwickelt hat und der in vielen Milieus der heutigen Türkei unvermindert fortlebt. Natürlich ist dies nicht die einzige Sichtweise, mit der die Türken heute auf den „Vater“ ihrer Republik zurückblicken (oder in den vergangenen Jahrzehnten zurückgeblickt haben); aber eine Tendenz zur politischen Heiligenverehrung prägt doch die meisten wissenschaftlichen wie populären Veröffentlichungen, die sich mit Atatürk befassen.

Über viele Jahre glich der Historiker, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Mann Atatürk darzustellen „wie er eigentlich gewesen ist“, wohl am ehesten jenen früheren Gelehrten, die so tollkühn gewesen waren, den historischen Jesus in den Mittelpunkt ihrer Forschungen stellen zu wollen. Es überrascht nicht, dass die gründlicheren und verlässlicheren unter den vielen Atatürk-Biografien in der Regel nicht von türkischen Historikern verfasst worden sind – und noch dazu erst lange nach Atatürks Tod entstanden. Heutzutage kann man sich dem Thema auch in der Türkei unbefangener nähern, doch bleibt die Entmystifizierung Atatürks ein schwieriges Unterfangen. Zum Beispiel sind viele der Aussprüche, die Atatürk zugeschrieben werden, mittlerweile in den Rang von Nationalmaximen aufgestiegen – dabei sind nicht wenige von ihnen nachträglich (und nachweislich) erfunden worden, um dem einen oder anderen Partikularinteresse zu dienen. In den vergangenen Jahren haben einige Forscher begonnen, diese Fälschungen zu entlarven, wobei ihr Eifer an Muḥammad ibn Ismāʿīl al-Bukhārī erinnert, den 870 gestorbenen mittelalterlichen Großkritiker zweifelhafter Überlieferungen von Leben und Lehre des Propheten Muḥammad, wobei ihm insbesondere die dem Propheten nachträglich in den Mund gelegten Aussprüche ein Ärgernis waren. Beispielsweise waren die Interessenvertretungen der türkischen Taxi- und Lastwagenfahrer nur wenig erbaut über die Nachricht, dass Atatürk ihr Vereinsmotto „Der türkische Kraftwagenfahrer ist ein Mann von nobelster Empfindung“ so nie geäußert hatte. Als herauskam, dass die folgenden Aussprüche Atatürks wohl ebenfalls apokryph waren, fühlten sich ungleich größere Teile der Gesellschaft betroffen: „Eine Gesellschaft, welche ihre Alten nicht ehrt, ist keine [wirkliche] Gesellschaft“ (als Motto in die Fassade des Hauptsitzes der staatlichen türkischen Sozialversicherung in Ankara gemeißelt); „Die Zukunft befindet sich am Himmel“ (auf Plaketten in türkischen Verkehrsflugzeugen eingraviert); oder „Wenn eine Sache das Vaterland betrifft, betrachte man alles andere als trivial“ (das Motto einer ultrasäkular-nationalistischen Bewegung).2

Hunderte von Büchern sind zu den verschiedensten Aspekten von Atatürks Leben und Werken veröffentlicht worden; von Atatürk und die Medizinstudenten und Atatürk und die Meteorologie bis hin zu Atatürk und Eurasien und sogar Atatürks Liebe zu den Kindern ist für jeden etwas dabei.3 Die meisten dieser Studien sind im Duktus frommer Gedenkreden verfasst und lassen den Begründer des modernen türkischen Staates als einen abgeklärten Verbreiter von Spruchweisheiten erscheinen, der – mit der Gabe der Allwissenheit gesegnet – Einsichten aus vielerlei Wissensfeldern und für jede Lebenslage zum Besten geben kann: als einen Philosophenkönig, der angetreten ist, aller überhaupt nur möglichen Erkenntnis sein Gesetz zu verkünden. Nur eine kleine Anzahl dieser Schriften erfüllt die Kriterien einer verlässlichen wissenschaftlichen Monografie. Vielmehr haben ihre eher essayistisch arbeitenden Verfasser Atatürks vermeintliche Ansichten bisher noch zum Beweis (oder zur Widerlegung) fast jeder erdenklichen Position herangezogen. So haben wir nun die Wahl zwischen den Bänden Atatürk war ein Antikommunist einerseits und Die sozialistische Bewegung, Atatürk und die Verfassung andererseits;4 oder zwischen Wie ich Atatürk im Koran suchte – und fand und Atatürk und die exakte Wissenschaft.5 Währenddessen tendiert die „amtliche“ türkische Geschichtsschreibung dazu, Atatürk schlicht als geborenen Anführer darzustellen, wobei seine Persönlichkeit oft genug als Erklärung für seine Umwelt dienen soll – und nicht die Persönlichkeit anhand ihrer Umwelt erklärt wird. So soll es in der Türkei immer noch Universitätshistoriker geben, die in Mustafa Kemal den spiritus rector der jungtürkischen Revolution von 1908 sehen, obwohl seine tatsächliche Rolle eher marginal gewesen ist.6 Gleichermaßen haben türkische Historiker über viele Jahre hinweg behauptet, Mustafa Kemal habe im Jahr 1932 den Chef des amerikanischen Generalstabs, Douglas MacArthur, vor einem unmittelbar bevorstehenden allgemeinen Krieg von verheerenden Ausmaßen gewarnt, der Tod und Zerstörung über die westliche Zivilisation bringen werde. Auf Grundlage dieser Behauptung haben dieselben Historiker Atatürk zugute gehalten, er habe den Zweiten Weltkrieg vorhergesehen, noch bevor Hitler auch nur Reichskanzler geworden war.7 Wie neuere Forschungen hingegen zutage gebracht haben, hat Atatürk MacArthur in Wirklichkeit das genaue Gegenteil gesagt. In den Worten des Protokolls der fraglichen Zusammenkunft: „Als die Rede auf mögliche Kriegsgefahren kam, äußerte Seine Exzellenz der Gazi, der Ausbruch eines weltweiten Krieges innerhalb der nächsten zehn Jahre sei so gut wie unmöglich.“8

Aus dieser Situation folgt, dass jeder ernsthafte Historiker, der sich mit dem historischen Atatürk auseinandersetzen möchte, sich zunächst einmal als Mythenkritiker betätigen muss, um den Gegenstand seiner Forschung konsequent historisieren (also in seiner historischen Bedingtheit greifbar machen) und – unter Rückgriff auf die verfügbaren Quellen – kontextualisieren zu können. Diese Aufgabe ist nicht leicht. Während viele relevante Quellen mittlerweile ediert und allgemein zugänglich gemacht worden sind (schon zu Atatürks Lebzeiten und auch nach seinem Tod), hat sich erst kürzlich ein Verlag darangemacht, eine Gesamtausgabe aller auffindbaren Schriften, Reden und Briefe Atatürks in den Druck zu geben. Die daraus resultierende Buchreihe von dreißig Bänden, deren erster 1998 erschienen ist, liegt mittlerweile komplett vor und umfasst die Jahre von 1903 bis zu Atatürks Tod 1938.9 Was seine persönlichen Aufzeichnungen angeht, so kritzelte Atatürk sie – wie viele andere osmanische beziehungsweise türkische Offiziere seiner Generation – in eine Reihe von Notizbüchlein. Einige davon sind regelrechte Tagebücher und umfassen die Jahre 1904 bis 1933. Atatürks Adoptivtochter Âfet İnan hat eine „gesäuberte“ Fassung eines dieser Tagebücher zusammengestellt, das sich im Original über sechs einzelne Notizhefte erstreckt.10 Zweiunddreißig weitere Hefte befinden sich in den Archiven des türkischen Militärs und des türkischen Staatspräsidenten sowie in den Archiven des Atatürk-Mausoleums (Anıtkabir) in Ankara. Die Edition dieser 32 Hefte ist in 12 Bänden erfolgt, die seit 2009 komplett vorliegen.11 Die reichhaltige Sammlung von Atatürk betreffenden Dokumenten und Materialien im Präsidentenarchiv in Çankaya ist wissenschaftlich redlich arbeitenden Historikern ohne Sondererlaubnis nicht zugänglich. Jegliche Hoffnung auf Zugang zum Nachlass von Atatürks geschiedener Ehefrau, der nach ihrem Tod 1975 auf zunächst 25 Jahre gesperrt wurde, hat sich 2005 gleichermaßen zerschlagen, als die Unterlagen – nun auf unbestimmte Zeit – in den Archiven der staatlich finanzierten (und von Âfet İnan mitbegründeten) Türkischen Historischen Gesellschaft (Türk Tarih Kurumu, TTK) unter Verschluss kamen.

Trotz allem: Es herrscht für den Atatürk-Biografen kein Mangel an frei verfügbarem Material, mit dem sich durchaus arbeiten lässt. Nun muss die Aufgabe des ernsthaften Historikers in erster Linie darin bestehen, die Fädchen des – nach Quellenlage – Historisch-Faktischen aus dem weit gesponnenen Gewebe von Histörchen und bewussten Fälschungen herauszulösen, das sich seit Atatürks Tod um seine Person gelegt hat. Im Zuge dieser Arbeit habe ich Atatürks eigene Schriften, Reden und seine Korrespondenz als immens aussagekräftige Quellen schätzen gelernt. Unseligerweise haben die Herausgeber seiner gesammelten Werke das ursprüngliche Osmanisch (also die vor der Schriftreform von 1928 in einer modifizierten arabischen Schrift geschriebene Sprachvariante) in modernes Türkisch übertragen, wodurch die feineren Nuancen des Originaltextes verloren gingen. Es erschien mir deshalb ratsam, nicht nur im Zweifelsfall, sondern grundsätzlich ad fontes zu gehen und die einzelnen Quellen im Zusammenhang ihrer ursprünglichen Veröffentlichung zu konsultieren. Auch die Marginalien, die Mustafa Kemal handschriftlich in seinen Büchern hinterlassen hat, sind an vielen Stellen in meine Studie eingeflossen. Schließlich und endlich habe ich den Blätterwald der maßgeblichen türkischen Zeitungen und Journale des Zeitraums von 1919 bis 1938 nach relevanten Informationen durchforstet.

Obwohl Atatürks eigene Reden und Schriften bei weitem die wichtigste Quelle für die vorliegende Studie darstellen, habe ich natürlich auf eine Fülle von Sekundärliteratur zurückgreifen können. Insbesondere haben mir drei glänzend geschriebene und zuverlässige Biografien dabei geholfen, Atatürks geistige Entwicklung in einem größeren Kontext darzustellen. Es waren dies die Studien von Klaus Kreiser,12 Andrew Mango13 und Şerafettin Turan, die alle gleichermaßen detailliert auf die verschiedenen Aspekte von Atatürks Leben eingehen. Während die ersten beiden durchaus als wissenschaftliche Studien im engeren Sinne bezeichnet werden können, haftet der – wenn auch überaus gründlich recherchierten – Biografie von Turan, deren Titel man etwa mit Das einzigartige Leben einer einzigartigen Persönlichkeit: Mustafa Kemal Atatürk übersetzen könnte, ein bisweilen doch recht strenger hagiografischer Hautgout an.14 Im Allgemeinen habe ich aber, mit Rücksicht auf die Beschränkungen meiner kurzen ideengeschichtlichen Erkundung auf den Spuren des historischen Atatürk, auf die Übernahme großer Materialmengen aus der Sekundärliteratur lieber verzichtet.

Verständlicherweise kann der vorliegende Essay aufgrund seiner Kürze keine wirklich erschöpfende Analyse auch nur der zentralsten politischen Vorstellungen und Handlungsmuster Atatürks liefern, noch weniger eine umfassende Biografie. Vielmehr verfolge ich in diesem Buch drei Ziele: Zunächst soll der Begründer des modernen, republikanisch verfassten türkischen Staates in seinem historischen Kontext vorgestellt werden. Durch diese Herangehensweise wird Atatürk in intellektueller wie gesellschaftlicher Hinsicht als Repräsentant des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts erkennbar. Die Tatsache, dass auf seine Initiative hin in der Türkei solch gewaltige Bestrebungen zur Errichtung eines modernen Nationalstaats vorangetrieben wurden, der auf radikal neue Grundlagen gestellt werden sollte, darf uns nicht dazu verleiten, Atatürks Beitrag zum Lauf der Geschichte in einem „Denken des Undenkbaren“ oder in der gleichsam visionären Verwirklichung eines genialen und unerhörten Plans zu sehen. In weiten Teilen der türkischen Geschichtsschreibung erscheint er nämlich tatsächlich als solch ein historischer „Macher“, der, völlig unbeeindruckt von seiner Umgebung, im Alleingang ein wahres Wunderwerk in die Welt setzte: den modernen türkischen Staat. Ganz im Gegensatz zu dieser Anschauung jedoch, die für den mainstream der türkischen Geschichtswissenschaft geradezu die Norm ist, sollte Atatürk gerade nicht als ein einsames Genie betrachtet werden, das hinsichtlich seiner Erziehung und frühen Sozialisierung, seiner Bildung und Ausbildung, gegenüber seinen institutionellen und gesellschaftlichen Zugehörigkeiten und schließlich mit Blick auf seine intellektuelle Prägung vollkommen gleichgültig, unempfänglich oder autark gewesen wäre. Doch während sich der immense Einfluss schwerlich leugnen lässt, den Atatürks Denken und Lenken auf die Gestalt der sich aus den Trümmern des Osmanischen Reiches konsolidierenden Türkischen Republik gehabt hat, mindert es seinen historischen Rang nicht im Geringsten, wenn man seine konzeptuellen und realpolitischen Verdienste deutlich als das bezeichnet, was sie gewesen sind: Ausprägungen der intellektuellen, gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten seiner Zeit. Die Tatsache, dass er sich auf die Seite avantgardistischer Bewegungen schlug, die zuvor in der spätosmanischen respektive türkischen Gesellschaft nur sehr begrenzte Unterstützung erfahren hatten, sollte uns nicht zu dem Trugschluss verführen, Atatürk hätte diese modernen Ideen selbst hervorgebracht.

Das zweite Ziel dieses Buches ist es, Atatürks intellektuelle Entwicklung nachzuzeichnen, die sich mit Recht als der bislang am spärlichsten untersuchte Aspekt seiner Biografie bezeichnen lässt. Sicher, er war kein Intellektueller in des Wortes strengster Bedeutung; aber die mähliche Ausformung seiner Vorstellungswelt hat seine politische Betätigung doch entscheidend beeinflusst. Es schien mir angemessen, Atatürks Haltung zur Religion im Allgemeinen – und zum Islam im Besonderen – in meiner Darstellung einigen Raum zu geben. Schließlich hat er, dessen Interesse am gesellschaftlichen Auftrag der Religion – insbesondere in der Türkei – kaum unterschätzt werden kann, als Gründungspräsident der ersten säkularen Republik in einem muslimischen Land vorgestanden.

Drittens möchte ich durch meine Analyse von Atatürks Leben, seinen Vorstellungen und seinem Werk zu einer neuen Sicht auf den prekären Übergang vom spätosmanischen Reich zum modernen türkischen Nationalstaat beitragen. Diese neue Sichtweise betont eine grundsätzliche Kontinuität, anstatt des Bildes vom abrupten Bruch mit der Vergangenheit, das die geschichtswissenschaftliche Erforschung dieser Übergangszeit so lange dominiert hat. Gewissermaßen als Nebenprodukt dieser Analyse ergibt sich dann auch eine Neubewertung des kemalistischen Erbes in der heutigen Türkei.

Aus diesen Zielsetzungen mit ihrer Ausrichtung auf den historischen Atatürk, die konsequente Historisierung seines Werdegangs und die Kontextualisierung seines Denkens, ergibt sich ein weitgehender Verzicht auf persönliche Betrachtungen. Atatürks Privatleben in seinen bunten Details liegt außerhalb des Rahmens dieser Studie.

Atatürk

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