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1. Eine kosmopolitische Kinderstube: Saloniki im Fin de Siècle

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Die alte makedonische Metropole Saloniki, das heutige Thessaloniki, hatte in ihrer langen und wechselvollen Geschichte unter der drückenden Herrschaft von Machthabern aller denkbaren Couleur gestanden. Die Osmanen, deren Vorstöße im 14. Jahrhundert durch die Ebenen von Anatolien und über den Bosporus bis auf den Balkan fegten, waren nur die Letzten in einer langen und illustren Reihe gewesen, die von den Makedonen und Römern über die Byzantiner und Normannen bis zu den Lombarden und Venezianern reichte. Als nun die Osmanen die Stadt im Jahr 1430 zum zweiten Mal eroberten, machten sie mit dieser langen Tradition wechselnder Machthaber kurzen Prozess. Nach drei Tagen des Plünderns blieben in den Ruinen der Stadt gerade einmal 2000 Überlebende zurück. Zu diesen gesellten sich bald rund 1000 türkische Nomaden, die aus dem Osten herbeigeschafft wurden: Das gesellschaftliche Gefüge der Stadt war auf immer verändert.1 Dies bedeutete jedoch auch die Begründung der wohl am deutlichsten kosmopolitisch geprägten Stadt des Osmanischen Reiches, die – Jahrhunderte später und nur scheinbar überraschend – als Kulisse für die Kindheit jenes Mannes dienen sollte, der die moderne Türkei nach seinen Vorstellungen geformt hat.

Ein zweiter entscheidender Impuls für die weitere Entwicklung der Stadt unter osmanischer Herrschaft war die Ausweisung der Juden aus Spanien und Portugal zu Ausgang des 15. Jahrhunderts. Als in der Folge Tausende von jüdischen Flüchtlingen auf osmanisches Hoheitsgebiet strömten, beschloss man, sie zum größten Teil nach Saloniki umzuleiten. Dies besiegelte die weitere Bedeutung der Stadt als eines der maßgeblichen Zentren jüdischer Kultur im östlichen Europa und im ganzen Mittelmeerraum. Obwohl eine kleine Gemeinde aschkenasischer Juden schon vor der osmanischen Eroberung in der Stadt gesiedelt hatte, machte erst der Zustrom sephardischer Juden Saloniki zur einzigen europäischen Großstadt mit jüdischer Bevölkerungsmehrheit. Allerdings war die jüdische Gemeinde von Saloniki nicht nur etwas Besonderes, was ihre Größe anging; auch ihre Zusammensetzung war einzigartig. Als im Jahr 1666 der selbsternannte Messias Sabbatai Zwi zum Islam übertrat, um seiner Hinrichtung zu entgehen, sah eine beträchtliche Menge seiner Saloniker Anhänger in dieser Konversion die letzte Stufe vor der tatsächlichen Rückkunft des Messias und konvertierte ebenfalls.2 Diese Konvertiten begannen, ihren islamischen Glauben in der Öffentlichkeit zu bekennen, praktizierten insgeheim aber noch ihr Judentum. So entstand die sabbatianische Dönme-Gemeinde (auf Hebräisch ma’amin, „die Gläubigen“), die Saloniki in der religiösen Landschaft des Osmanischen Reiches einmalig machte. Die Dönmes wurden von frommen Juden wie Muslimen verachtet, aber die osmanischen Behörden behandelten sie, was Verwaltungs- und Besteuerungsfragen anging, wie Muslime.

Am Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich die Bevölkerung Salonikis aus drei großen Glaubensgemeinschaften zusammen, die jede für sich in einem klar umrissenen Stadtbezirk wohnten: den Juden mit etwa 49 000 Einwohnern; den Muslimen mit etwa 25 500 einschließlich der Dönmes; und den griechisch-orthodoxen Christen, die mit etwa 11 000 Personen deutlich in der Minderheit waren.3 Eine solch klare Dreiteilung verschleiert allerdings die in Wirklichkeit viel reichhaltigere ethnische Vielfalt in der Stadt: Da waren sephardische und aschkenasische Juden; türkische, albanische und bosnische Muslime neben muslimischen Roma und Dönmes; griechische, bulgarische, walachische und albanische Christen orthodoxen Glaubens; dazu kleinere Gruppen albanischer Katholiken, orthodoxer Serben und Armenier. Zählt man dazu noch die beträchtliche nicht-osmanische, größtenteils westeuropäische Bevölkerung von Saloniki – alles in allem rund 7000 britische, französische, italienische, spanische, aber auch russische Untertanen respektive Staatsangehörige – sowie die Angehörigen der amerikanischen, dänischen, niederländischen und schwedischen Missionen und Konsulate in der Stadt, so gelangt man zu dem Gesamteindruck eines kulturellen Mischtiegels, wie es ihn seit der babylonischen Sprachverwirrung wohl selten gegeben hatte. Das einzigartige Saloniki repräsentierte den osmanischen Kosmopolitanismus besser als jede andere Stadt des Reiches – mit Ausnahme vielleicht der Hauptstadt Istanbul.

Es überrascht dennoch wenig, dass ausgerechnet Saloniki sich als fruchtbarer Boden für die vielen kleinen und großen Nationalismen erwies, die überall in den europäischen Provinzen des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert wie Pilze ans Licht schossen. Als im Jahr 1821 die Griechen auf der Peloponnes ihren Unabhängigkeitskrieg gegen die osmanische Herrschaft begannen, erhoben sich auch die Griechen von Saloniki zur Unterstützung ihrer kämpfenden Brüder und Schwestern; allerdings wurde ihr Aufstand rasch von der osmanischen Obrigkeit niedergeschlagen.4 Ein halbes Jahrhundert darauf, im Jahr 1870, war die bulgarische Intelligenzija von Saloniki maßgeblich an der Errichtung des autokephalen (d. h. selbständigen) Bulgarischen Exarchats als Interessenvertretung der bulgarisch-orthodoxen Christen beteiligt.5 Diese religiös-nationalistische Herausforderung der griechischen Vormachtstellung innerhalb der christlichen Orthodoxie zog in der ganzen Provinz Saloniki gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Griechen und Bulgaren nach sich.6 Acht Jahre später trat das Osmanische Reich in den Nachwehen des Russisch-Osmanischen Krieges von 1877/78 den größten Teil der Region Makedonien – also des Um- und Hinterlandes von Saloniki – an das gerade in seine Unabhängigkeit entlassene Fürstentum Bulgarien ab. Während der Berliner Kongress 1878 diese makedonischen Gebiete wiederum den Osmanen zusprach (unter der Bedingung, dass diese christenfreundliche Reformen zuließen), wurde Saloniki, wie andere Städte in der Region, zu einem wahren Schlachtfeld rivalisierender nationalistischer Bewegungen. Die makedonisch-bulgarische revolutionäre Guerilla-Bewegung VMRO (Vnatrešna Makedonska Revolucionerna Organizacija, „Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“) wurde 1893 in Saloniki gegründet,7 während das örtliche hellenische Konsulat als Hauptquartier für die bewaffneten Aktivitäten der Griechen in der Region diente.8

Wie in anderen Städten des Osmanischen Reiches auch, zeigten sich in Saloniki deutliche Auswirkungen des ambitionierten Reformprogramms, mit dem die osmanische Regierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihr Reich umzugestalten suchte. In diesem Zeitraum von 1839–1876, der gemeinhin als „Tanzîmât-Ära“ bezeichnet wird, durchlief der osmanische Staat eine lange Reihe entschiedener Modernisierungsbemühungen. Unter Führung des Berufsbeamtentums zielten diese Reformen auf eine Vielzahl einzelner Umgestaltungen des osmanischen Staatswesens ab, von der Einführung der allgemeinen Gleichheit vor dem Gesetz bis zur Revision überkommener Bürokratismen. Die Reformer orientierten sich auf ihrer Suche nach nachahmenswerten Modellen vor allem an den europäischen Staatsapparaten. Sie wollten die Reformen Peters des Großen in Russland imitieren, dem großen Rivalen des Osmanischen Reiches im Norden; sich die Staatskunst des Fürsten Metternich aneignen; nach britischem Vorbild den Kurs der Industrialisierung einschlagen; auf dem Weg der Aufklärung, der Rechtskodifizierung und Verwaltungszentralisierung dem Vorbild der französischen Republik nacheifern – kurz: sie waren bestrebt, das Osmanische Reich zu „verwestlichen“, um als Gleiche in die nachnapoleonische europäische Staatengemeinschaft aufgenommen zu werden. Zu diesem Zweck begründeten die Reformer eine Vielzahl neuer Verwaltungs- und Bildungsinstitutionen. Sie brachten neuartige Ideen und Konzepte in Umlauf, die geeignet waren, bestehende Weltbilder zu zertrümmern oder doch zumindest infrage zu stellen, nicht ohne zugleich die wechselseitigen Beziehungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen des so heterogenen Reiches nachhaltig zu verändern. Alles in allem führten diese Veränderungen zu einem drastischen Umbruch im Gefüge von Staat und Gesellschaft. Und doch konnten oder wollten die Reformer auf dem Weg zur ersehnten neuen Ordnung die gewachsenen Strukturen nicht einfach niederreißen. Stattdessen ließen sie es zu, dass altehrwürdige Institutionen Seite an Seite mit neuen, fortschrittlicheren bestehen blieben, in der Hoffnung, dass erstere mit der Zeit – und angesichts der offenkundigen Überlegenheit der letzteren – dem Vergessen anheimfallen würden. So richtete man etwa neue Zivilgerichte ein, deren Verfahrensweise und Rechtsgrundlage nach europäischem Muster geschnitten waren – und doch blieben die alten Religionsgerichte, die anhand der sharīʿa Recht sprachen, weiter bestehen. In gleicher Weise führte die osmanische Regierung ein Bildungssystem nach französischem Vorbild ein, das jedoch das bestehende Geflecht von religiösen und Gemeindeschulen nicht ersetzte, sondern ergänzte.

In Istanbul und den Städten des Balkans (wie etwa Saloniki) brachte die Reformbewegung eine überaus westlich orientierte muslimische Oberschicht hervor. Die Kenntnis europäischer Umgangsformen, Gebräuche, Sprachen und (auch exakt-wissenschaftlicher) Bildung – all dies fasste man unter der Losung Alla Franca zusammen – bildete den Schlüssel nicht nur zur Aufnahme in die neue Elite, sondern zum Erfolg überhaupt und insbesondere zum nachhaltigen sozialen Aufstieg. Entsprechend unterstützte diese neue Elite die Reformbemühungen der Regierung aus ganzem Herzen.9 Nicht so die breite Masse der muslimischen Bevölkerung, der die Reformen als eine Art europäisches Komplott erschienen, als eine Verschwörung zur Abschaffung ihrer ererbten Privilegien bei gleichzeitiger Bevorzugung der Nichtmuslime. Tatsächlich spalteten die Reformen die muslimische Gemeinschaft, rissen einen Graben auf zwischen der säkularen Elite und der frommen Masse des Volkes. In demselben Maß, in dem die Beamtenschaft europäische Sitten und Verfahrensweisen übernahm, befürchteten strenggläubige Muslime ein wirtschaftliches und gesellschaftlich-moralisches Erstarken der christlichen Partei. So lynchte 1876 in Saloniki ein muslimischer Mob den französischen und den deutschen Konsul; das eigentliche Ziel der aufgebrachten Menge war es allerdings gewesen, ein griechischorthodoxes Bulgarenmädchen, das zum Islam konvertieren wollte, aus den Händen des ebenfalls mobilisierten christlichen Pöbels zu befreien.10 Die wiederholten Versuche griechischer und bulgarischer Christen, ihre hölzernen Kirchenglocken – verhasstes Symbol der christlichen Zweitklassigkeit – gegen solche aus Bronze zu ersetzen, führten zu ähnlich gewaltsamen Zusammenstößen.

Die von den Architekten der Tanzîmât-Reformen verfolgte Politik rief natürlich erbitterten Widerstand vonseiten der muslimischen Geistlichen hervor. Deutlich weniger ersichtlich waren die Gründe, aus denen nichtmuslimische religiöse Autoritäten sich gegen die Veränderungen stellten. Allerdings forderten die Reformer auch jene anderen Religionsgemeinschaften auf subtile Weise heraus, indem sie deren gewachsene Strukturen von innen heraus umfassend zu verändern suchten. Sie erklärten den tief verwurzelten geistlichen Establishments, die über Jahrhunderte die alltäglichen Belange ihrer jeweiligen „Schäfchen“ nach dem Gewohnheitsrecht geregelt hatten, also nicht offen den Krieg, sondern entschieden sich für eine durchdachtere, indirekte Vorgehensweise. Indem sie ausgewählte Laien aus den verschiedenen Gruppierungen dabei unterstützten, die staatlich gewünschten Säkularisierung- und Modernisierungsprogramme zu verbreiten, machten sich die Reformer die progressiven Kräfte innerhalb der einzelnen Glaubensgemeinschaften zunutze und drängten so die geistlichen Dunkelmänner aus ihren Machtpositionen. Gleichzeitig unterwarf die Regierung alle diese Gemeinschaften einer einheitlichen Gesetzgebung, wodurch deren jahrhundertealte gesellschaftspolitische Autonomie an ihr Ende gelangte. Die Stärkung des säkular gesinnten Laientums innerhalb der verschiedenen Gemeinden hatte, in Verbindung mit dem Bestreben der Legislative, einheitliche Institutionen für alle osmanischen Untertanen zu errichten, drastische Veränderungen im täglichen Leben jeder einzelnen dieser Gemeinschaften und letztlich für die ganze osmanische Gesellschaft zur Folge. Obwohl es ein Hauptziel der Tanzîmât-Reformen war, den ethnischen Separatismus durch eine Zentralisierung der kaiserlich-osmanischen Verwaltung einzudämmen, bewirkte die besagte Stärkung der säkularen Intelligenz ironischerweise einen deutlichen Aufschwung nationalistischer Bewegungen – und damit das genaue Gegenteil.11

Ein Bereich, in dem der Zusammenstoß von Laien und Geistlichen besonders augenfällig wurde, war das Bildungswesen und hier insbesondere die Frage der Lehrplanung. Während die Säkularen die Einführung weltanschaulich neutraler Lehrpläne einforderten, durch welche die heranwachsende Generation umso besser auf das Leben in der modernen Welt vorbereitet und eine Stärkung des Nationalgefühls sichergestellt werden sollte, stritt die Geistlichkeit für ein auch weiterhin religiös fundiertes Bildungssystem. Die 1869 unter dem Einfluss von Jean-Victor Duruys säkularem Reformprogramm für die französischen Schulen erlassene „Verordnung zur öffentlichen Bildung“ enthielt einen Plan für ein neues osmanisches Bildungssystem mit Grund-, Mittel- und Oberschulen sowie Hochschulen, deren moderne Lehrpläne auch Fremdsprachenunterricht einschlossen. Durch dieselbe Verordnung wurde auch eine Reihe von Militärschulen ins Leben gerufen (Mittel-, Ober- und Hochschule) sowie Gemeinschaften und Einzelpersonen das Recht auf die Einrichtung von Privatschulen zugestanden.12

All diese Auswirkungen der Reformära kamen in Saloniki besonders deutlich zum Tragen, einerseits aufgrund des großen Wertes, den die Regierung der Metropole beimaß – dies wurde etwa durch den ungewöhnlichen Besuch des Sultans Abdülmecid (reg. 1839–1861) in Saloniki im Jahr 1859 deutlich –, andererseits wegen ihres kosmopolitischen Gepräges, das zudem die Wirkung jener Reformen noch verstärkte, welche die nichtmuslimische Bevölkerung des Osmanenreiches betrafen. Darüber hinaus begünstigte der stete Zustrom europäischen (auch jüdischen) Kapitals in die Stadt die Reformer vor Ort, die ihre ambitionierten Pläne zum Ausbau der städtischen Infrastruktur zügig in die Tat umsetzen konnten und so den allgemeinen Wandel noch beschleunigten. Das Provinzgesetz von 1864 veranlasste die Neuordnung der Verwaltung in den Regionen, aber es führte auch die Kommunalverwaltung nach französischem Vorbild ein. Die neue Stadtverwaltung von Saloniki ließ die alten Seemauern schleifen und in den 1870er-Jahren das umgebende Sumpfland trockenlegen. Ein britisches Unternehmen brachte im Jahr 1881 eine moderne Gasbeleuchtung in die Straßen von Saloniki; die ersten Stromleitungen wurden 1899 verlegt. Ein Großbrand zerstörte im Jahr 1890 die ärmsten jüdischen Viertel und griff auch auf umliegende Gebiete über, was zumindest die Verbreiterung der bestehenden Hauptverkehrsachsen ermöglichte. Eine Pferdebahn nahm 1893 den Betrieb auf – die fünfte Straßenbahn im ganzen Osmanischen Reich und die erste überhaupt auf dem Balkan.13 Eine neue Telegrafenleitung verband Saloniki mit der Hauptstadt und anderen Zentren des Reiches. Die Eisenbahn leistete das Nämliche: 1870 wurde die Strecke von Saloniki nach (Kosovska) Mitrovica eröffnet, die später um Anbindungen nach Skopje, Manastır und – in die andere Richtung – nach Istanbul ergänzt wurde. Auch der erstarkende Handel mit den westeuropäischen Ländern spielte eine entscheidende Rolle bei der Expansion Salonikis im späten 19. Jahrhundert, sodass die Stadt bald zum größten Exporthafen des Balkans und zum viertgrößten Exporthafen des Osmanischen Reiches avancierte (nach İzmir, Istanbul und Beirut). Neben Handelsschiffen legten auch osmanische, griechische, ägyptische und europäische Kriegsschiffe regelmäßig in Saloniki an. Auch der Finanzsektor florierte: Die exklusive Banque Impériale Ottomane eröffnete 1864 eine ihrer ersten Filialen; bald darauf schlossen sich die Banque de Salonique und die offizielle Staatsbank des Osmanenreiches, die Landwirtschaftsbank Ziraat Bankası, an. Das Aufkommen kleiner und mittlerer Produktionsunternehmen für Baumaterialien, Textilien, Tabak, Alkohol, Bier und Seife machten Saloniki zu einem ernstzunehmenden Industriestandort – und zu einer Hochburg der sozialistischen Bewegung im Osmanischen Reich. Das Industriewachstum führte auch zu einem Zuzug von Landbewohnern, die auf der Suche nach Arbeit in die Stadt kamen. Zwischen 1839 und 1897 verdoppelte sich die Einwohnerzahl, hauptsächlich durch diese interne Migrationsbewegung.

Saloniki – in der Antike berühmt als Exilheimat Ciceros, später als die Geburtsstadt Kyrills, des Miterfinders des glagolithischen und Namensgeber des kyrillischen Alphabets sowie Co-Übersetzers der Bibel ins Altkirchenslawische – erlebte im Zeitalter der Tanzîmât-Reformen eine wahre kulturelle Renaissance. Besonders bemerkenswert stellt sich die Entwicklung im Bereich der Buchproduktion dar. Obwohl beispielsweise die erste hebräische Druckerei auf dem Balkan schon im Jahr 1512 in Saloniki begründet worden war, druckte man hier lange Zeit vorrangig religiöse Abhandlungen.14 Eine türkische Verlagsbuchhandlung wurde 1727 gegründet, konnte sich aber nicht lange halten. In der Tanzîmât-Ära jedoch kam es zu einer Vielzahl von Druckereineugründungen für die unterschiedlichsten Sprachen. Auch Tageszeitungen und Journale erschienen nun. Judah Nehama begann 1864, die (etwas verwirrend betitelte) Tageszeitung El Lunar („Der Monat“) herauszugeben, der 1869 das offizielle Provinzialamtsblatt Selânik („Saloniki“) folgte, das auf Türkisch, Bulgarisch, Griechisch und Ladino (der Sprache der einst aus Spanien eingewanderten Sepharden) erschien. Eine unabhängige türkischsprachige Tageszeitung, Zaman („Die Zeit“), trug ab 1880 zu einer öffentlichen Debattenkultur bei. Im Jahr 1895 erschien die Erstausgabe von Asır („Das Jahrhundert“), einer der maßgeblichen Zeitungen in den osmanischen Provinzen.15 Die erste griechische Zeitung Salonikis, Hermes, erschien erstmals im Jahr 1875. Muslimische Intellektuelle veröffentlichten eine Vielzahl von Magazinen, so etwa Gonce-i Edeb („Die Knospe der Gelehrsamkeit“), Mecelle-i Muʿallimîn („Allgemeine Lehrerzeitung“), Mezraʿa-i Maarif („Das Feld der Erziehung“) und Tuhfetü’l-Edebiye li-Evlâdi’l-Vataniye („Das Geschenk der Literatur an die Kinder des Patriotismus“).

Das Schulsystem von Saloniki vollzog ebenfalls einen weitreichenden Wandel, indem neue Lehranstalten zur Vermittlung derjenigen modernen Bildungsinhalte eröffnet wurden, die sich die traditionellen Schulen einzuführen weigerten. Die alten, aus dem 16. Jahrhundert stammenden Schulen wie die Yakub Paşa Medresesi, das jüdische Talmud-Thora-Seminar und das griechische Gymnasium hatten die Herausforderungen der Moderne konsequent ignoriert. Als Sultan Abdülmecid bei seinem Besuch der Stadt 1859 zu einer Audienz „nur diejenigen jüdischen Würdenträger empfing, mit denen er auch französische Konversation machen konnte, und die Rabbiner so, bildlich gesprochen, im Regen stehen ließ“, sandte sein Verhalten ein unmissverständliches Signal: Es war an der Zeit für Veränderungen.16

Kurz darauf, 1864, eröffnete die jüdische Alliance Israélite Universelle eine Zweigstelle in Saloniki, dazu im Jahr 1873 eine halb-säkulare Oberschule für Jungen – letztere allerdings erst nach erbitterten Auseinandersetzungen mit den örtlichern Rabbinern, die sich der Einführung säkularer Bildungseinrichtungen vehement widersetzten.17 Im Jahr darauf erfolgte die Einweihung einer ähnlichen Schule für Mädchen, die dank der großzügigen Hilfe des aus München gebürtigen Barons Maurice de Hirsch (eigentlich Moritz Freiherr von Hirsch auf Gereuth) erfolgen konnte, der zuvor bereits den Bau der Eisenbahnlinie Saloniki–Mitrovica finanziert hatte (sein noch ambitionierteres Projekt, ein europaweites Eisenbahnnetz von über 2500 Kilometern Gesamtlänge zu bauen, gelangte nie zur Ausführung).18 Die bulgarische Gemeinde von Saloniki eröffnete 1869 die erste halb-säkulare christliche Schule.19 Im Jahr 1875 erwiesen sich die Herausforderungen der einsetzenden Modernisierung selbst für das altehrwürdige griechische Gymnasium als unwiderstehlich, das nun den auf Veränderung drängenden Kräften nachgab und in ein Gymnasium modernen Zuschnitts umgewandelt wurde.20 Im Jahr 1888 öffnete die Deutsche Schule von Saloniki ihre Pforten. Zwar richtete sich diese vorrangig an die Kinder der ansässigen Ausländer; allerdings bemühten sich auch viele osmanische Muslime und Andersgläubige, in der Hoffnung auf bessere Bildungschancen für ihre Kinder, um einen Platz für ihren Nachwuchs. Im Nachklang der Bildungsreform von 1869 richtete die osmanische Regierung eine Mittelschule für Knaben ein, gefolgt von einer für Mädchen; auch eine militärische Mittelschule wurde eröffnet.

Trotz dieser beeindruckenden Entwicklungen behielt die etablierte muslimische Elite – in Saloniki wie andernorts – die bildungspolitischen Zügel fest in der Hand. So setzten sich die muslimischen Autoritäten erfolgreich gegen jeglichen Versuch zur Wehr, die Elementarschulen zu reformieren, in denen die Kinder ihre Grundbildung erhielten. Diese Grundschulen verkörperten in der Konsequenz weiterhin traditionelle Werte und Bildungsinhalte; moderne Methoden, Lehrpläne und sogar Ausstattung – wie etwa Wandtafeln, Pulte und Landkarten – lehnten ihre „Verteidiger“ strikt ab. Während die Laienschaft in den nichtmuslimischen Glaubensgemeinschaften erfolgreich die Einrichtung privater Grundschulen betrieb, in denen nach modernen Prinzipien gelehrt wurde, war für die allermeisten Muslime das traditionelle Elementarschulsystem der einzige gangbare Weg. So blieb es den aufgeschlossenen und tatkräftigen Pädagogen der Dönme-Gemeinde von Saloniki überlassen, die ersten privaten und muslimischen Elementarschulen zu begründen; ihre Lehrpläne waren zumindest moderner, ihre allgemeine Ausrichtung weniger religiös als die der staatlichen Schulen.

Das also war das auf den ersten Blick wenig passende Umfeld, in das der zukünftige Begründer der Türkischen Republik eines Winters – entweder 1880 oder 1881 – hineingeboren wurde. Ali Rıza und Zübeyde nannten ihr viertes Kind Mustafa, nach einem der Ehrentitel des Propheten Muḥammad: „der Erwählte“. Ihre ersten drei Kinder waren alle entweder als Säuglinge oder Kleinkinder verstorben; nur eine der beiden Schwestern, die nach Mustafa geboren wurden, erlebte das Erwachsenenalter. Zübeyde war in dem kleinen Dorf Sarıyar nicht weit von Saloniki aufgewachsen. Ihr Vater, ein gewisser Sofuzâde Feyzullah, arbeitete für muslimische Grundbesitzer. Es hieß, die Familie sei aus Vodina (dem heutigen Edessa) in die Gegend eingewandert; sie nahm für sich die Abstammung von einer alten Turkmenenfamilie in Anspruch. Zübeyde hatte ein wenig von der traditionellen osmanischen Grundbildung genossen und konnte anscheinend den gesamten Koran auswendig rezitieren. Auch konnte sie lesen und schreiben, was unter den muslimischen Frauen ihrer Generation eine große Ausnahme darstellte.21

Mustafas Großvater väterlicherseits, Hafız Ahmed, war der Spross einer ortsansässigen türkischen Familie. Nach einer religiösen Erziehung gelangte er bis in die Stellung eines kleineren Beamten, bevor seine Beteiligung an den berüchtigten Unruhen von 1876 – die, wie erwähnt, in der Ermordung des französischen wie des deutschen Konsuls gipfelten – seiner weiteren Karriere ein Ende machte. Als Reaktion auf die Lynchmorde sandten mehrere europäische Mächte zur Intervention Kriegsschiffe nach Saloniki und erreichten so, dass die osmanischen Behörden viele der beteiligten Muslime bestraften. Hafız Ahmed floh in die Berge, wo er den Rest seines Lebens im freiwilligen Exil verbrachte.22 Sein Sohn Ali Rıza, ebenfalls ein kleiner Beamter mit einer elementaren Schulbildung, arbeitete bei der osmanischen „Verwaltung der frommen Stiftungen“ und später bei der Zollverwaltung. Türkische Historiker, die Atatürk gern einen militärischen Stammbaum nachweisen möchten, haben behauptet, sein Vater habe sich als Reaktion auf den 1876 drohenden Krieg mit dem Zarenreich zur Reserve von Saloniki gemeldet;23 nachweisen freilich lässt sich das nicht.24 Seine letzte bekannte Stellung war die eines Zollbeamten, der mit der Bekämpfung des Holzschmuggels zwischen dem Königreich Griechenland und dem Osmanischen Reich betraut war. In der Theorie brachte solch ein Posten ein ordentliches Salär mit sich. In der Praxis jedoch zahlte der bankrotte Staat nach 1878 seinen Bediensteten nur in einigen wenigen Monaten des Jahres das ihnen zustehende Gehalt. Um seine bescheidenen Bezüge aufzubessern, machte sich Ali Rıza seine Kenntnisse und Verbindungen zunutze und ging eine Geschäftspartnerschaft mit einem Holzhändler aus Saloniki ein. Nach anfänglichen Erfolgen überwarf er sich bald mit griechischen Wegelagerern, die sich ihren Lebensunterhalt mit der Erpressung von Schutzgeld beim Holztransport verdienten. Die Zusammenarbeit mit dem Holzhändler zerbrach, auch diese Einkommensquelle versiegte, und nach einer kurzen Episode im Salzhandel war Ali Rıza bankrott. Seine Verzweiflung war wohl mitursächlich für eine Krankheit, die im Alter von 47 Jahren zum Tode führte. Mustafa verlor seinen Vater, als er sieben Jahre alt war; Zübeyde wurde mit 27 Jahren zur Witwe.25

Bis zum Tod seines Vaters war der junge Mustafa im relativen Wohlstand der osmanischen Mittelschicht aufgewachsen. Die Familie wohnte in einem dreigeschossigen Haus im Ahmed-Subaşı-Viertel, einer der begehrteren Wohngegenden im muslimischen Teil von Saloniki. Sie war wohlhabend genug, sich einen afrikanischen Hausdiener und eine Amme für den kleinen Mustafa zu leisten. Dessen Erziehung war wohl liberaler als die der meisten muslimischen Kinder aus der Unterschicht. So lebte beispielsweise keiner der Männer aus dem engeren Familien- und Freundeskreis seiner Eltern in Vielehe. Auch heißt es von Mustafas Vater, er habe durchaus Alkohol getrunken, was den Religiös-Konservativen ein Gräuel war.

Einen ersten Eindruck von dem verwirrenden Dualismus, der mit den Reformen des 19. Jahrhunderts Einzug in die osmanische Gesellschaft gefunden hatte, dürfte dem kleinen Mustafa eine hitzige Diskussion seiner Eltern gegeben haben, bei der sein weiterer Bildungsweg zur Sprache kam. In den meisten städtischen Familien dieser Zeit verlief die Debatte zwischen Befürwortern von „Alla Franca“ auf der einen und Verfechtern von „Alla Turca“ auf der anderen Seite entlang der Generationengrenze: Kinder gegen Eltern. Nicht so in diesem Fall, wo die Spannung durch unterschiedliche Ansichten der beiden Elternteile erzeugt wurde. Ali Rıza standen als kleinem Beamten die Vorteile einer modernen Erziehung für den gesellschaftlichen Aufstieg klar vor Augen. Deshalb wollte er seinen Sohn gern auf die von Dönmes gegründete Şemsi-Efendi-Schule schicken, wo eigenständiges, kritisches Denken höher gewertet wurde als Auswendiglernen und Rezitation. Das war die Wahl vieler Muslime der Mittel- und Oberschicht (und natürlich der Dönmes). Die „französischen“ Elemente der Schule waren es, die sie insbesondere anzogen: Pulte, farbige Wandkarten und ein Schwerpunkt auf Mathematik und Naturwissenschaften (obgleich auch religiöse Inhalte gelehrt wurden). Mustafas fromme Mutter andererseits wollte ihren einzig überlebenden Sohn lieber auf eine traditionelle Grundschule schicken, an der Geistliche nach einem Lehrplan unterrichteten, der ganz um religiöse Unterweisung und das Erlernen der arabischen Sprache kreiste. Der Disput endete in einem eigentümlichen Kompromiss: Um seine Mutter zufriedenzustellen, besuchte Mustafa zunächst die fromme Elementarschule (wo er ein Päckchen mit einigen gut verpackten Blättern aus dem Koran auf die Brust geschnürt trug). Dort blieb er allerdings nur einige Tage, während deren er zumindest ein paar religiöse Gesänge lernte. Damit betrachtete Ali Rıza sein Gelübde Zübeyde gegenüber als erfüllt, und so schickte er seinen Sohn umgehend auf die Şemsi-Efendi-Schule.26

Es kann nur geringer Zweifel daran bestehen, dass Mustafas spätere Vorliebe für fortschrittliche Institutionen und Verfahrensweisen zu einem Gutteil auf seine frühen Erfahrungen als einer der sehr wenigen Schüler zurückgeht, die im Osmanischen Reich eine private Grundschule ohne übermächtigen religiösen Schwerpunkt besuchen konnten. Die den Zeitgenossen avantgardistisch anmutenden Gepflogenheiten der Şemsi-Efendi-Schule – so gab es dort beispielsweise Turnunterricht – zogen den Zorn der Konservativen auf sich, was sich in zeitweiligen Schließungen, mehr als einmal sogar in Übergriffen durch aufgebrachte Randalierer niederschlug.27 Der junge Mustafa scheint seine Zeit an der Şemsi-Efendi-Schule in vollen Zügen genossen zu haben, jedoch machte der Tod seines Vaters diesen glücklichen Tagen ein frühes Ende.

Die magere Witwenrente seiner Mutter – 40 Piaster im Monat, das entspricht im Jahr 2015 nur rund 20 Euro – bewog diese, aus Saloniki nach Langaza zu ziehen, in die Nähe ihres Heimatortes Vodina. Dort lebte sie unter dem Schutz ihres Stiefonkels Langazalı Hüseyin Ağa, der Verwalter auf einem ansehnlichen muslimischen Landgut war. Die Umstellung von einem bequemen Stadtleben in der Mittelschicht zu einem Landleben nah an der Armutsgrenze war eine bittere Erfahrung. Wie auch die anderen Mitglieder seiner Familie war Mustafa bestrebt, sich der neuen Lebenssituation auf dem Land anzupassen – ohne Erfolg. Die wenig anspruchsvollen Aufgaben, die ihm Hüseyin Ağa übertrug, forderten ihn nicht; so war es etwa seine Pflicht, als eine Art bessere Vogelscheuche die Krähen von den Bohnenfeldern zu vertreiben.28 Die Unterbrechung der schulischen Ausbildung ihres Sohnes bedrückte seine Mutter zutiefst. Für eine kurze Zeit ging Mustafa bei einer nahegelegenen Kirche auf eine griechische Schule. Danach gab ihm ein albanischer Verwalter auf dem Landgut Privatstunden in einigen grundlegenden Fächern. Aber das alles war nicht genug. Schließlich beschloss Zübeyde, ihren Sohn zu seiner weiteren Erziehung zurück in die Stadt zu schicken.29

Mustafa kehrte also nach Saloniki zurück, wo er bei seiner Tante Hatice lebte, einer Schwester seines verstorbenen Vaters. Kurz darauf beendete ein unschöner Vorfall seine Schulzeit an der einzigen zivilen Vorbereitungsschule der Stadt. Einer von Mustafas Lehrern geriet in Rage, nachdem jener an einer Rauferei mit Mitschülern beteiligt gewesen war, und prügelte ihn schwer. Blutig geschlagen und gedemütigt verließ Mustafa die Schule; er sollte dorthin nie zurückkehren.30 Im Folgejahr traf er im Alter von dreizehn Jahren eine der gewichtigsten Entscheidungen seines Lebens: Sich über die Einwände seiner Mutter hinwegsetzend, bewarb er sich heimlich bei der militärischen Vorbereitungsschule von Saloniki. In seinen Memoiren beschreibt Mustafa Kemal, wie tief ihn die Uniformen der Kadetten und Offiziere beeindruckt hatten.31 Auf dem Land lebte er in der Nachbarschaft eines Majors des osmanischen Heeres, dessen Sohn bereits auf diese Schule ging. Als die Nachricht von Mustafas Aufnahme eintraf, beugte sich Zübeyde widerstrebend den vollendeten Tatsachen. Auf diese Weise also begann Mustafa seine Militärkarriere.

Die militärischen Vorbereitungsschulen waren, wie ihre zivilen Pendants, ein Produkt der Reformära. Ihr Besuch war allen osmanischen Untertanen gestattet, ohne Ansehen der Religion. Allerdings deuten entsprechend zugeschnittene, regelrechte Werbekampagnen der Regierung darauf hin, dass es bei den nichtmuslimischen Teilen der Bevölkerung einiger Überzeugungsarbeit bedurfte, um ihnen diese Schulen schmackhaft zu machen.32 Die meisten von ihnen sahen in den Militärschulen keine wirkliche Alternative zur Erziehung ihrer Kinder. Die militärischen Vorbereitungsschulen folgten einem Lehrplan, der zwar modern, aber doch nicht radikal modern war. Es gab Französischunterricht, aber eben auch solchen in Persisch und Arabisch. Man legte großen Wert auf Mathematik, Zeichnen und Sport, aber eben auch auf einige religiöse Fächer. Auf ihre Weise verkörperten diese Schulen eine Art Hybridform aus der klassischen osmanischen Bildungstradition und dem modernen französischen Schulsystem. Dennoch war den Begründern dieses Schultypus offenkundig daran gelegen, ihre Schüler auf das moderne Leben vorzubereiten; die religiösen Zugeständnisse sollten wohl am ehesten der Wahrung des öffentlichen Friedens dienen. Der Hauptunterschied zwischen der zivilen und der militärischen Variante dieser Schulform bestand – wenig überraschend – darin, dass die letztere (noch) strengere, militärische Disziplin einforderte. Die Schüler trugen Uniform, salutierten vor ihren Lehrern (die zumeist niedere Offiziere waren) und waren einer strikten Hierarchie unterworfen. Die militärischen Vorbereitungsschulen stachelten zudem durch ein ausgeklügeltes Bewertungs- und Rangsystem den Wettbewerb unter den Schülern an. Trotz diesem alles in allem ausgeprägt militärischen Umfeld wechselten die meisten Schüler im Anschluss auf eine zivile Oberschule. Viele hatten auch überhaupt keine Ambitionen, die Offizierslaufbahn einzuschlagen.

Mustafa war ein fleißiger Schüler, der insbesondere in Mathematik hervorragende Leistungen zeigte. Dies brachte ihm, als Primus, seine erste Führungsposition ein. Lehrer und Mitschüler entschieden übereinstimmend, dass er Klassen-Sergeant (eine Art „Klassensprecher auf Militärisch“) werden sollte. In dieser Funktion diente er als Verbindungsglied zwischen der Schülerschaft und der Schulleitung – in dem strikt hierarchischen System der osmanischen Militärschulen eine nicht zu unterschätzende Position. Tatsächlich nannte Mustafas Mutter diese Wahl noch Jahre später als einen seiner herausragenden Erfolge.33 Ein anderes Ereignis von besonderer Tragweite hinterließ bei Mustafa sogar noch deutlichere Spuren: Sein Mathematiklehrer, der ebenfalls Mustafa hieß, bat seinen strebsamen Zögling, sich doch einen zweiten Namen beizulegen, damit es nicht zu Verwechslungen komme. Solche Probleme traten in der osmanischen Gesellschaft tatsächlich häufig auf, denn osmanische Muslime hatten ja keine Familiennamen – eine Neuerung, die Mustafa (der Schüler) selbst – allerdings erst 1934 – einführen sollte. Der Lehrer Mustafa schlug nun also „Kemal“ als Zweitnamen vor, was soviel wie „Reife“ oder „Vollkommenheit“ bedeutet. Zudem war es der Name des prominentesten patriotischen Dichters des Osmanenreiches zu jener Zeit, Namık Kemal, der von den jungen Osmanen als Bannerträger und Märtyrer des Kampfes gegen die absolutistischen Regime der Sultane Abdülaziz (reg. 1861–1876) und Abdülhamid II. (reg. 1876–1909) verehrt wurde. Mustafa nahm diesen Vorschlag gern an.34

Die einzige Wolke am ansonsten blauen Himmel seiner Zeit an der militärischen Vorbereitungsschule war die zweite Heirat von Mustafa Kemals Mutter. Eine Witwe hatte es in der osmanischen Gesellschaft nicht gerade leicht. Zübeyde geriet in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten und entschloss sich daher, einen kleinen Inspektionsbeamten bei der Régie Ottomane des Tabacs zu heiraten (im Gefolge des osmanischen Staatsbankrotts von 1881 waren die osmanische Tabakproduktion und der Handel mit Tabak und Tabakprodukten staatlich monopolisiert worden). Erzürnt von der Entscheidung seiner Mutter sowie von ihrem Versäumnis, ihn hinreichend früh von ihren Hochzeitsplänen in Kenntnis zu setzen, verließ Mustafa Kemal den gemeinsamen Haushalt und zog zu einem entfernten Verwandten.35 Nach seinem Schulabschluss bewarb er sich – auf die Ermutigung seiner Lehrer hin – bei der militärischen Oberschule in Manastır (dem heutigen Bitola in der Republik Mazedonien). Es überrascht kaum, dass er auch die Aufnahmeprüfungen für dieses prestigeträchtige, ebenfalls staatliche Internat bestand, und so verließ Mustafa Kemal Saloniki und die Schauplätze seiner Jugend in Richtung einer weiteren bedeutenden Stadt des osmanischen Europa.

Mustafa Kemals Herkunft aus scheinbar bescheidenen Verhältnissen in Saloniki entsprach jedoch – mit Blick auf die gesamtosmanische Gesellschaft – der aus einem eher angesehenen Elternhaus. Um dies zu verstehen, muss man sich nur ins Gedächtnis rufen, dass das Osmanische Reich (im Gegensatz zur heutigen Türkischen Republik) ein in gleichem Maße europäisches wie asiatisches Staatsgebilde war. Rumelien (die europäische Türkei) und Anatolien (ihr kleinasiatischer Anteil) bildeten die beiden tragenden Säulen des Staatsgebäudes; Istanbul war, wie der Schlussstein eines Gewölbebogens, zwischen diesen beiden eingepasst. Rumelien und Anatolien hatten schon vor der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 den Kern des Osmanenreiches ausgemacht, und auch die nachfolgende Eroberung der arabischen Gebiete des Reiches änderte in der Vorstellung seiner turksprachigen Bevölkerung nichts an diesem Grundkonzept. Rumelier und Anatolier sprachen dennoch ein sehr unterschiedlich gefärbtes Türkisch mit deutlichen lokalen Akzenten und anderen Eigenheiten. Der rumelische Dialekt hatte in seinen Wortschatz eine Vielzahl von albanischen, griechischen und slawischen Wörtern aufgenommen; trotzdem galt er als die dem Istanbuler Idiom – das in etwa das Prestige des Hochdeutschen oder des britischen Queen’s English für sich beanspruchen konnte – ähnlichere Mundart. Einen Fremden, der in eine neue Stadt kam, hat man damals wohl zuallererst gefragt, ob er aus Anatolien oder Rumelien komme. Das osmanische Brauchtum schrieb den Rumeliern verfeinerte Sitten, Klugheit, Charme und Eleganz zu, während die Anatolier stereotyp als couragiert, ehrlich und geradeheraus dargestellt wurden.


Abb. 1 Saloniki um die Jahrhundertwende.

In gewisser Hinsicht fungierten türkische Rumelier der Oberschicht in ihrer Eigenschaft als Herrschaftselite als ein Ersatz für die fehlende Aristokratie im Osmanischen Reich. Saloniki stellte – als die Metropole Rumeliens – den zentralen Bezugsort dieser Elite dar. Aus der Sicht der Rumelier war es kein Zufall, dass sie mehr hochrangige Beamte und kaiserliche Würdenträger stellten als ihre anatolischen Cousins. Auch war es wenig überraschend, dass es ausgerechnet vornehme Rumelier gewesen waren, die 1808 eine folgenreiche Bewegung angeführt hatten: Diese ließ dem damaligen Sultan letztlich keine andere Wahl, als ein Dekret zu erlassen, das häufig – aber eigentlich aus einem Missverständnis heraus – als die „osmanische Magna Carta“ bezeichnet wird, und den Sultan verpflichtete, seine Herrschaftsgewalt im Reich jeweils mit örtlichen Notabeln zu teilen. Fast alle rumelischen Muslime türkischer Abstammung unterstrichen ihre selbst so wahrgenommene Überlegenheit, indem sie sich stolz als „Kinder der Eroberer“ (evlâd-ı fatihân) bezeichneten. Das war ein alter und geachteter Titel, der 1691 den Nachfahren jener türkischen Pioniere gewährt worden war, die sich als erste in den europäischen Provinzen des Reiches angesiedelt hatten, und der enorme Steuer- und Militärdienstprivilegien mit sich brachte.36 Die „Kinder der Eroberer“ hatten traditionell in eigenen Militäreinheiten gedient und waren dort zudem besser behandelt worden als die übrigen Muslime – zumindest, bis die Tanzîmât-Reformer, die jegliche Form von Sonderbehandlung im ganzen Reich abschaffen wollten, diese Privilegien im Jahr 1845 kurzerhand strichen.37 Das Prestige jedoch, das mit dem alten Ehrentitel verbunden war, blieb bestehen. Ein Vergleich von großer suggestiver Kraft ließe sich etwa mit dem prestigeträchtigsten anatolischen Titel anstellen: seyyid, der auf die Abstammung seiner Träger vom Propheten Muḥammad hinweist. Mustafa Kemal, dessen Anspruch auf eine türkisch-nomadische Herkunft durch die Tatsache noch gestärkt wurde, dass seine Mutter aus Langaza stammte, einer Hochburg jener „Kinder der Eroberer“, sah sich selbst so, wie er auch von anderen gesehen wurde: als kultivierter Angehöriger einer privilegierten Schicht.

Die spätere Westorientierung des Erwachsenen Mustafa Kemal war somit auf das Innigste mit seiner Kindheit und Jugend in den europäischen Provinzen des Osmanischen Reiches verbunden. Tatsächlich war Saloniki eines der augenfälligsten Beispiele für das prekäre Nebeneinander von alt und neu im Osmanischen Reich der Reformära. In diesem Zusammenhang hieß „alt“ im Wesentlichen „traditionell und religiös“, während „neu“ als beinahe gleichbedeutend mit „europäisch und säkular“ verstanden werden kann. Viele Osmanen jener Jahre fassten das ganze Leben als ein ewiges Tauziehen zwischen den Kräften der Moderne und jenen der Tradition auf. In gleich mehrer Hinsicht neigte Saloniki eher den modernen Einflüssen zu: Die Stadt hatte Cafés nach westlicher Art vorzuweisen, in denen Bier aus Wien ausgeschenkt wurde; literarische Vereinigungen veranstalteten philosophische Diskussionsabende; Theater führten Tragödien, Komödien und Operetten auf; die Bildungslandschaft war vielfältig; die tatsächliche Präsenz so vieler Europäer in der Stadt machte sich ebenfalls bemerkbar. Alles in allem hatte Saloniki in der Reformära eine gewaltige Transformation durchlaufen und sah mittlerweile einer westeuropäischen Stadt gar nicht unähnlich. Die muslimische Gemeinde – und insbesondere ihr progressiver Dönme-Anteil – hatte die fortschrittlichsten Schulen im ganzen Osmanischen Reich errichtet. Der junge Mustafa, dem es an Gelegenheiten zum Vergleich von alt und neu wahrlich nicht gemangelt hatte, entschloss sich aus freien Stücken und vollem Herzen, den Weg der Moderne einzuschlagen.

Mustafa Kemals kosmopolitischer Hintergrund befähigte ihn zudem, zu verstehen, warum die Reformen scheiterten, sobald sie in den Bannkreis der immer heftiger werdenden Grabenkämpfe zwischen den größeren ethnischen und religiösen Gruppierungen des Osmanenreiches gerieten: Diese ließen sich auch durch Reformen nicht beilegen. In den Jahrzehnten vor seiner Geburt hatten die Verfechter der Tanzîmât-Politik sich bemüht, gesellschaftliche Konflikte, ethnischen Separatismus und religiösen Obskurantismus zu überwinden, indem sie eine neue, überstaatliche, eine osmanische Identität propagierten. Sie hatten alle Untertanen des Reiches darauf verpflichten wollen, ihre ethnischen und sonstigen Zugehörigkeiten einer neuen Identität als Osmanen unterzuordnen. Aber die tiefen religiösen und ethnischen Gräben in der Gesellschaft ließen sich so leicht nicht beseitigen. Den nationalistischen Aufständen in der Herzegowina und bald darauf in Bosnien folgten gewaltsame Zusammenstöße zwischen Muslimen und Christen in Bulgarien, die schließlich zum Russisch-Osmanischen Krieg von 1877/78 führten. Und da sollten sich all diese verfeindeten Gruppen schlicht und einfach als „Osmanen“ fühlen? Mehr noch: In dem Maße, in dem das Osmanenreich schrumpfte, seine rumelischen Provinzen entweder an europäische Staaten abtreten oder ihnen ihre Unabhängigkeit gewähren musste, stieg der proportionale Anteil von Muslimen an der Gesamtbevölkerung des Reiches. Dies war einer der Faktoren, die Sultan Abdülhamid II. dazu bewogen, die osmanische Identität in eine supranationale Gemeinschaft von Muslimen umzudefinieren. Diese neue Politik des Panislamismus allerdings, die alle Nichtmuslime schlicht ignorierte, verschärfte selbstredend die Spannungen zwischen Muslimen und Christen innerhalb des verbliebenen Reiches.

Die Rückführung Makedoniens in den Schoß des Osmanischen Reiches anlässlich des Berliner Kongresses von 1878 verwandelte, da sie ja unter der Bedingung prochristlicher Reformen erfolgt war, jene Provinz in eine Brutstätte ethnischer Konflikte. Das gerade erst unabhängig gewordene Fürstentum Bulgarien, das schließlich Makedonien gezwungenermaßen an den Sultan zurückgeben musste, stachelte die dort ansässigen Bulgaren zu großflächigen Guerillaaktivitäten gegen die osmanische Obrigkeit und die muslimischen Einwohner auf. Bald folgten auch die makedonischen Griechen diesem Beispiel. Beide Gruppen hatten ein begehrliches Auge auf die reiche Hafenstadt Saloniki geworfen. Die Griechen, die unter der dortigen Bevölkerung erst an dritter Stelle hinter den Juden und den Türken rangierten, beanspruchten die Stadt aufgrund ihrer antiken und byzantinischen – und also griechischen – Vergangenheit. Die Bulgaren, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung noch wesentlich geringer wog, betrachteten Makedonien als „Westbulgarien“ und begehrten Saloniki, die Zierde der ganzen Gegend, mitsamt der dazugehörigen Provinz für sich. Am Ende sollten die Griechen zum Zuge kommen.

Mustafa Kemal hatte als Kind und als Jugendlicher den Guerillakrieg der Bulgaren und Griechen in Makedonien miterlebt. Als Erwachsener erfuhr er die schmerzhafte und demütigende griechische Besetzung und schließliche Annexion von Saloniki im Ersten Balkankrieg von 1912. Später erinnerte er sich daran folgendermaßen:

Als ich eines Tages vom Kampfgebiet in der Kyrenaika [im östlichen Libyen] in das Feuer des Balkan[krieg]s zurückkehren wollte, bemerkte ich, dass sämtliche Wege von … den Küsten Afrikas in mein Vaterland versperrt waren. Eines Tages hörte ich dann, dass Saloniki – meines Vaters Stadt! – dem Feinde zugestanden worden war mitsamt meiner Mutter, Schwester und allen meinen Verwandten. … Eines Tages hörte ich wiederum, dass im Minarett der Hortacı-Süleyman-Moschee eine Glocke eingesetzt worden war und dass auf den Gebeinen meines Vaters dort die schmutzigen Stiefel der Griechen herumgetrampelt hatten.38

Von diesem Zeitpunkt an war Mustafa Kemal ein Mann, der niemals würde nach Hause zurückkehren können. Die Geschehnisse hatten das hehre kosmopolitische Ideal des Osmanismus als bloßen Wunschtraum entlarvt. Zudem unterstrichen sie die Bedeutung militärischer Macht und erteilten allen Beobachtern eine eindrückliche Lektion in Sachen der legitimierenden Kraft historischer Erzählungen, die potenziell einen viel größeren Einfluss auf das Schicksal von Städten, Regionen und sogar ganzen Ländern haben konnten, als dies die bloße Demografie je vermocht hätte. Diese Lektion sollte bei Mustafa Kemals späteren Bemühungen, als Gründer einer Türkischen Republik in Anatolien einen unangefochtenen türkischen Herrschaftsanspruch durchzusetzen, eine entscheidende Rolle spielen. Dies erklärt auch, warum er es in dem heftigen Krieg gegen den griechischen Irredentismus nicht bei einem Sieg auf dem Schlachtfeld bewenden ließ, sondern vielmehr eine pseudowissenschaftliche Kampagne in Gang setzte, die anhand der angeblich hethitischen und sumerischen Wurzeln des türkischen Volkes jegliche historisch begründeten „fremden“ Ansprüche auf ein Stück anatolischen Bodens im Keim ersticken sollte. Außerdem ließ er die alte, kosmopolitische Konzeption des Osmanismus – die ja das Unmögliche versucht hatte, indem sie einem Vielvölkerreich einen einheitlichen Nationalismus verschreiben wollte – vollends fahren und machte sich daran, einen neuen Staat zu errichten, der so homogen – und damit so „unbalkanisch“ – wie nur möglich werden sollte.

Es gab noch einen weiteren prägenden Prozess, den der junge Mustafa Kemal als Kind und Jugendlicher in Rumelien miterlebte: den Transfer wirtschaftlicher Macht und Prosperität innerhalb der osmanischen Gesellschaft von Muslimen zu Nichtmuslimen. Traditionell hatten sich die osmanischen Muslime durchaus in den Bereichen von Warenproduktion, Handel und anderen Geschäften engagiert; durch beträchtliche Steuervorteile begünstigt, hatten sie das wirtschaftliche Leben im osmanischen Reich über Jahrhunderte dominiert. Jetzt allerdings, im 19. Jahrhundert, führten der sich stark belebende Handel mit den europäischen Wirtschaftsmächten und die Abschaffung der alten osmanischen Schutzzölle zu einer wahren Flut westlicher Waren, wohingegen sich der muslimisch dominierte produzierende Sektor innerhalb des Reiches auf dem absteigenden Ast befand. In einer Volkswirtschaft, die nun eher auf Importen als auf der einheimischen Produktion basierte, war es nur konsequent, dass der Handel eine zentrale Rolle einnahm. Und ausgerechnet im Handel wogen die Nachteile der Muslime am schwersten.

Diese Problematik hatte unterschiedliche Aspekte. Zum einen profitierten europäische Kaufleute enorm von der neuen, liberaleren osmanischen Handelspolitik und brachten durch Kooperationen mit nichtmuslimischen Osmanen einen beträchtlichen Teil des osmanischen Marktes unter ihre Kontrolle. Zweitens nahmen nicht wenige dieser nichtmuslimischen Osmanen eine fremde Staatsbürgerschaft an – einerseits, um das osmanische Steuersystem zu umgehen, andererseits, um sich ausländischer Protektion zu versichern; Interventionen zu ihren Gunsten durch die örtlichen europäischen Konsuln waren in den Städten Rumeliens bald eine Alltäglichkeit. Diese Vorkommnisse führten unter den Muslimen zu einiger Verbitterung, die ihren Ausdruck in einem populären Sprichwort fand: „Die Ungläubigen haben europäische Schutzherren; wir haben keinen Schutzherrn außer Gott.“39 Drittens gewährte die osmanische Regierung einigen christlichen Gruppen gewisse Privilegien, so etwa ihren griechisch-orthodoxen Untertanen, denen gestattet wurde, unter russischer Flagge zur See zu fahren. In der Bilanz all dieser Faktoren zogen die nichtmuslimischen Gewerbetreibenden des Reiches enorme Vorteile aus den Reformen jener Jahre. Viele Vorkommnisse, die oft allzu schnell als Fälle von „islamischem Fanatismus“ aufgefasst werden, hatten ihre tiefen sozio-ökonomischen Wurzeln in der Unzufriedenheit der Muslime, die sich plötzlich – in einem nach außen hin muslimischen Großreich – wirtschaftlicher Benachteiligung ausgesetzt sahen. Wie bereits geschildert, verbrachte Mustafa Kemals Großvater seinen Lebensabend wegen seiner Beteiligung an einem ähnlichen Vorfall als Flüchtling in den Bergen von Makedonien. Ganz ähnlich gab sein Vater die Schuld am Scheitern seines Holzimportgeschäfts der Machtlosigkeit einer Verwaltung, die griechische Wegelagerer nicht daran zu hindern vermochte, mit nichtmuslimischen Kaufleuten zusammenzuarbeiten40 – eine verbreitete Klage unter Muslimen in den rumelischen Großstädten. Und schließlich arbeitete Mustafa Kemals Stiefvater für eine ausländische Firma, die alle Führungspositionen mit Ausländern und Nichtmuslimen besetzte, während die Muslime sich mit Wach- oder Schreibertätigkeiten begnügen mussten. Diese Kindheitseindrücke helfen, einen weiteren markanten Aspekt von Mustafa Kemals Lebensphilosophie zu erklären: Obwohl er lebenslang der eingeschworene Verfechter einer Modernisierung nach westlichem Vorbild blieb, war er doch stets ein ebenso standhafter Gegner einer Infiltration der Türkei durch westliche Wirtschaftsinteressen und politische Einflussnahme.

Atatürk

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