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3. Kraft und Stoff: Der jungtürkische Kampf gegen den Islam

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Am 13. Februar 1878 vertagte Sultan Abdülhamid II. die Osmanische Abgeordnetenkammer, die gerade erst ein knappes Jahr bestanden hatte, auf unbestimmte Zeit.1 Obgleich es sich dabei offiziell nur um einen vorläufigen Schritt handelte, sollte die Auflösung der Volksversammlung – denn de facto handelte es sich um eine solche – über mehr als drei Jahrzehnte hinweg bestehen bleiben, was eine der wichtigsten und dauerhaftesten Oppositionsbewegungen der neueren Geschichte hervorbrachte. Diese Gegner des von Abdülhamid II. nach 1878 errichteten Regimes werden gemeinhin als „Jungtürken“ bezeichnet. Unter ihnen gab es Dissidenten verschiedenster Couleur, von muslimischen Klerikern bis hin zu ethnischen Nationalisten, Freimaurern und vormalig hochrangigen Staatsbeamten, die sich der jungtürkischen Bewegung jeweils zu unterschiedlichen Zeitpunkten anschlossen. Den harten Kern jener Bewegung bildeten jedoch Kadetten, Studenten und Absolventen der größeren kaiserlichen Hochschulen – Bildungseinrichtungen, die der Sultan meist selbst gestärkt und modernisiert hatte. Mustafa Kemals Einstellungen und spätere Politik sollten in einem sehr hohen Grad von den Ideen geprägt werden, mit denen er als Aktivist der jungtürkischen Bewegung in Berührung kam – und auch von den Erfahrungen, die er in jener Zeit machte.

Eine überwältigend hohe Anzahl dieser jungen Männer waren Anhänger des sogenannten „Vulgärmaterialismus“2 einer recht eigentümlichen philosophischen Schule, die sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland herausgebildet hatte. Wie der Name schon vermuten lässt, handelte es sich hierbei um eine vereinfachte, popularisierte Version des klassischen Materialismus, die sich im wesentlichen aus populären Versatzstücken von Materialismus, Wissenschaftsglauben und Darwinismus zusammensetzte, um – in der Synthese – eine ziemlich schlichte Ideologie von der alles bestimmenden Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft zu ergeben.3 Die spätosmanische Version dieses materialistischen Weltbildes bestand in einer weiter vereinfachten Fassung des deutschen Originals, die als ein bunt gemischtes Sammelsurium höchst unterschiedlicher Ideen daherkam, denen nur eines gemein war: Sie richteten sich gegen die Religion. Den Jungtürken entging dabei die subtile Ironie ihrer eigenen unreflektierten Verehrung prominenter deutscher Vertreter des Materialismus. Ihr größtes Idol war der Physiologe Ludwig Büchner, dessen Hauptwerk Kraft und Stoff von ihnen als eine Art heilige Offenbarung angesehen wurde. In seiner Widersprüchlichkeit erinnert ihre inkonsequente Ablehnung der Religion an Fjodor Dostojewskis Roman Die Dämonen (Bessy), in dem der Protagonist mit einer Axt auf die christlichen Ikonen seines Grundherren losgeht, nur um sie durch mit Kerzen geschmückte Lesepulte zu ersetzen, auf denen die Bücher von Ludwig Büchner, Jacob Moleschott und Carl Vogt ausgestellt sind.4 In ihrer deutschen Heimat stieß diese Bewegung nur auf vergleichsweise bescheidene Resonanz. Im Osmanischen Reich jedoch ging ihre Saat in einem sehr einflussreichen Kreis von Jüngern auf. Obwohl die Jungtürken um die Jahrhundertwende noch eine ausgesprochene Randgruppe darstellten, sollten sie doch später für über ein Jahrzehnt die Macht im islamischen Kalifat erhalten, um aus dessen Überresten anschließend einen säkularen Nationalstaat zu formen. Durch eine bizarre Laune des Schicksals trug der deutsche Vulgärmaterialismus seine folgenreichsten Früchte also in einer Umgebung, die sich von seinem Herkunftskontext unterschied wie die Nacht vom Tag. Noch dazu war es eine weiter vereinfachte Variante einer seiner Hauptmaximen – „die Religion ist nichts, alles die Wissenschaft“ –, die später einen der ideologischen Stützpfeiler des modernen türkischen Nationalstaats bilden sollte.5

Es ist schlicht unmöglich, die politischen Vorstellungen Mustafa Kemals – und deren Umsetzung – zu verstehen, ohne dabei eines zur Kenntnis zu nehmen: Er gehörte der gebildeten Schicht einer Generation an, die eine äußerst krude Version von Wissenschaftsorientierung als Allheilmittel für die „Gebrechen“ des Osmanischen Reiches ansah, und die in der Doktrin des Vulgärmaterialismus ein unschätzbares Repertoire von Handlungsmaximen gefunden zu haben glaubte, deren Befolgung eine prosperierende, rationale und areligiöse, kurz: eine moderne Gesellschaft werde entstehen lassen. Diese Männer lasen mit Begeisterung solche osmanischen Zeitschriften wie Mussaver Cihan („Illustrierte Welt“), die etwa „Chemielektionen für jedermann“ versprachen,6 wissenschaftliche Erklärungen „übernatürlicher“ Vorkommnisse präsentierten und anhand einfacher Illustrationen die Grundlagen des Darwinismus vermitteln wollten.7 Anders als ihre populären Gegenstücke in Europa – etwa Die Gegenwart, Die Natur oder auch Science pour tous – wurden die materialistischen Journale im Osmanischen Reich als hochseriöse wissenschaftliche Publikationen wahrgenommen, und ihr ständiges Mantra – „Wissenschaft geht über alles“ – wurde das Motto einer ganzen Generation. Konsequenterweise eignete sich ein beträchtlicher Teil der gebildeten Schichten jener Generation ein Geschichtsbild an, dessen Dreh- und Angelpunkt die Vorstellung eines geradezu kosmischen Ringens zwischen Religion und Wissenschaft war. Dieser Kampf – da waren sich die osmanischen Vulgärmaterialisten sicher – sollte mit dem Triumph der Wissenschaft als einem neuen, umfassenden Glaubens- und Welterklärungssystem enden. Wie die meisten Anhänger derartiger Endzeitvisionen glaubten sie, der Sieg ihrer, der gerechten Sache werde noch zu ihren Lebzeiten erfolgen. Es war kein Zufall, dass John William Drapers Conflict between Religion and Science nach seiner Übersetzung ins Türkische in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts im Osmanischen Reich zum Bestseller avancierte.8

Im Jahr 1889 wurde an der Kaiserlich-Osmanischen Medizinischen Hochschule in Istanbul eine politische Vereinigung mit einer stark wissenschaftlich-materialistischen Ausrichtung gegründet, das „Komitee für osmanische Einheit“ (İttihad-ı Osmanî Cemiyeti). Eines seiner Gründungsmitglieder, ein gewisser Dr. Şerafeddin Mağmumî, sorgte mit dem Vorschlag für Aufsehen, die Poesie sei wegen ihres unwissenschaftlichen Wesens umgehend abzuschaffen.9 Im Jahr 1895 benannte sich die Gruppierung, wohl als Resultat eines wachsenden positivistischen Elements innerhalb ihrer Führungsriege, in „Osmanisches Komitee für Einheit und Fortschritt“ um. Obwohl die Wandlung des Komitees für Einheit und Fortschritt (KEF) vom Studentenverein zur revolutionären Verschwörung seine einst primär wissenschaftsideologische Agenda in späteren Jahren vielerorts verschleiert hat, blieb der Szientismus – also die Absolutsetzung (natur-) wissenschaftlicher Methodik als Vorbild für sämtliche Lebensbereiche – in seiner vorgestellten, spezifisch vulgärmaterialistischen Ausprägung doch ein fester Bestandteil der jungtürkischen Ideologie. Lange Zeit wurden deren Anhänger von dem misslichen Umstand, Revolution und Machtergreifung in einem Vielvölkerreich unter dem Banner des Islam vorbereiten zu müssen, an der allzu deutlichen Äußerung ihrer Ansichten gehindert, doch schwand diese Hemmung, zusammen mit dem Osmanischen Reich selbst, im Jahr 1922; nun konnten die Anhänger der neuen „Wissenschaftsreligion“ wieder freimütig ihren „Glauben“ vertreten.

Mustafa Kemal gehörte der in den frühen 1880er-Jahren geborenen zweiten Generation der Jungtürken an. Seine Kinder- und Jugendzeit in Saloniki sowie seine Erziehung an diversen säkularen Bildungseinrichtungen haben zweifellos dazu beigetragen, ihn für Kritik am religiösen Establishment ausgesprochen empfänglich zu machen. Und obwohl die Kaiserlich-Osmanische Militärakademie bestimmt keine bedeutende Brutstätte des osmanisch-materialistischen Aktivismus war, beging doch einer ihrer bekannteren Absolventen, Beşir Fu᾽ad, 1887 allein aus dem Grund Selbstmord, weil er den fundamental experimentellen und also auch fundamental manipulierbaren Charakter des Lebens als eines „wissenschaftlichen“ Phänomes beweisen wollte.10 Wie viele seiner Kameraden machte auch Mustafa Kemal durch populäre Zeitschriften und Pamphlete Bekanntschaft mit diesem Thema. Später las er Teile von Ludwig Büchners Kraft und Stoff und zeigte sich augenscheinlich insbesondere von der Folgerung beeindruckt, dass das menschliche Denken eine materielle Basis haben müsse, was aus der zentralen Bedeutung des Phosphors für die Physiologie des Gehirns hervorgehe.11 Eine andere Studie Büchners, diesmal über die Ursprünge und künftigen Perspektiven der Menschheitsentwicklung, hat ihn wohl sogar noch tiefer beeindruckt.12 Wie viele andere seiner Generation warf Mustafa Kemal den Vulgärmaterialismus, wie er von Büchner und anderen propagiert wurde, mit der materialistischen Tradition eines Barons d’Holbach oder eines Voltaire in einen Topf.13 Eine ähnliche Tendenz zu allzu starker Vereinfachung zeigt sich bei seinem eifrigen Eintreten für die Evolutionstheorie, die ihm wohl hauptsächlich aus den Werken von H. G. Wells bekannt war. So kommt es zu Bemerkungen wie der folgenden: „Da der Mensch, wie alle anderen Reptilien auch, aus dem Meer gestiegen ist, waren unsere Vorfahren Fische.“14 Allgemein gesprochen lassen seine häufigen Einlassungen über das menschliche Leben als einen natürlichen Überlebenskampf auf starke sozialdarwinistische Überzeugungen schließen.15

Obwohl er die maßgeblichen Werke der populären materialistischen Autoren zumindest flüchtig gelesen hat – was ihn bereits tief beeindruckte –, wurde Mustafa Kemal kein wirklich eigenständiger wissenschaftstheoretischer Denker. Die eine, doch recht simple Schlussfolgerung, die er aus seiner Lektüre gezogen zu haben scheint, ist, dass Wissenschaft den Fortschritt beschleunigt, während Religion ihn hemmt. Einer seiner bekanntesten Aussprüche – „Die sicherste Richtschnur im Leben ist die Wissenschaft!“ – enthüllt ein eindimensionales Weltbild, innerhalb dessen der Wissenschaft ein entscheidender Einfluss auf jeglichen Aspekt des menschlichen Lebens zugeschrieben wird. „Wer sich einer anderen Führung als der Wissenschaft anvertraut“, heißt es an anderer Stelle mit religionskritischem Unterton, „ist gedankenlos, feige und ignorant.“16 Für ihn galt: „Nichts, das nicht vom Alltagsverstand erklärt werden kann, ist des weiteren Bedenkens wert.“17 Dementsprechend waren Religionen menschengemachte Strukturen, die von ihren jeweiligen Propheten unter konkreten historischen Umständen begründet worden waren: „Moses war ein Mann, der für die Befreiung der Juden gekämpft hat, als sie unter den Peitschenhieben der Ägypter ächzten“;18 „Jesus war ein Mensch, der das jämmerliche Elend seiner Zeit verstanden und die Reaktion gegen die Leiden seiner Zeit in eine Religion der Liebe überführt hat.“19 Was den Islam betraf, stimmte er zumindest zu, dass dieser nicht „aufgrund des nationalen Werdens der Araber, sondern aufgrund des Auftretens des Muḥammad entstanden“ sei,20 eine Bemerkung, die ihre Nähe zu Thomas Carlyles Einschätzung des Propheten nicht verleugnen kann.21


Abb. 4 Frontispiz und Titelseite von Ludwig Büchners Kraft und Stoff (hier eine Auflage von 1888; das Buch erschien erstmals 1855).

Während der letzten Jahrzehnte des Osmanischen Reiches waren derartige Meinungen keine Seltenheit; manch einer ließ sich sogar dazu hinreißen, die Behauptung des niederländischen Orientalisten Reinhart Dozy zu übernehmen, das Auftreten des Islam sei das direkte Resultat einer „muskulären Hysterie“ des Propheten, die – so die zuerst von Aloys Sprenger vertretene These – zu Krampfanfällen geführt habe.22 Eine jungtürkische Zeitschrift, die zunächst in Genf und Kairo erschien, verbreitete diese und andere religionskritische Thesen mit der Zeit auch in der Hauptstadt des Osmanischen Reiches.23 Diese ironisch-provokanterweise İctihad betitelte Publikation (der Fachterminus Ijtihād bezeichnet in der islamischen Rechtslehre ursprünglich einen eigenständigen Beitrag zum gelehrten Diskurs seitens eines qualifizierten Juristen) bemühte sich, den Islam als eine materialistische Philosophie neu zu begründen, die das kulturelle Substrat einer künftig zu errichtenden, areligiösen Gesellschaft bereitstellen sollte. Die Idee einer neuen Religion, die von Dogmen, Mythen, Ritualen und übernatürlichen Handlungsaufträgen frei sein werde, stammt aus dem Denken des französischen Dichterphilosophen Jean-Marie Guyau und wurde bald ein fester Bestandteil der spätosmanischen Wissenschaftsideologie. Auf der Arabischen Halbinsel benannte Scherif Ḥusayn von Mekka die in den Seiten von İctihad veröffentlichten Angriffe auf den Islam als einen der Hauptgründe für den Arabischen Aufstand von 1916.24 In Ankara wurde nur ein Jahrzehnt später dieselbe beißende Kritik zur Regierungsgrundlage. Es heißt, Mustafa Kemal habe 1925 gegenüber dem Chefredakteur von İctihad, den er als Kandidaten für einen Sitz im Parlament ansah, bemerkt: „Herr Doktor, bislang haben Sie ja über so einiges geschrieben. Jetzt kommt die Zeit, das alles auch umzusetzen!“25 Letztlich entschied er sich für zwei andere führende Beiträger der Zeitschrift als Abgeordnete der Großen Türkischen Nationalversammlung.

Obwohl er später als mythisch überhöhter Heils- und Wandelbringer idealisiert wurde, darf man doch niemals vergessen, dass Mustafa Kemal seinen Aufstieg in einem sehr spezifischen gesellschaftlichen Milieu begonnen hat – einem Milieu, das die Bandbreite der Handlungsoptionen für einen zukünftigen Revolutionsführer von vornherein stark begrenzte. Der entscheidende Punkt im gegenwärtigen Zusammenhang ist dabei, dass viele der radikalen Ideen, die in seinem späteren Reformprogramm eine tragende Rolle spielen sollten, in den intellektuellen Zirkeln der Jahrhundertwende weit verbreitet waren und nach der jungtürkischen Revolution auch mit stetig wachsender Deutlichkeit geäußert wurden. Tatsächlich haben viele frühere Jungtürken der szientistisch-materialistischen Schule Mustafa Kemal später als einen „autoritären Erlöser“ dargestellt, der ihre ureigensten Ideen zur Umsetzung gebracht hatte.26

Wie so viele osmanische Intellektuelle hatte auch Mustafa Kemal erkannt, dass der Islam derart tief in der osmanischen Kultur verwurzelt war, dass er nun nicht einfach wie von Zauberhand verschwinden würde. Entsprechend war seine Einstellung der Religion gegenüber eine sehr viel kompromissbereitere als beispielsweise jene seiner Zeitgenossen in der frühen Sowjetunion. Sein Standpunkt kann mit einer berühmten Maxime der spätosmanischen Szientisten zusammengefasst werden: „Die Religion ist die Wissenschaft der Massen, aber die Wissenschaft ist die Religion der Elite.“27 Wenn man diesem Denkmuster folgte, war ein Frontalangriff auf den Islam in einer vorwiegend muslimischen Gesellschaft wenig ratsam. Stattdessen würde man wohl eher eine adaptierte Version des Islam bevorzugen, unter deren Schutz Fortschritt und Aufklärung einstweilen vorangetrieben werden konnten. Einige säkulare Intellektuelle – und sogar manche reformorientierte muslimische Denker – kamen deshalb mit François Guizots Histoire de la civilisation en Europe zu der Ansicht, der gesellschaftliche Fortschritt in Europa habe sich ganz im Gefolge der Reformation ereignet.28 Doch während manche muslimischen Reformer aus der christlichen Reformationsgeschichte auf die Notwendigkeit einer solchen Reformation auch der islamischen Welt schlossen,29 ließen sich andere, eher westlich orientierte Theoretiker wie Abdullah Cevdet und Kılıçzâde İsmail Hakkı (İsmail Hakkı Kılıçoğlu) vielmehr von der Marginalisierung inspirieren, die das Christentum im weiteren Verlauf der Geschichte durch die voranschreitende Säkularisierung Europas erfahren hatte. Ihrer Ansicht nach kam selbst einer reformierten Religion nur die temporäre Rolle eines Modernisierungsinstrumentes zu – einer Leiter, die man beiseitestoßen konnte, nachdem man auf ihr emporgeklettert war.

Eine weitere Obsession sowohl der Jungtürken wie auch anderer osmanischer Intellektueller war die Stellung des Osmanischen Reiches gegenüber dem Westen (womit in diesem Zusammenhang hauptsächlich das christliche Europa gemeint war). Obwohl viele gut ausgebildete Männer dieser Generation Zöglinge eines nach europäischem Muster eingerichteten Bildungssystems waren – mit einem Lehrplan und pädagogischen Idealen, die denen ihrer westlichen Pendants stark ähnelten –, entwickelten die Absolventen dieses Systems nicht selten eine Einstellung gegenüber der westlichen Kultur, die man wohl am besten als Hassliebe bezeichnet. Einerseits stand der Westen für intellektuelle und wissenschaftliche Überlegenheit und stellte so gewissermaßen die Baupläne für eine zukünftige, ideale Gesellschaft bereit; andererseits war der Westen aber auch ein räuberisches Monster, das sich am osmanischen Reichtum und Territorium gütlich tat. Dennoch befürworteten die osmanischen Szientisten eine Modernisierung nach westlichem Muster, und zwar genau weil sie glaubten, dass die Ursprünge jener bedrohlichen Eigenschaften des Westens – seiner Wirtschaftsmacht und technologischen Überlegenheit – in der bedingungslosen Annahme eines wissenschaftlichen Weltbildes lagen, wie es der Szientismus selbst propagierte.

Ganz ähnlich war auch Mustafa Kemals Einstellung dem Westen gegenüber. Auch er sah die europäische Zivilisation als den Gipfel des Fortschritts an, als den Inbegriff der modernen Welt. Dennoch misstraute er zugleich der europäischen Machtfülle und befürchtete dunkle Pläne, die gegen das Osmanische Reich geschmiedet werden mochten – vor allem nach den Balkankriegen von 1912/13, welche die schmählichste Niederlage der osmanischen Geschichte mit sich gebracht und das vormals weit ausgreifende Imperium schlagartig auf die Größe eines „bloßen“ asiatischen Landes zurückgestutzt hatten. Wie er einem Reporter gegenüber 1923 zugab, hielt er den Westen für „ein Gebilde, das, weil es uns als eine unterlegene Gesellschaft betrachtet, alles in seiner Macht Stehende getan hat, unsere Vernichtung ins Werk zu setzen“.30

Die osmanischen Verfechter des Szientismus entzweiten sich über die Frage, wie genau die Gesellschaft zu verwestlichen, sprich zu modernisieren sei. Die Vertreter einer sogenannten „partiellen Verwestlichung“ befürworteten eine zwar weitgehende Umgestaltung der osmanischen Gesellschaft nach westlichem Vorbild, warnten aber zugleich vor den Gefahren des westlichen Imperialismus. „Der Westen“ war ihnen auf diese Weise Vorbild und Feindbild zugleich. Die siegreichen Japaner im Sinn, propagierten diese Denker die Aneignung wissenschaftlicher, technologischer und industrieller Errungenschaften aus Europa.31 Ihre Gegner, die Parteigänger einer „umfassenden“ oder „Pauschalverwestlichung“, befürworteten die Übernahme der westlichen Zivilisation in Bausch und Bogen oder, wie sie es formulierten, „mit Rosen wie mit Dornen“. Ihrer Ansicht nach musste man Europa, den „Gipfel der Überlegenheit“, nachahmen, nicht fürchten (und durfte schon gar nicht bei diesem in Ungnade fallen).32 Obwohl Mustafa Kemals tiefsitzendes Misstrauen gegenüber dem Westen geeignet gewesen wäre, ihn dem ersteren Lager zuzuschlagen, näherte ihn sein tatsächliches Eintreten für eine umfassende „Pauschalverwestlichung“ doch dem letzteren an. Wie dem auch sei: Letztlich machte Mustafa Kemal mit seiner ausgefallenen Theorie vom Ursprung aller Zivilisation in der türkischen Kultur die gesamte Debatte irrelevant.

Wie viele andere Anhänger des Szientismus auch hielt Mustafa Kemal die Nachahmung europäischer Kultur und Sitten für grundsätzlich unproblematisch. Er unterstützte sogar ausdrücklich die Einführung europäischer Umgangsformen, auf dass diese die überkommenen muslimischosmanischen Traditionen schließlich ersetzen würden. Die Verfasser von Artikeln in den nach 1908 aufblühenden charakteristisch osmanischen Wissenschafts- und Fortschrittsmagazinen hielten ihre Leser dazu an, sich nach europäischer Mode zu kleiden und zu verhalten; als kleine Hilfestellung lieferten sie gleich einige Illustrationen mit, die aus europäischen (insbesondere französischen) Benimmbüchern stammten.33 Zugleich ermahnten sie ihre Landsleute, veraltete und aus ihrer Sicht rückständige Gebräuche aufzugeben, wenn sie sich nicht mit der modernen Lebensweise vereinbaren ließen. Sie schmähten islamische Verhaltens- und Anstandsregeln wie etwa das Almosengeben und das Gastrecht als „Regeln und Vorschriften, die vor 1300 Jahren in der Wüste aufgestellt wurden“ und deshalb in der Gegenwart nicht länger zweckmäßig seien.34 Einige Kommentatoren gingen sogar so weit, das für den muslimischen Glauben konstitutive Gebetsritual (namaz/salāt) mit der Begründung infrage zu stellen, ein moderner Mensch könne seine kostbare Zeit nicht fünf Mal am Tag mit einem religiösen Ritual verschwenden.35 Obwohl illustrierte Handreichungen darüber, wie man einer Dame die Hand küsst oder ihr etwa vom Pferd hilft, nur einen ganz kleinen Kreis säkularer Leser überhaupt in ihrer Lebenswirklichkeit erreichten, verärgerten sie fromme Muslime darum nicht minder. In gleicher Weise führten Artikel über das gesellschaftliche Leben gemischtreligiöser Ehepaare zu einem regelrechten Aufschrei aus den Reihen der ʿulamā᾽. Den Verfechtern gesellschaftlicher Modernisierung erschienen solche Proteste – im Angesicht des unabweislichen Verdikts der „Wissenschaft“ – mehr als müßig. Sie waren, wie Abdullah Cevdet sich auszudrücken beliebte, wie der Kampf zwischen „einem Kürbis und einer Granate von Krupp“: Der Kürbis, der davon träumte, die Granate zu zerschmettern, werde seinerseits in Fetzen gerissen werden.36 Mustafa Kemal war derselben Ansicht. Wenn er das Tragen europäischer Kleidung propagierte (oder etwa 1925 das Tragen eines Hutes für türkische Beamte verpflichtend machte), dann kam darin lediglich seine Überzeugung zum Ausdruck, dass „wer von sich sagt, er sei zivilisiert, das auch durch seine äußere Erscheinung beweisen sollte“. Sich der westlichen Garderobe zu widersetzen, hieß, „sein Leben mit Aberglauben und Ideen aus dem Mittelalter zu verbringen, anstatt jene Zivilisation freudig willkommen zu heißen, die Straßentunnel in Gebirgsmassive sprengt, durch die Lüfte fliegt und überhaupt alle Dinge zwischen Himmel und Erde entdeckt und untersucht hat, von den kleinsten Molekülen bis zu den entferntesten Sternen“.37

Wie andere Angehörige seiner Generation verstand Mustafa Kemal die Anverwandlung der westlichen Zivilisation als Voraussetzung für das Entstehen einer modernen, gewissermaßen „wissenschaftsfähigen“ Gesellschaft. Schon 1913 veröffentlichte ein führender Vertreter der modernistischen Partei – Kılıçzâde Hakkı, den Mustafa Kemal später zum Parlamentsabgeordneten machen sollte – eine Art Ablaufplan für die gesellschaftliche Umgestaltung, der eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zu den später, in der frühen Republik, tatsächlich umgesetzten Reformen aufweist. Kılıçzâde Hakkı schwebte eine künftige Gesellschaft vor, in der die madrasahs, die religiösen Schulen, abgeschafft sein würden, in welcher der Hut den Platz des Fes einnehmen, Frauen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, die Tekken (tekye) genannten religiösen Zentren der Derwischorden aufgehoben und religiöse Einrichtungen im Allgemeinen staatlicher Kontrolle unterstellt sein würden, ein Staat mit einem gründlich reformierten Justizsystem.38

Doch obwohl diese verschiedenen Strömungen westlich orientierter Modernisten Mustafa Kemal stark beeinflussten, glich er keineswegs einem ihrer durchschnittlichen Anhänger; auch wäre es falsch zu behaupten, er habe späterhin nicht mehr geleistet, als bereits vorliegende Programme in die Tat umzusetzen. Die Reformen der frühen Republik tragen die kompromisslose und eigensinnige Handschrift Mustafa Kemals selbst. Obwohl er kein Ideologe war, verlieh er der Umsetzung der Reformen eine radikale Qualität, die die Erwartungen der osmanischen „Verwestlicher“ noch weit übertraf. Am wichtigsten war jedoch, dass er, anders als die spätosmanischen Reformer vor ihm, das Fortbestehen altehrwürdiger Gebräuche und Institutionen Seite an Seite mit ihren neuen, durch die Reformen ins Leben gerufenen Pendants strikt ablehnte. Stattdessen bestand er darauf, das Alte ohne Rücksicht auf Verluste abzuschaffen, um es dann durch eine radikal neue Reihe von Normen, Strukturen und Werten zu ersetzen. So ließ er beispielsweise, anstatt das bestehende Alphabet zu reformieren, den Gebrauch der osmanischen Schrift arabisch-persischen Ursprungs verbieten, die durch das modifizierte lateinische Alphabet ersetzt wurde, das noch heute im Türkischen verwendet wird. Anstelle der Majalla – des hybriden osmanischen Rechtssystems aus dem 19. Jahrhundert – ließ er das (wiederum leicht modifizierte) Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) einführen, wodurch das islamische Recht aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens verbannt wurde. Der Prozess, in dem diese Direktiven in die Tat umgesetzt wurden, war seinerseits von einem gewissen rücksichtslosen Pragmatismus geprägt – und auch hier ist es verlockend, die Ursache in der Persönlichkeitsstruktur jenes Mannes zu suchen, der die Zügel in der Hand hielt. Mustafa Kemal war vor allem ein Praktiker, kein Theoretiker. Er ließ es bei der Auslegung der theoretischen Grundlagen nicht zu Haarspaltereien kommen; eher verwarf er ein Dogma und drängte, rastlos wie er war, vorwärts. In diesem Sinne war er vielleicht wirklich der glühendste Anhänger des Vulgärmaterialismus, der vor jeglichem Zuviel an Philosophie zurückwich, wenn es ihm den Weg zu seiner „wissenschaftlichen“ Gesellschaft der Zukunft versperrte.


Abb. 5 Die Aufteilung der ehemaligen europäischen Provinzen des Osmanischen Reiches nach den Balkankriegen von 1912/13.

Schon seit 1903 hatte die jungtürkische Zeitschrift Türk, deren leidenschaftlicher Nationalismus sich schon in ihrem Namen ausdrückt, behauptet, die vorislamischen Gebräuche der Türken seien zwangloser und fortschrittlicher gewesen als die nach ihrer Konversion zum Islam angenommenen.39 Das Blatt führte zudem eine erbitterte Debatte mit dem führenden muslimischen Reformer, Rashīd Riḍā, über die in Türk geäußerte Ansicht, die Türken seien anderen muslimischen Völkern von Natur aus überlegen.40 Als es erst einmal an der Macht war, nahm das Komitee für Einheit und Fortschritt (KEF) zunächst eine versöhnlichere Haltung ein, neigte nach der Errichtung eines faktischen Einparteienregimes im Jahr 1913 sogar einer Aussöhnung von türkischem Nationalismus und Religion zu. Zwischen 1913 und 1918 gewährte das KEF jedoch einer Geistesströmung seine starke Unterstützung, die auf die Schaffung eines „türkifizierten“ Islam abzielte, einer nationalen Religion, die – so ihre Verfechter – den Herausforderungen der Modernisierung gewachsen sein werde. Der Wortführer dieser Initiative war Ziya Gökalp, ein selbsternannter Soziologe, glühender Anhänger Émile Durkheims und führender Ideologe des KEF. In einem seiner Gedichte entwarf er eine „Religion, wie sie dem Türken entspricht“.41 Diese Bewegung war der Ansicht, dass viele islamische Traditionen, die sich nicht mit dem modernen Leben vereinbaren ließen (so etwa die Vielehe), durch eine liberale Interpretation der islamischen Quellentexte aus der Welt geschafft werden könnten.42 Mustafa Kemal entschied sich später – obwohl er von Ziya Gökalps nationalistischen Ideen stark beeinflusst war43 – gegen eine umfassende Verwendung des Islam in Sachen Modernisierung. Er folgte darin also nicht dem KEF, das Gökalps Theorie für sich angenommen hatte und versuchte, mit dem „Temporären Familiengesetz“ durch eine liberale Interpretation des Hanbalī-Rechts die Polygamie einzudämmen und muslimischen Frauen zumindest ein gewisses Scheidungsanrecht einzuräumen.44 (Es gibt im sunnitischen Islam traditionell vier unterschiedliche Rechtsschulen; die Osmanen folgten eigentlich der Hanafī-, nicht der Hanbalī-Schule.) Stattdessen hatte Mustafa Kemal es auf eine „schnörkellosere“ Strategie abgesehen, etwa indem eben eine leicht modifizierte Variante des Schweizer Rechts eingeführt und die Vielehe schlicht verboten wurde. Seine Bezugnahme auf den Islam in solchen Fällen ging nicht über einen oberflächlichen Nachweis hinaus, dass die jeweilige Reform mit dem Islam vereinbar sei.

Obwohl Mustafa Kemal zurückhaltend war, was die Verwendung des Islam als Modernisierungsinstrument anging, konnte er doch der Vorstellung einiges abgewinnen, ein „türkifizierter“ Islam könne der Sache des türkischen Nationalismus dienlich sein. So ersetzte etwa in den frühen Jahren der Republik die Bezeichnung Tanrı, ein alter türkischer Begriff, der auch für heidnische Gottheiten Verwendung fand, das traditionelle Allāh. Ebenso wurde ein türkischer Gebetsruf anstelle der traditionell in der ganzen muslimischen Welt geläufigen arabischen Fassung eingeführt. Dennoch bezeichnete die Presse der frühen Republik den Islam oft als „arabische Religion“. Wie die genannten Beispiele verdeutlichen, nahmen die Bestrebungen zu einer „Türkifizierung“ der Religion in den frühen Jahren der Republik an Fahrt auf; sie gipfelten schließlich in einem Aufruf regimenaher Gelehrter, die Religion als ganze durch den Nationalismus zu ersetzen und religiöse Gefühle durch nationale. Mustafa Kemal begrüßte die Abhandlung Din Yok Milliyet Var: Benim Dinim, Benim Türklüğümdür („Es gibt keine Religion, nur die Nationalität: Mein Türkentum ist meine Religion“), die speziell für seine Lektüre angefertigt worden war.45 Ihm schienen darin vor allem Aussagen wie die folgende zu gefallen:

Die orientalischen Völker sind mehr noch als alle anderen zu religiösen Narren geworden; darum haben sie von alters her Traditionen entwickelt wie etwa die, zu lügen und doch ihre Worte mit Schwüren zu beeiden. Die heutigen Araber und Perser lügen ohne Unterlass.

An den Rand kritzelte er: „außer die Türken“.46 Aber trotz seiner offenbaren nationalistischen und szientistischen Neigungen trat Mustafa Kemal dem Islam nicht direkt entgegen. Vielmehr leistete er Lippenbekenntnisse zu einer Religion, die er gleichzeitig unter strikte staatliche Kontrolle stellte und in dürren nationalistischen und szientistischen Begriffen neu zu definieren suchte.

Als Türke, der in dem turbulenten Völkergemisch Makedoniens aufgewachsen war, war Mustafa Kemal empfänglich für den türkischen Nationalismus, der nach 1905 ein Grundsatz der jungtürkischen Ideologie geworden war. Doch der makedonische Türkismus entwickelte sich nicht allein als feindselige Reaktion auf die separatistischen Bestrebungen der Griechen, Makedonier, Serben und Bulgaren, sondern gleichermaßen als Nachahmung jener Gruppierungen und als Ausdruck einer tiefen Bewunderung für deren Solidarität. Nichts ging über eine Dienstzeit in Makedonien, um osmanische Offiziere auf die Suche nach einem türkischen Äquivalent zu den separatistischen Nationalismen in der Region gehen zu lassen. Wenn zum Beispiel osmanische Offiziere auf Bahnhöfen in ganz Makedonien hören konnten, wie zutiefst ergriffene bulgarische Menschenmengen ihre Nationalhymne Shumi Maritsa anstimmten, um Mitglieder nationalistischer Banden in die Gefangenschaft zu verabschieden – dann fragten sie sich doch, warum ihr eigener Staat eigentlich keine Nationalhymne hatte und warum die einzigen Lieder, die man in der osmanischen Armee sang, zu Ehren einzelner Sultane komponierte Märsche waren.47 Makedonien wurde so für die osmanischen Offiziere zur Schule des Nationalismus. Tatsächlich versuchte Mustafa Kemal früh, eine Untergrundbewegung prototürkistischer Ausrichtung zu begründen; das war die vierköpfige „Organisation Vaterland und Freiheit“, die 1905 in Damaskus zusammentrat.48 Im darauffolgenden Jahr spielte er in Saloniki eine untergeordnete Rolle bei der Gründung der „Gesellschaft für osmanische Freiheit“ (Osmanlı Hürriyet Cemiyeti), die später mit dem KEF verschmolz und dort zur Speerspitze der jungtürkischen Revolution und der türkisch-nationalen Bewegung wurde.49

Nach der jungtürkischen Revolution war das KEF gezwungen, seine türkisch-nationalen Prinzipien zunächst einmal zurückzustellen, um sich ganz der Verwaltung des Vielvölkerreiches zu widmen. Doch der Türkismus gedieh auch während der „Zeit der Zweiten Verfassung“ (1908–1918). Das KEF zügelte seine türkisch-nationale Rhetorik aus der Vorrevolutionszeit ein wenig und bemühte sich zudem, seine nationalistisch-revolutionären Doktrinen mit der supranationalen Ideologie des Osmanismus zu versöhnen. Außerdem förderte das KEF deren Verbreitung auf kultureller Ebene. Die späteren Entwicklungen, insbesondere der Verlust fast aller europäischen Teile des Reiches und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, beflügelten das politische Geschick des Türkismus, indem sie eine handfeste Gelegenheit zur Verwandlung des osmanischen Staates in ein „turanisches“ Großreich zu bieten schienen. Ziya Gökalp hat diese Utopie in seinem vielgerühmten Gedicht „Turan“ festgehalten: „Nicht Türkei noch Turkestan kann dem Türken Heimat sein/Das Vaterland ist weit und groß: das ew’ge Turan ist’s allein!“ (Vatan ne Türkiyedir Türklere ne Türkistan, Vatan büyük ve müebbed bir ülkedir: Turan).50 Obwohl diese Zeilen, als sie 1911 geschrieben wurden, wie eine gelehrte Fantasterei klangen, wurde „Turan“ schnell zum Schlagwort einer aufstrebenden Ideologie.

Wie viele andere Mitglieder des KEP folgte auch Mustafa Kemal diesem „Turanismus“ mit Begeisterung. Als Kadett las er Süleyman Paschas Tarih-i Âlem („Weltgeschichte“, 1878); es war dies ein Meilenstein der osmanischen Geschichtsschreibung, da der Fokus der Darstellung erstmals auf den vorseldschukischen Turkreichen Zentralasiens lag. Ähnlich starken Einfluss auf den jungen Leser hatte Léon Cahuns Introduction à l’histoire de l’Asie. Turcs et Mongols, des origins à 1405, das ebenfalls einen Ausblick auf die vorosmanische türkische Geschichte eröffnete.51 Den Schriften Ziya Gökalps verdankte Mustafa Kemal viel, was sich auch in seinen eigenen Schriften und Reden spiegelt. Zugleich wandte er sich aber gegen Gökalps Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation; auch ignorierte er die Bedeutung, die Gökalp dem Islam bei der Formung einer neuen, türkischnationalen Ideologie beimaß.

Unter Mustafa Kemals engen Freunden war eine Reihe einflussreicher Pantürkisten der Vorrevolutionszeit. Einer von ihnen, Ömer Naci, war ein Offizier, der aus dem Osmanischen Reich desertiert war, um sich dem Zentralkomitee des KEF in Paris anzuschließen. An der Kaiserlich-Osmanischen Militärakademie hatte er gemeinsam mit Mustafa Kemal an einer geheimen, handgeschriebenen Zeitschrift gearbeitet, die unter den Kadetten kursierte.52 Ömer Naci wurde später zum herausragenden Redner des KEF und war für die Fähigkeit bekannt, Menschenmengen mit seiner kraftvollen nationalistischen Rhetorik aufzustacheln. Mustafa Kemal hat später erzählt, auch Mehmed Emin (Yurdakul), eine führende Persönlichkeit unter den türkisch-nationalen Literaten, habe eine entscheidende Rolle beim Erwachen seines eigenen nationalen Empfindens gespielt.53 Mehmed Emin sollte aufgrund seiner frühen Gedichte als der „Dichter der Nation“ bekannt werden; darin finden sich Verse wie „Ich bin ein Türke / Groß sind meine Rasse und Religion“.54

Die frühen Pantürkisten hatten vergleichsweise wenig Gewicht auf die Kategorie „Rasse“ gelegt, weil die Türken – gemeinsam mit anderen asiatischen Völkern – in den geläufigen Rassenhierarchien jener Zeit in der Regel recht niedrig eingestuft waren. Nach dem von Mustafa Kemal enthusiastisch verfolgten Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05 jedoch nahm die Rassenfrage auch für den Türkismus eine gewichtige Bedeutung an.55 Die japanischen Siege belebten das Interesse der Jungtürken und anderer osmanischer Intellektueller sowohl an älteren Rassentheorien als auch an der Turk-Vergangenheit des türkischen Volkes. Dies ist der Zusammenhang, in dem Berichte von einer Auseinandersetzung gesehen werden müssen, die sich 1906 zwischen Mustafa Kemal, einem albanischen Hauptmann und einem türkischen Sergeanten ereignete, und in welcher Mustafa Kemal die traditionelle Bewunderung für die „noblen Araber“ ablehnte, gegen die er stattdessen die „edlen Eigenschaften der türkischen Rasse“ in Stellung brachte.56 Später in seiner Karriere, als es um die Formulierung seiner großen These zur türkischen Geschichte ging, stellte er eurozentrische Zuordnungen der Türken zur sekundären (secondaire) „gelben Rasse“ infrage. (Offenbar wies er seine Adoptivtochter, eine angehende Historikerin, an, in dieser Sache weitere Nachforschungen anzustellen.)57

Als Angehöriger der zweiten Generation der Jungtürken machte sich Mustafa Kemal die Kernelemente einer Weltanschauung zu eigen, wie sie viele gebildete junge Osmanen teilten. Das erste Gebot dieser Geisteshaltung war eine beinahe sakrale Verehrung der Wissenschaften in ihrer quasi-religiösen Bedeutung für die moderne Gesellschaft. Vor allem anderen gehörte Mustafa Kemal, um die prägnante Formulierung Carlton Hayes’ zu gebrauchen, zu einer „Generation des Materialismus“.58 Er betrachtete alles, vom Nationalismus bis zum Modernismus, durch das Prisma des orthodoxen Szientismus. In jedem anderen europäischen Land wäre Mustafa Kemal als rigoroser Szientist aufgefallen; seine Machtübernahme in einer mehrheitlich muslimisch-konservativ geprägten Gesellschaft jedoch war geradezu atemberaubend revolutionär.

Atatürk

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