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1.2Geschlecht – sozial und biologisch?
ОглавлениеIn welchem Buch, das du gelesen hast, in welchem Film, den du gesehen hast, spielte Geschlecht keine Rolle für die Handlung? Ob in Sachtexten, Romanen, Dokumentar- oder Spielfilmen: Wir finden darin immer Spuren dieses Konzepts. So vieles in der – wenn nicht die gesamte – Geschichte der Menschheit wird entlang von Geschlecht erzählt. Die Theorien zum – ›biologischen‹ und sozialen – Geschlecht würden ein ganzes Bücherregal füllen, doch um es kurz zu halten, erklären wir hier im Schnelldurchlauf, wie wir zu unserem aktuellen Verständnis von Geschlecht gekommen sind. Vielleicht ist besonders interessant, wo wir es falsch verstanden haben.
Erinnere dich an deinen frühen Biologieunterricht. Da gab es vollkommene, nackte Personen, die zu vollkommen geformten Chromosomen passten. Das Konzept des ›biologischen Geschlechts‹, das bei der Geburt zugewiesen wird, wurde fast immer als wissenschaftliche Tatsache dargestellt und somit als etwas Eindeutiges und Wahres verstanden. Wir lieben die Wissenschaft, weil sie uns vermeintlich genau das liefert: etwas Stabiles. Aber diese Stabilität kann auch zu einer Starrheit führen, in der wenig Raum für Entwicklung bleibt.
So wie die Wissenschaft sich von der Theorie, die Erde sei eine Scheibe, weiterentwickelt hat, haben sich auch Vorstellungen vom bei der Geburt zugewiesenen ›biologischen Geschlecht‹ weiterentwickelt. Traditionell wurde das ›biologische Geschlecht‹ – oder vielmehr, das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht – als etwas Objektives und Unveränderliches erachtet. Die Wörter »männlich« und »weiblich« wurden hier direkt in Bezug auf Genitalien und Chromosomen benutzt. Mittlerweile haben wir gelernt, dass diese anfänglichen Vorstellungen von Genitalien, Fortpflanzungsorganen und Chromosomen faktisch nicht richtig sind. Das ›biologische Geschlecht‹ ist ein Spektrum; es ist beweglich und es kann sich verändern. Das menschliche Denken wollte etwas vereinfachen, das die Natur aber eher als Mosaik entworfen hat.
Um die Beweglichkeit des bei der Geburt zugewiesenen Geschlechts zu verstehen, müssen wir ein bisschen tiefer in die Biologie eintauchen – insbesondere hinsichtlich der Frage, inwiefern Genitalien und Chromosomen unveränderlich und miteinander verknüpft sind.
Lasst uns mit den Genitalien beginnen. Wenn ein Mensch geboren wird, oder bereits bei vorgeburtlichen Ultraschalluntersuchungen, schaut sich die medizinische Fachkraft die Genitalien an und weist dem Kind ein ›biologisches Geschlecht‹ zu (deshalb sprechen wir auch vom bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht): »männlich«, wenn es einen Penis hat; »weiblich«, wenn es eine Vagina hat; und »intergeschlechtlich«, wenn es so genannte »uneindeutige Genitalien« hat – ein Überbegriff, der für alle Genitalien genutzt wird, die außerhalb der begrenzten Definitionen der westlichen Medizin von ›männlichen‹ und ›weiblichen‹ Genitalien liegt. Hierin liegt das erste Problem: Es hat immer Menschen gegeben, deren Genitalien nicht zu den Konstrukten der westlichen Medizin passten. Viele Menschen werden mit inneren oder äußeren Genitalien aller möglichen Formen, Größen und Kombinationen geboren. Expert*innen schätzen, dass 1,7 Prozent der Menschen mit ›intergeschlechtlichen‹ Merkmalen geboren werden, was etwa dem Prozentsatz der Menschen entspricht, die mit rotem Haar zur Welt kommen.1 Das ist eine enorme Zahl vollkommener Körper, denen nur zwei Optionen zur Auswahl gegeben wurden. Sie belegen die Notwendigkeit, die bisherigen Vorstellungen dessen zu hinterfragen, was einen ›männlichen‹ und/oder ›weiblichen‹ Körper ausmacht. Zudem sind die eindeutigen Vorstellungen von ›Penis‹ und ›Vagina‹ selbst Konstrukte. Die Genitalien eines jeden Menschen sind einzigartig – es gibt keine ›normale‹ oder durchschnittliche Form. Abgesehen von der unendlichen Bandbreite an Größen, Formen, Farben usw. hat jede Person das Recht, selbst frei zu benennen, was sie zwischen den Beinen hat – mit allen Wörtern, die dazu gewählt werden mögen. Was wie ein bloßer Akt der Zuweisung eines ›biologischen Geschlechts‹ eines Menschen erscheinen mag, ist jedoch eine folgenschwere Festlegung für das gesamte Leben dieser Person: Es beeinflusst beispielsweise, welche Chancen sie haben wird, wie sie von der Gesellschaft gesehen wird, wie sie medizinisch behandelt wird. Wenn es um so vieles geht, könnte man annehmen, dass die Zuweisung von Geschlecht ein genauer Prozess sei. Doch das Konzept der Zuweisung eines Geschlechts als männlich, weiblich oder intergeschlechtlich bezüglich bestimmter Genitalien ist keineswegs objektiv, denn innere und äußere Genitalien sind überaus vielfältig.
Doch was ist dann mit den Chromosomen? Auf die können wir uns doch sicherlich verlassen, um aus ihnen zwei fein säuberliche Schubladen abzuleiten? Vielleicht hast du in deinem Biologieschulbuch gelesen, dass 1923 das X- und das Y-Chromosom – bloß ein Haufen verschwommener Flecken in der Form von Kidneybohnen unter einem Mikroskop – entdeckt und als »Geschlechtschromosomen« bezeichnet wurden. Die grundlegendste Behauptung dieser Forschung war, dass Menschen, die XX-Chromosomen tragen, eine Vagina haben und Menschen, die XY-Chromosomen tragen, einen Penis haben. Ende der 1970er Jahre hatte die DNA-Revolution begonnen – im Vorlauf des Humangenomprojekts, das die Gesamtheit des menschlichen Genoms entschlüsseln wollte. Hierbei kamen weitere Forschungen zu dem Ergebnis, dass es viele Ausnahmen von der Theorie der zweiteiligen ›Geschlechtschromosomen‹ gibt. In Tests wurde gezeigt, dass es auch ›Frauen‹ gab, die XY-Chromosomen trugen, und Menschen mit Penis und Hoden, die XX-Chromosomen trugen – sowie eine endlose Zahl weiterer Kombinationen.
1990 wurde dann ein einzelnes Gen entdeckt, das nun tatsächlich für die Bestimmung der Genitalien verantwortlich sein sollte, die sich in einem Körper herausbilden. Das bedeutete, dass nicht das X- oder Y-Chromosom, sondern ein winziges Gen namens SRY auf dem Y-Chromosom das bestimmt, was als ›biologisches Geschlecht‹ bezeichnet wurde. Das SRY-Gen, oder die geschlechtsbestimmende Region auf dem Y-Protein, funktioniert wie ein Schalter, der die Erzeugung ›männlicher‹ Genitalien anregt. In ihrer frühen Entwicklung sind alle Föten ›weiblich‹, das ›Standard‹-Geschlecht eines jeden Menschen ist also ›weiblich‹. Wenn jedoch das SRY-Gen aktiviert ist, wird die Entwicklung der Hoden ausgelöst. SRY muss aktiviert sein, damit ›männliche‹ Genitalien entstehen können, aber wir verstehen noch immer nicht gänzlich, wie SRY aktiviert wird und welche Ereigniskette genau auf seine Aktivierung folgt, die zur Bildung von Hoden führt. Wir wissen aber, dass eine Person mit XY-Chromosomen, der das SRY-Gen fehlt, keine ›männlichen‹ Genitalien ausbildet, sondern ›weibliche‹.
2011 veröffentlichten Dr. David Zarkower und Dr. Vivian Bardwell in der Fachzeitschrift »Nature« eine Studie mit ziemlich verblüffenden Ergebnissen über ein weiteres Gen namens DMRT1, die Abkürzung für »Doublesex And Mab-3 Related Transcription Factor 1«.2 Bei Menschen und anderen Tieren drückt sich dieses Gen in Form von Hoden aus. In Versuchen mit Labormäusen werden erstaunlicherweise die Hodenzellen zu Gebärmutterzellen, wenn das DMRT1-Gen entfernt wird. Im Wesentlichen hatten die Zellen ihr Geschlecht geändert und die zuvor ›männliche‹ Maus bildete nun Uterus-Zellen. Diese Gene, die in Mäusen, Menschen und vielen anderen Tieren zugegen sind, scheinen die Fähigkeit zu haben, das ›biologische Geschlecht‹ eines Wesens zu verändern, indem sie die Entwicklung der Gonadenzellen beeinflussen.
Entscheidend für ein Verständnis der Fluidität – der Veränderlichkeit – des ›biologischen Geschlechts‹ ist die Tatsache, dass wir alle unser Leben lang die SRY- und DMRT1-Gene in uns tragen und dass diese Gene entweder aktiviert (exprimiert) oder deaktiviert (supprimiert) werden können. Stellen wir uns die Gene zum Beispiel als ein Auto vor, dessen Motor läuft und das bergab steht. Entweder musst du den Fuß auf’s Gas setzen (Genaktivierung und -expression) oder du trittst die Bremse (Geninaktivierung und -suppression). Wie beim Umgang mit dem Auto ist die Aktivierung oder Inaktivierung eines Gens ein aktiver Prozess; es gibt keinen Standardzustand. Wenn du den Fuß von der Bremse nimmst, wird der Wagen losfahren und so ähnlich ist es mit einem Gen. Somit haben alle ›weiblichen‹ Tiere das SRY- und DMRT1-Gen, aber sie werden dauerhaft supprimiert. Hört die Suppression auf – wie wenn du den Fuß von der Bremse nimmst –, wird der Genausdruck ermöglicht. Das bedeutet, dass der Zustand des Gens immer offen für Veränderung ist. Im Falle von DMRT1 ist es bei ›Männern‹ aktiv und bei ›Frauen‹ supprimiert. Hinzu kommt die Tatsache, dass Gene üblicherweise nicht zu 0 oder zu 100 Prozent exprimiert werden, sondern irgendwo dazwischen, wodurch ein endloses Spektrum an ›biologischen Geschlechtern‹ bei Menschen entsteht.
Ich schreibe hier von diesen ganzen wissenschaftlichen Erkenntnissen, um festzustellen, dass Menschen immer die Fähigkeit in sich tragen, ihr ›biologisches Geschlecht‹ zu verändern; wir alle tragen in unserer biologischen Verfasstheit ein viel breiteres und komplexeres Spektrum als ›männlich‹ oder ›weiblich‹. Die Fähigkeit, das ›biologische Geschlecht‹, z.B. Genitalien, zu verändern, ist nicht einzigartig, sondern tatsächlich bei Hunderten von Tierarten auffindbar. Die Theorie von zwei Geschlechtern, der Zweigeschlechtlichkeit, hat noch nie Sinn ergeben, denn auf der grundlegendsten Ebene hat es immer körperliche Ausnahmen von dieser Regel gegeben. Mittlerweile ist die Wissenschaft weit genug fortgeschritten, um auf molekularer Ebene zu erkennen, dass das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht nicht aus objektiven Kategorien hervorgeht, sondern vielmehr aus einer gesellschaftlichen Entscheidung darüber, wie Menschen aussehen und sich verhalten sollen.
Neben den Genitalien werden auch viele weitere Eigenschaften mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht verknüpft. Von Frauen wurde aufgrund eines vermeintlich größeren Hippocampus – der Hirnregion, die für Emotionen und Sinne zuständig ist – angenommen, dass sie ein breiteres Gefühlsspektrum hätten und diese Gefühle besser ausdrücken könnten (d.h. Frauen seien emotionaler, weinten mehr, seien eifersüchtiger oder gehässiger). Eine Analyse von 76 publizierten Fachtexten mit einer Gesamtzahl von 6000 Testpersonen, die unter Leitung der Neurowissenschaftlerin Lise Eliot an der Rosalind Franklin University of Medicine and Science durchgeführt wurde, entlarvte diese Theorie und fand heraus, dass der Hippocampus bei Männern und Frauen gleich groß ist.3 Ähnliche Forschung zu Hirnfunktionen haben immer wieder dasselbe herausgefunden: Es gibt keinen merklichen Unterschied zwischen den Gehirnen von Menschen, die nach dem ›biologischen Geschlecht‹ in Männer und Frauen eingeteilt werden. Eliot sagt in einer Pressemitteilung zu den Ergebnissen der Studie:
»Geschlechtliche Unterschiede im Gehirn sind unwiderstehlich für jene, die stereotype Unterschiede zwischen Männern und Frauen nachweisen wollen. (…) Unsere Untersuchung verschiedener Datenreihen, wobei wir sehr große männliche und weibliche Testgruppen zusammenfügen können, ergibt, dass diese Unterschiede oft verschwinden oder gehaltlos sind.«4
Das heißt, Mathe, Naturwissenschaften, Kunst, Sport, Sprache, Logik, Mut, Leidenschaft, Freundschaft und alles andere, was unser Gehirn verarbeitet, sind nicht vom bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht einer Person abhängig. Mit der Widerlegung der Theorie von tatsächlichen körperlichen Unterschieden im Gehirn ist die Erzählung davon, dass Männer und Frauen ›von Natur aus‹ zu bestimmten Verhaltensweisen neigen, ein Märchen, das durch gesellschaftliche Erwartungen und Zwänge geschaffen und durchgesetzt wurde.