Читать книгу Das Spiel heißt Mord - Madeleine Giese - Страница 5

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• Prolog •

Vergessen von der Evolution, wie diese riesigen Kraken, die seit Jahrtausenden in den unerforschten Tiefen der Meere hausen. Ein Wesen, halb Wahrheit, halb Fabel. Stahlseile winden sich wie abgenagte Sehnenstränge an den geschwärzten Steinwänden nach oben. Hoch über meinem Kopf legen sie sich um wuchtige Seilwinden wie um knorpelige Wirbel. Die Züge wölben sich wie Rippen unter dem vergitterten Schnürboden. Die umschlungenen Stoffbahnen und uralten Fluter hängen an ihnen wie verwitterte Fleischfetzen. Und arschkalt ist es, wie in der Arktis.

Hoffentlich bleiben meine Finger nicht an der Schutzgeländerstange kleben. Doch so kalt ist es auch wieder nicht. Gutes Geländer! Sind bestimmt acht Meter nach unten. Die Bühne sieht von hier oben warm aus. Ein goldenes Kissen. Ein helles Fenster in der Nacht. Honigwabe im Nirgendwo. Ein magischer Ort hebt die Schwerkraft auf. Als könnte man einfach federleicht hinabsegeln. Eins der flüchtigen Staubkörnchen werden, die im Scheinwerferlicht tanzen. Nicht zu lange nach unten sehen!

Hier müssen doch irgendwo Arbeitshandschuhe liegen. Die Jungs bedienen die Eisenhebel der Handzüge immer mit Arbeitshandschuhen. Leise, damit die unten nichts hören. Die Probe hat noch nicht angefangen. Wenn die Arbeitsgalerie nur nicht so verdammt schmal wäre ... oder ich schwindelfrei. Immer vorsichtig an den Stellwerkhebeln vorbei.

Wie die Technik das schafft, hier oben völlig lautlos zu sein? Über den Köpfen der Schauspieler, unsichtbar für die Zuschauer, tanzen sie hier ihr schweigendes Ballett. Schwitzend hasten sie durch die engen Gänge, bedienen die riesigen Eisenhebel, die neben mir Spalier stehen, schicken über Handzüge ganze Wände, Kronleuchter, Schauspieler nach unten. Zielen Punktstrahler und Spots. Hier oben beginnt die Verwandlung alles Geheimnislosen in etwas Geheimnisvolles.

Jetzt ist hier alles verlassen. Nur die Scheinwerfergalerien starren mich an. Schwarze Krähen, die ihre toten Augen in die Tiefe richten. Sie warten. Alles hier oben wartet und atmet. Ein Tier auf dem Sprung.

Bloß nicht stolpern. Vorsicht. Mach keinen Krach. Bei den Bühnengewichten müssten Handschuhe liegen ... Mist, es fängt an. Die Scheinwerfer surren, richten ihren Medusenblick nach unten und wecken das goldene Kissen. Es dehnt sich, streckt sich, wächst nach oben, strahlt und beginnt zu leben.

«Erhabner Geist ... du gabst mir ... gabst mir alles, worum ich bat. Du hast mir nicht umsonst dein Angesicht ... im Feuer zugewendet ...»

Hab ich doch gewusst, dass Handschuhe da sind. Vorsichtig zurück.

Man kann die Gesichter so schlecht sehen. Weiter vorbeugen, da hilft nix. Wenn ich nur schwindelfrei wäre ... Aber man hört gut. Da, im Schatten. Mephisto, der Teufel.

«Was hast du da in Höhlen, Felsenritzen, dich wie ein Schuhu zu versitzen. Was schlurfst aus dunklem Moos und triefendem Gestein wie eine Kröte Nahrung ein.»

Er macht das selber wie eine Kröte, eine warzige Unke. Jetzt sind sie bestimmt glücklich. Faust und Mephisto. Verbündete Gegner, wie im Leben.

Die Scheinwerfer blinzeln nur noch. Was soll die weiße Gestalt, die da über die Bühne stolpert? Gretchen, klar. Im weißen Hemdchen, wie herzig. Wo kommen die Stimmen her? «Weh, wo steht dein Kopf?» – Orchestergraben! «In deinem Herzen, welche Missetat.» – Nullgasse! «Weh, dein Kopf.» – Seitenbühne! «Welche Missetat.» – Nullgasse!

Kurz die Augen zumachen. Den schmerzenden Nacken entlasten, nach oben schauen. Rote und gelbe Lichtblitze aus den Scheinwerfern. Also doch wieder nach unten. Hoffentlich wird mir nicht schlecht.

Walpurgisnacht. Warum müssen Schauspieler eigentlich immer kreischen, wenn sie zu mehreren die Bühne stürmen? Keine Hexen in der Hexennacht? Zu zwölft auf Gretchens Bett. Beischlafbewegungen natürlich. Gibt es etwas Langweiligeres als Sex auf dem Theater? Die Gesichter ... so starr, spukhaft. Masken! Das sind Masken. Einer trägt das Gesicht des anderen. Toll. Die Köpfe passen nicht mehr zu den Körpern. Die Körper nicht zu den Köpfen. Tolle Idee. Hätte ich der dummen Pute gar nicht zugetraut. Latexmasken. Das muss Latex sein.

Was kriecht da aus den Gassen? Statisten wahrscheinlich. Tierköpfe auf Menschenkörpern. Hieronymus Bosch. Faust mitten im Taumel. Besinnungslos geil, spielt er gut. Mephisto mit dem Gesicht von Gretchen. Schlängelt sich. Berührt ihn. Am Körper. Zwischen den Beinen. Mit der Zunge durch das Gesicht. Wenn da mal die Abonnenten keinen Herzschlag kriegen. Faust stöhnt, öffnet die Augen. Schreit: «Gretchen!» Kämpft sich durch kopulierende Körper. Durch Menschen- und Tierwesen. Tritt gegen das Bett. Brüllt und versucht es hochzuheben, zu zertrümmern, die darauf wimmelnde Leibermasse zu zerstören. Das Bett bricht. Schreie, Flüche.

«Arbeitslicht! Verdammt, macht Arbeitslicht!»

Die alten Fluter über mir surren und schicken kaltes, grelles Licht nach unten. Die goldene Honigwabe zerspringt, zerfließt im Raum.

Übrig bleibt ein staubiger, alter Kasten, ein zerbrochenes Bett und Schauspieler mit lächerlichen Masken auf dem Kopf.

Da stürzt sie schon mit ihrem Leibsklaven auf die Bühne, Frau Allmächtig. Diese schrille Stimme! «Was soll das? Wer hat hier eigenmächtig unterbrochen?»

Ich brauche nur diese Stimme zu hören, und schon zieht sich mein Magen zusammen. Natürlich halten unten jetzt alle den Mund.

«Ich hab unterbrochen. Das Bett ist zusammengestürzt.» Bravo, mein Faust.

«Und dafür unterbrichst du meine Probe?» Ihre Probe?

«Wir hätten doch sowieso unterbrechen müssen. Vielleicht ist jemand verletzt.» Doppelbravo, Faust! Gott, sie wird schon ganz rot im Gesicht.

«Führst du seit neuestem hier Regie? Karl Brandner, mein mittelmäßiger Faust hat jetzt das Sagen? Informier mich doch bitte, wenn du an der Premiere auch unterbrechen willst!»

Karl ballt die Fäuste. Ich auch.

Gewimmer von Josefine: «Mein Bein, au, mein Bein ...»

Pia beugt sich über sie. Ich weiß, was jetzt kommt. Da kommt es auch schon. «Bist du wirklich verletzt, oder willst du bloß Karl helfen?»

«Es tut so weh ...» Fang nicht an zu heulen, Josefine. Nützt nix.

«Fang nicht an zu heulen, Josefine. Schauspielerei hat mit Artistik zu tun. Da kriegt man manchmal eine Schramme.»

Jetzt heult sie erst recht. «Ich kann mein Bein nicht mehr bewegen ...»

Mona trippelt von ihrem Souffleurplatz und gackert wie ein aufgeregtes Huhn: «Sollte man nicht einen Arzt rufen? Ich meine, wir sollten einen Arzt rufen. Ein Arzt wäre bestimmt nicht verkehrt.»

«Mona, halt die Klappe! Geh auf deinen Platz. Du hast auf der Bühne nichts zu suchen.» Sie einmal zu ohrfeigen müsste herrlich sein.

Blitzschnell wendet sie sich zum Rest der Truppe: «Ihr habt einfach nicht auf eure Gewichtsverteilung geachtet. Das kann doch nicht so schwer sein. Hundertmal hab ich euch das gesagt. Wo ist die Technik? Na los, Rüdiger. Steh nicht rum! Hol die Technik. Aber plötzlich!» Der Regieassistent rennt los, von der Stimme gejagt wie ein Jogger von kläffenden Pinschern. Wie ich diese Stimme hasse. Immer schrill, immer übererregt, Sie zerschneidet die Bühne wie kleine, tückische Eiskristalle.

Wenigstens bringen sie Josefine weg. Tut bestimmt höllisch weh. Pia sieht das schon gar nicht mehr. Die hat Faust auf dem Kieker.

«Mein Gott, Karl! Du sollst bloß die Pflöcke unter dem Bett wegtreten. Das muss doch möglich sein, ohne das Ensemble zu dezimieren.»

«Offensichtlich hält sich das Bett nicht an deine Regieanweisungen, Pia. Es klappt einfach nicht so, wie du das willst. Vielleicht stimmt ja was mit der Idee nicht?» Mutig, mutig Karl.

«Die Idee stimmt. Es hängt an den Dilettanten, die sie ausführen sollen!»

«Komm, Pia. Es hat noch kein einziges Mal geklappt. Die Idee ist Schrott.»

Aufgeregte Schritte. Noch mal Schwein gehabt, Karl. Sie war kurz davor, dich zu fressen. Wer kommt? Keine Chance, ich muss mich weiter vorbeugen.

Verdammt, verdammt, verdammt! Fast hätte mich Mona entdeckt. Wieso guckt das Huhn auch nach oben? Hoffentlich hat sie mich wirklich nicht gesehen. Oder zumindest nicht erkannt. Pia macht Hackfleisch aus mir, wenn sie hört, dass ich heimlich zuschaue. Alles ruhig. Brave Mona, liebes Hühnchen. Na, zur Strafe hab ich mir die Eisenhebel ins Kreuz gerammt. Auch nicht schön.

«I hab’s gleich gsagt, das is Schmarrn.» Das muss Fredi sein. Fredi und ein armes Schwein von der Technik, die heute Abenddienst haben.

«Mir ham das Gestell immer wieder gstärkt, aber des hebt net. Das hebt das Gwicht von so viele Leut net.»

«Erzähl mir nichts, Fredi. Dann müsst ihr es eben noch mehr verstärken. Muss ich euch sagen, wie ihr eure Arbeit machen sollt?» Das ist wohl nur rhetorisch, Pia. Du liebst es, allen zu sagen, wie sie ihre Arbeit machen sollen.

«Das geht net mehr. Und ganz aus Eisen schmieden geht auch net. Dann hebt’s die Technik beim Transport nimmer.»

Sie fängt an zu schreien. Noch schriller. Am liebsten würde ich mir die Ohren zuhalten.

«Das ist mir scheißegal! Ich will ein Bett, das funktioniert! Das muss möglich sein! Bin ich denn nur von Stümpern umgeben?» Fredi, halt bloß den Mund. Steck’s weg. Sei einfach still.

«Wer hier der Stümper is, is noch net raus. Und anschrein lass ich mich schon gar net.»

«Da wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben, Herr Kohn! Ich schreie, wann es mir passt!»

«Ham’s Ihre Tage, oder was?»

Es wird still. Scheiße, Fredi. Das war das Quäntchen zu viel. Jetzt hat sie dich! In die Stille hinein wieder die Stimme, wie ein kratzender Fingernagel auf einer Schiefertafel: «Herr Kohn. Wenn Sie Probleme damit haben, unter weiblichen Vorgesetzten zu arbeiten, lässt sich das schnell ändern. Es gibt noch andere Theater. Und andere Requisiteure. Soviel ich weiß, haben Sie schon zwei Abmahnungen. Bei der dritten müssen Sie gehen. Also treffen wir zwei uns morgen beim Intendanten. Und jetzt verlassen Sie bitte die Bühne!»

Wieder ist es still. Ich könnte sie umbringen. Dieses miese Stück! Sogar von hier oben sieht Fredi bleich aus. Wie ein geprügelter Hund schleicht er von der Bühne. Der verschüchterte Techniker in seinem Schlepptau hat, wie fast alle, den Kopf gesenkt. Wie schon so oft. Wie immer.

Jetzt hab ich richtige Magenschmerzen. Auch wie immer.

«Pia, das war unnötig. Fredi hat das nicht böse gemeint. Er quasselt manchmal Unsinn, aber das weißt du doch. Wenn du sauer auf uns bist, ist das kein Grund, Fredi rauszuschmeißen.» Netter Versuch, Peter.

«Bevor du dich um meine Arbeit kümmerst, solltest du deine tun. Dein Mephisto ist eine alte Tücke! Das ist das Blöde mit euch Schwulen. Man sieht es immer.»

«Das ist einfach nicht wahr, Pia!»

Stimmt, Karl. Es ist auch nicht wahr.

«Du solltest besser den Mund halten, Karl Brandner. Dein Faust ist ein kleinkarierter Bauer. Gutes Aussehen macht noch keinen guten Schauspieler!»

Jeder kriegt noch mal die volle Breitseite. In jede Schwachstelle wird nochmal reingetreten. Dann unterwerfen sie sich. Sobald sie sich mies und unfähig fühlen. Macht. Darum geht’s. Mir ist endgültig schlecht. Und warm, dabei war es eben noch so kalt. Komisch. Wenn sie da unten nur ruhig wäre. Wenn ich diese Stimme nicht hören müsste. Sie hackt zu. Weiter und weiter.

«... und da ist auch mein Monstergretchen. Ich will kosmischen Schmerz von dir und keine schwäbische Rührseligkeit.» Arme Hilde. Sie heult.

«Durch Heulen wird es auch nicht besser! So etwas Ehrliches hätte ich von dir gern mal auf der Bühne.»

Wenn die Schauspieler nur etwas tun würden. Laut schreien, um die Stimme zum Verstummen zu bringen. Oder singen, wie Kinder im Keller. Sie haben Angst. Immer hat man Angst bei ihr. Ob ich Fieber kriege? Mein Gesicht ist ganz heiß. Jetzt rennt jemand. Mir ist sowieso schlecht. Da kann ich genauso gut nach unten schauen.

Hilde rennt von der Bühne. Und da steht sie. Genau unter mir. Pia Zadurek. Frau Allmächtig! Ihre schmalen Lippen verziehen sich, spucken Worte aus. Kleine Speicheltropfen glitzern im Licht. Mit hängenden Schultern sitzen die Schauspieler an der Rampe.

Sie steht in der Bühnenmitte. Keifend. Ein Insekt. Etwas Giftiges, Gefährliches. Hört sich zu. Berauscht sich an sich selber.

Mein Blut rauscht in den Ohren. So laut. Satzfetzen, Wortfetzen.

Ich will sie nicht mehr sehen. Nicht hinsehen. Was ist nur mit meinem Kopf? So mühsam, ihn wegzudrehen. Weg von dieser Stimme. Auf die Seite. Zu den Hebeln.

Die Hebel. Die die Züge halten. Den Zug mit den riesigen Eisenflutern. Er hängt genau in der Bühnenmitte. Genau über der Stimme. Dieser grässlichen Stimme. Der Hebel, der ihn oben hält, ist neben mir. Die Hand ausstrecken, das ist ganz einfach. Die Bremse lösen. Die muss man nur nach unten schieben. Ganz einfach. Und dann der verdickte Knauf, wunderbar real, fest, zuverlässig. Den muss man auch nach unten drücken. Es geht leicht, ganz leicht. Eine einzige fließende Bewegung.

Dann saust der Zug mit rasender Geschwindigkeit nach unten. Durch die geschlossenen Augen kann ich es sehen ...

Wie er nach unten saust. Auf die Bühnenmitte. Auf den emporgewandten Kopf zu. Den offenen Mund. Der schreit. Bis die eisernen Fluter das Gesicht zertrümmern.

Dann ist es sehr still. Nur das Blut rauscht weiter in meinen Ohren. Aber nicht mehr unangenehm. Besänftigend. Fast fröhlich. Unten fangen sie an, zu schreien und herumzurennen. Gott, was für ein Aufstand. Ich muss daran denken, die Handschuhe zurückzulegen. Sonst müssen die Jungs sie morgen suchen. Und dann zur Stahltür, um hinauszuschlüpfen. Wie kurz die Wege hier oben sind. Ich bin völlig schwindelfrei.

Das Spiel heißt Mord

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