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Der Bankdirektor war wie immer der Erste. Gemächlich und verfressen kam er an die Scheibe und ließ seine türkisfarbenen Flossen blitzen. Noch im Mantel griff Prottengeier nach dem Trockenfutter und gab eine halbe Hand voll ins Wasser.

Sofort kamen sie angeschossen. Die roten Phantomsalmler zuerst. Seine lasziven Ladenmädchen. Politisch natürlich völlig unkorrekte Bezeichnung. Trotzdem waren sie seine Ladenmädchen! Wie sie sich so durch die langstieligen Unterwasserpflanzen schlängelten ... Manchmal konnte er sie sogar kichern hören. Genau wie die jungen Frauen, die mittags aus Ämtern und Boutiquen quollen, um ausgehungert bei McDonald’s einzufallen.

Yuppis in Designeranzügen mit Handy mischten sich fast sofort unter sie, schwarze Phantomsalmler, immer an der Scheibe lang. Sehen und gesehen werden. Fische wie junge Männer nahmen mit derselben Arroganz die Welt, die Bürgersteige und das Aquarium in Besitz. Ob er auch so gewesen war? Er erinnerte sich nicht.

Mittlerweile war er ein Zwergbuntbarsch. Zielbewusst und rentnerbeige. Die Mittelschicht im Aquarium. Eigentlich mochte er sie. Effizient, wie Hausfrauen ihre Einkaufskörbe füllen, schnappten sie Körnchen für Körnchen das herabsinkende Futter. Er schnappte auf dieselbe Weise nach Informationen, Gefühlen, Tatsachen. Unaufgeregt, behäbig, langweilig

Müde und immer noch im Mantel setzte er sich vor sein

leuchtendes Aquarium. Wann hatte das angefangen, dass er sich zu Beginn eines neuen Falles immer so müde fühlte? Überfordert damit, eine neue Welt zu verstehen? Jede Berufsgruppe ein eigener Kosmos. Mit eigenen Regeln, eigenem Verhaltenskodex, die man erst einmal verstehen musste, um zum Bodensatz zu kommen. Der Bodensatz, das trübe Gewässer durchschauen...

Hatte er schon den Teilwasserwechsel gemacht? Die Pflanzen mussten ausgelichtet werden. Vor allem die Cryptocorynen.

Diese Schauspielerin arbeitete auch schon lange in ihrem Beruf. Trotzdem erzählte sie noch so engagiert darüber, als sei alles neu. Wie alt sie wohl war? Bestimmt über vierzig. Höchstens fünf, sechs Jahre jünger als er. Und fünf, sechs Jahre älter als die beiden Männer. In welchem Verhältnis standen die drei zueinander? Dieser Begrüßungskuss am Anfang ...

Alle duzten sich an diesem Theater. Sogar mit dem Chef. Unangenehmer Typ. Einer von denen, die sich immer so aufführen, als müssten alle Mitarbeiter ihm einen blasen. Er schüttelte sich.

In der Wohnung war es kalt. Er sollte aufstehen und die Heizung höher drehen. Sich ein Bier holen. Licht machen. Die Gebärden des Lebens. Wo war nur sein Mörder? Er beugte sich zum Aquarium und starrte durch die Scheibe. Sein düsterer Antennenwels ließ sich nicht blicken.

Leider hatten Mörder in Wirklichkeit selten eine gepanzerte Haut und Stacheln. Man konnte sie nicht sofort erkennen. Vielleicht hatten sie auch windzerzauste blonde Locken und Augen zum drin Versinken.

Aber sie hatte diesen Schönling überredet, ihm die Geschichte mit der Tür zu erzählen. Der entscheidende Hinweis darauf, dass es ein Mord war. Warum musste sie ihn überreden? Das hatte er zu fragen vergessen. Wenn sie irgendwie in die Geschichte verwickelt war, hätte sie die Untersuchung nicht in diese Richtung gelenkt. Oder doch?

Da war ja sein Mörder. Er beobachtete lächelnd, wie der Wels, mit seinen hoch aufgerichteten Stacheln auf der Nase, begann, die Algen zu grasen.

Welche Fische sie wohl wären, die Schauspieler? Keine Zwergbuntbarsche. Keine Salmler. Die Mann wäre eine Süßwassergarnele, ganz klar.

Magda Mann – ob das ein Künstlername war? Komischer Beruf, immer jemand anders zu sein. Verlockend, die eigene Haut einfach abzustreifen. Das musste er bei der Ermittlung immer im Kopf behalten. Jeder log, sobald er es mit der Polizei zu tun bekam. Manchmal aus völlig absurden Gründen. Um das eigene kleine Revier zu verteidigen, schäbige Gewohnheiten zu verheimlichen. Erstaunlich viel Schmutz wurde bei Mordfällen aufgewirbelt. Oft hatte er noch nicht einmal mit dem Fall zu tun. Aber diesmal waren die Beteiligten professionelle Lügner. Er musste vorsichtig sein. Misstrauisch.

Ob er sich ein Aufzuchtbecken anschaffen sollte? Im Sammelaquarium war die Zucht unmöglich. Die Fische laichen, fressen dann aber die eigenen Eier. Eigentlich ein perfektes Gleichgewicht. Er hätte seine Brut auch besser fressen sollen.

Wie sie ihn bei seinen Besuchen anstarrten! Die Brut kam mehr nach der Mutter. Wie sie plapperten und tobten, bevor er klingelte. Wenn er es durch die geschlossene Tür hörte, hatte er immer den Impuls, sich auf dem Absatz umzudrehen und zu gehen. Sobald er klingelte, wurden sie stumm. Wie er. Stumm und schwerfällig.

Ob sie erleichtert wären, wenn er nicht mehr käme? Wenn er tot wäre? Wahrscheinlich schon. Schrecklich, wenn der Tod eines Menschen Erleichterung auslöst. Die Zadurek tat ihm fast Leid.

Wie hatte sein Vater immer gesagt? «Ich wünsche mir, dass an meinem Grab Leute stehen, die sagen: Es war eine Bereicherung, diesen Menschen gekannt zu haben.» Das hatte nicht geklappt. Seine Frau war als Witwe fröhlicher, als sie es je als Ehefrau gewesen war. Seiner Frau ging es nach der Scheidung auch besser.

Die Zadurek hatte jedenfalls heftige Gefühle ausgelöst. Gefühle waren das Entscheidende bei einem Mord. Wie war das abgelaufen? Niemand konnte voraussehen, dass die Zadurek sich genau unter diesen Zug knien würde. Ihr Platz war im Zuschauerraum. Andererseits hatte sie, laut Knoller, die Angewohnheit, öfter etwas zu demonstrieren.

Also geplant? Oder eine Tat im Affekt?

Der Mörder hatte offensichtlich Handschuhe getragen. Keine Fingerabdrücke. Sah nach Vorsatz aus. Im Theater hielten sich um diese Uhrzeit nur Techniker und Schauspieler auf. Die Techniker, die Dienst hatten, waren den ganzen Abend zusammen gewesen. Zumindest der Requisiteur und der Bühnenarbeiter. Der Beleuchter war allein. Aber der saß am anderen Ende des Zuschauerraums. Gleich nach dem Mord hatte er das Lichtpult bedient. Alle hatten übereinstimmend gesagt, dass das Zuschauerlicht gleich anging, nachdem der Zug heruntergekommen war. Ein paar Sekunden reichten nicht für den Weg von der Arbeitsgalerie zur Beleuchtungskanzel.

Die Schauspieler waren auf der Bühne. Bis auf die mit dem gebrochenen Bein und Hilde Schmitz, das Gretchen. Die eine war im Sanitätsraum, die andere in der Garderobe. Mit einem gebrochenen Bein die Treppen hoch? Nicht sehr wahrscheinlich. Außerdem war der Regieassistent die meiste Zeit bei ihr. Hatte überlegt, ob er einen Arzt rufen sollte. Aber das Gretchen. Die würde er sich ansehen.

Die Schauspieler, die im Saal geblieben waren. Waren sie wirklich die ganze Zeit da gewesen? Da war doch bestimmt irgendeiner pinkeln oder sonst etwas. Das mussten sie überprüfen.

Fremde. Jeder konnte unbemerkt ins Theater gekommen sein. Die Pforte war während der Proben besetzt. Aber der Pförtner hatte Zeitung gelesen. Ob Pförtner je etwas anderes taten? Und dann gab es noch die Kantinentür. Die war fast nie abgeschlossen. Das Kantinenpersonal machte um zwanzig Uhr Schluss, wenn keine Vorstellung war. Durch die leere Kantine, an den Toiletten vorbei, durch die erste Bühnentür ins innere Treppenhaus. Und dann einfach hoch zur Arbeitsgalerie. Wenn man Glück hatte und gerade niemand durch die zweite Tür von der Bühne kam, war das problemlos. Triller hatte ihm den Weg gezeigt.

Eine Menge Möglichkeiten. Eine Menge Verdächtige. Offensichtlich auch eine Menge Motive. Dazu noch ein unübersichtliches Haus.

Er seufzte. Erschrak sofort über den Seufzer, der laut durch die leere Wohnung hallte.

Der Schlüssel lag bei der Zadurek. Wie war sie gewesen? Was hatte sie getan, um jemanden so wütend zu machen, dass er sie nicht mehr ertragen konnte? Oder ging es um ihr Privatleben? Um Geld? Wusste sie etwas, was sie nicht wissen sollte?

Er hatte Schmidthahn, den kleinen Pulch und Rosen. Die Kriminaltechnik hatte morgen bestimmt den Bericht fertig. Pulch und Rosen konnten die Zadurek übernehmen. Schmidthahn und er würden sich die Schauspieler teilen.

Der Probenbesuch. Am besten erledigte er das gleich morgen früh. War vielleicht sogar ganz interessant. Auf jeden Fall würde er sie dabei kennen lernen. Die Schauspieler lebten in ihrem Beruf, nicht in ihrer Freizeit. Irgendwann in der Kneipe war ihm das klar geworden. Also musste er sie in ihrem Beruf sehen.

Die Souffleuse. Die war bestimmt neugierig. So wie sie sich in der Kneipe aufgeführt hatte. Was war das nur für ein merkwürdiger Job? Den ganzen Tag am Rand sitzen und Texte mitlesen. Die bekam garantiert alles mit, was in dem Theater vor sich ging. Und da ging einiges vor sich.

Aber trotz Theaterkrise und Streitereien waren sie eine verschworene Gemeinschaft. Nette Gemeinschaft, die ihre Mitglieder erschlug.

Falls es nicht doch jemand von außen gewesen war. Er musste vorsichtig sein. Und aufmerksam. Sich nicht blenden lassen von ihren Witzen, ihrer Offenheit. Freundlich und unterhaltsam hatten die drei auf ihn wirken wollen.

Charme. Das hatte sie, die Mann. Auch Brandner und Less. Aber es hatte auch Vorteile, stumm und schwerfällig zu sein. Man konnte besser zuhören ...

Mit diesem Gedanken schlief er ein. Im Traum verwandelte er sich in einen Antennenwels, der eine Süßwassergarnele jagt. Obwohl er auch im Traum wusste, dass er, wie alle Antennenwelse, Vegetarier war.

Das Spiel heißt Mord

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