Читать книгу Die letzte Rolle - Madeleine Giese - Страница 5
• Prolog •
ОглавлениеJäh zuckt der Blitz und jagt sein fahles Licht durch das bodenhohe Fenster. Der Donner brüllt gleich hinterher. Die Zweige der großen Eiche peitschen gegen die Scheibe wie Riesenfinger, die Einlass fordern. Wieder ein Lichtschlag, die Tür öffnet sich, und eine Gestalt huscht in den Raum. Wirft die Tür hinter sich zu, lehnt sich keuchend dagegen. Ein kurzes, freundliches Nicken zur Leiche in der Badewanne.
Sie ist gerannt, so schnell gerannt, wie sie konnte. Immer dem Sturm nach. Als er noch weiter entfernt war, ihm entgegen, dann immer unter ihm, um von ihm umhüllt zu bleiben. Das lachende Gesicht in den klatschenden Regen gewandt, den Wind unter den Kleidern und in den Haaren. Die Arme zum Himmel gestreckt, um die Blitze zu fangen, Lust, die Donnerschläge wie von einer gigantischen Basstrommel durch den Körper vibrieren zu lassen.
Es war laut, es war gewalttätig. Es war wunderbar.
Erschöpft lässt sie sich auf den Boden sinken und legt ihr Gesicht auf die bloßen Knie. Ihr Gesicht ist heiß. Atemlos keucht sie: «Zieht das Toppsegel ein! Blas nur, Sturm, bis dir die Luft ausgeht! Herunter mit dem Toppmast, schnell! Tiefer, noch tiefer! Dreht bei, nehmt das Großsegel!»
Geschmeidig wie eine Katze steht sie auf und läuft zu dem großen Spiegel über dem Waschbecken.
«Elsa, Elsa! Wie siehst du aus? Böses Mädchen. So kannst du nicht herumlaufen. Wenn sie dich so sehen, gibt es Strafe, das ist klar.» Mit fliegenden Händen versucht sie, ihr langes Haar zu einem Zopf zu flechten. Im Spiegel mustert sie den Raum, der hinter ihr in dunklem Licht schwimmt, nur ab und zu von den zuckenden Blitzen zerrissen. Die grünen Kacheln lassen ihn wie unter Wasser aussehen.
«Was? Schon auf dem Meeresgrund? Lass dich aufhängen, du Hund, du Hurensohn! Vor dem Ertrinken furchten wir uns nicht», ruft sie der Toten zu, die friedlich in der Badewanne dümpelt.
Der Zopf ist fertig, und sie tänzelt zur Wanne. «Der Sturm ist direkt über dem Haus», erzählt sie eifrig. «Ihr müsstet draußen sein und proben. Stattdessen liegst du hier! Aber du brauchst ja nichts anderes zu tun. Sie bewundern dich trotzdem.»
Lächelnd sieht sie die Tote an und flüstert: «Ihr seid ein Staatsrat; könnt Ihr diesen Elementen Schweigen gebieten und Ruhe wie am Hof schaffen, so wollen wir kein Tau mehr anrühren. Gebraucht doch Eure Macht! Könnt Ihr das nicht, dann dankt, dass Ihr so lange gelebt habt.» Wasser schwappt der Frau in der Wanne über die schreckensstarren Augen.
«Das war doch gut, oder? Wenigstens den Bootsmann hättet ihr mich spielen lassen können.»
Als keine Reaktion kommt, setzt sie sich auf den Wannenrand und wirbelt mit den Fingerspitzen im Wasser. Haarsträhnen legen sich über das tote Gesicht. Zärtlich streicht die Frau am Wannenrand die Haare beiseite: «Mein Ariel. Du warst Geist von zu feinem Wesen, um die erdgebunden-rohen und grausigen Befehle zu vollstrecken, die die Hexe Sycorax dir auftrug.»
Mit beiden Händen greift sie ins Wasser und hebt den leblosen Kopf an. Lächelnd beugt sie sich hinunter und küsst ihn. «Geh und verwandle dich in eine Meerjungfrau; sei keinem Blick sichtbar als deinem eigenen und meinem, unsichtbar ...» Sie bricht ab. Dreht sich zur Tür. Langsam bewegt sich die Klinke.
Sycorax! Sie hält sich erschreckt die Hand vor den Mund und sieht sich nach einem Versteck um. Aussichtslos. Das Bad hat keine geheimen Ecken. Knarrend und langsam öff-net sich die schwere Tür, und ein Lichtstreifen vom Flur fällt in den dunklen Raum. «Ist da jemand?», ruft eine Stimme. Freundlich.
Aber sie lässt sich nicht täuschen. Es ist die Hexe. Mit einer lautlosen Bewegung gleitet sie vom Wannenrand, kauert sich zusammen und legt schützend beide Arme über den Kopf. Vielleicht sieht die Hexe sie nicht. Vielleicht bleibt sie vor der Tür stehen. Nicht atmen, sich nicht bewegen. Die Dunkelheit schützt. Wenn nur kein Blitz kommt und alles hell macht.
Es wird hell. Die Hexe hat das Deckenlicht angemacht. Damit hat sie nicht gerechnet. Sie versucht, sich noch kleiner zu machen. Unsichtbar.
Von der Tür ist ein erstauntes Luftholen zu hören. Schritte kommen auf sie zu. Sie kommt.
«Elsa. Was machst du denn hier? Wo warst du, du bist ja ganz nass?»
Die Hexe hat kräftige Arme. Hart packen sie zu. Das Schlimmste ist, dass die Hexe keinen eigenen Geruch hat. Sie riecht wie ein frisch geputzter Raum, wie gewaschene Wäsche. Wie Pfefferminze. Nicht wie ein Mensch.
O nein, die Hexe hebt sie hoch. O nein. Sie versucht, sich ganz schwer zu machen. Schwerer als ein Sack, schwerer als ein Haus. So schwer wie ein Gebirge. Die Arme lassen sie plötzlich los. Die Hexe schreit: «Um Gottes willen! Frau Braun.» Sie blinzelt nach oben und sieht, dass die Hexe sich über die Badewanne beugt. Gerettet.
Ihr Zopf hat sich gelöst, und durch den Schleier ihrer weißen Haare sieht sie, wie die Hexe die Tote aus dem Wasser zieht. Das muss schwer sein, die Hexe atmet ganz schnell. Sie legt Frau Braun auf den Boden und drückt ihr fest auf die Brust. Immer und immer wieder. Arme Frau Braun. Dann presst sie sogar ihren Mund auf den der Toten. Sie küsst sie. Das ist ja eklig. Nein, sie bläst Luft in sie. Sie will Ariel aufblasen, wie einen Ballon. Aber es geht nicht, und die Hexe drückt wieder auf den Brustkorb. Ganz schnell. Und jetzt bläst sie wieder. Aber Frau Braun wird nicht dicker. Es geht nicht. Um einen Körper aufzublasen, braucht man bestimmt viel Luft. Wie bei den Luftmatratzen. Oder noch mehr? Die Hexe kann es nicht. Fast muss sie kichern. Das vergeht ihr ganz schnell, als die Hexe sich ihr zuwendet.
«Komm, Elsa, wir müssen Hilfe holen.»
Heftig schüttelt sie den Kopf.
«Gut. Dann bleibst du hier und passt auf Frau Braun auf. Ich hole Hilfe! Abgemacht?»
Es ist besser, der Hexe nicht zu widersprechen. Elsa nickt.
Die Hexe geht, und sie atmet auf. Schnell kuschelt sie sich an die Tote: «Der Sturm hört auf. Die Abstände zwischen Blitz und Donner werden länger. Man muss die Sekunden zählen, weißt du? Und so viele Sekunden, wie dazwischenliegen, so viele Kilometer entfernt sich das Gewitter.»
Seufzend legt sie ihren Kopf auf die Brust der nassen Leiche und murmelt: «Mein Ariel, mein Vögelchen. Sei frei von allen Elementen und lebe wohl»
Als der Arzt wenig später das Badezimmer betritt, findet er auf dem Boden zwei alte, weißhaarige Frauen. Die Lebende hält die Tote umklammert und schläft. Auf einem Hocker sitzt die Nachtschwester, den Blick starr auf die beiden gerichtet