Читать книгу Die letzte Rolle - Madeleine Giese - Страница 6

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«Prottengeier, das kann doch einfach nicht wahr sein!»

Erstaunt setzte sich der so Angesprochene in den Besucherstuhl und sah seinem Chef ins rote Gesicht. Felix Petry wirkte nicht gerade so, wie sein Vorname verhieß – der Glückliche.

«Wie lange sind Sie eigentlich schon bei der Mordkommission?»

Als ob ausgerechnet Felix Petry seine Personalakte nicht auswendig kannte. Inklusive aller Einträge über Fehlverhalten, versteht sich.

«Prottengeier, diesmal ist die Beschwerde sogar über die Ärztekammer gelaufen. Führen Sie einen Privatkrieg gegen Ärzte, oder was?»

Der junge Dr. Fuchs, dieser Quacksalber. Hätte er sich denken können. Dieses hanseatisch-kühle Pickelgesicht. Typischer Papierkrieger. Angst vor Leichen, aber am Schreibtisch ein Löwe.

Der Chef kramte in seinen Papieren, zog ein Blatt heraus und hielt es Prottengeier anklagend entgegen.

«Hier steht, Sie hätten Herrn Dr. Fuchs beleidigt.»

«Ich habe Herrn Dr. Fuchs nur gefragt, ob er schon mal eine Leiche gesehen hat», antwortete der Kommissar ruhig. «Vielleicht ist er ja Gynäkologe. Weiß ich, wen die Rechtsmedizin uns an den Unfallort schickt?»

«Der Mann ist praktischer Arzt, und das wissen Sie genau», schnaubte Felix Petry.

«Eben», gab Prottengeier zurück. «Der Mann ist Arzt und will den Lebendigen helfen. Im besten Falle. Der Umgang mit Leichen ist für den nur eine unangenehme und schlecht bezahlte Pflicht.»

«Hier steht, Sie hätten versucht, das Ergebnis der Leichenschau zu beeinflussen.»

«Der Kerl ... Herr Dr. Fuchs wollte einfach ‹Tod durch Unfall› ankreuzen. Aber wenn das Opfer beim Gehen oder Stehen von dem Fahrzeug erfasst worden wäre, wären Stoßstellen an den Beinen. Da war nichts.»

«Ach! Sind Sie jetzt auch noch Mediziner?»

«Vermutlich hätten sogar Sie das bemerkt. Immerhin trug das Opfer kurze Hosen.»

Felix Petry schnappte nach Luft.

Prottengeier betrachtete ihn interessiert. Dieses unterständige Maul, genau wie beim Grauen Knurrhahn. Und derselbe dämliche Gesichtsausdruck. Der graubraune Anzug, den Petry heute trug, machte die Ähnlichkeit mit dem Fisch noch frappierender.

«Prottengeier, nehmen Sie doch einfach mal Urlaub.»

Wie bitte?

«Ich meine das ernst», fuhr sein Chef fort. «Entspannen Sie sich mal. Ein bisschen raus, in die Sonne. Ans Meer. Glauben Sie mir, ich würde viel darum geben, wenn ich aus diesem Dauerregen rauskäme. Ein mieser Sommer, dieses Jahr.»

«Glauben Sie, jemand legt sich extra mitten auf die Straße, um sich überfahren zu lassen?»

«Meine Frau nennt dieses Wetter immer ‹English Summen›», meinte Petry lächelnd. «Englischer Sommer.»

Was sollte das denn? Hatte ihm die sprechende Perlenkette, mit der er verheiratet war, endgültig das Hirn aus dem Schädel gequatscht?

«Wie hoch ist die Dunkelziffer der unentdeckten Morde?», fuhr Prottengeier unbeirrt fort. «Wie viele Ärzte haben ihre letzte Leiche während des Studiums gesehen? Die kreuzen doch noch natürlichen Tod an, wenn das Messer bis zum Heft im Brustkorb steckt.»

«Prottengeier, noch einmal: Nehmen Sie Urlaub. Spannen Sie aus. Sie sehen doch überall nur noch Morde.»

Daher wehte also der Wind. Er war mal wieder zu genau, zu misstrauisch. Schaffte der Mordkommission Überstunden an den Hals. Überflüssige Ermittlungsarbeit. Verwaltungskosten.

«Die Probleme liegen nicht darin, einen Mord zu bearbeiten. Sondern darin, ihn überhaupt zu erkennen», sagte Prottengeier. Er wusste, dass er penetrant war. Aber das war ihm egal.

Unvermittelt schlug Petry mit der flachen Hand auf seinen Schreibtisch. «Prottengeier, der Staatsanwalt hat jeden Monat hundertfünfzig Ablebensverfahren auf dem Schreibtisch. Sieben pro Tag! Wenn wir anfangen, jeden Unfall, jeden Selbstmord zu überprüfen, sind wir in einem Monat völlig lahm gelegt und im zweiten pleite.»

«Ist das jetzt die Direktive? Nur zu ermitteln, wenn der Mörder weinend neben der Leiche kniet? Die Axt mit Fingerabdrücken noch im Kopf steckt?»

«Machen Sie sich nicht lächerlich.»

«Soll ich wegsehen, damit der Staatskasse Geld gespart wird? Was wollen Sie werden? Der sparsamste Leiter des Morddezernats?»

«Prottengeier!»

Der Kommissar biss sich auf die Lippen. Er war zu weit gegangen, das wusste er. Aber dieser Petry mit seinem perfekten Familienleben und seinen politischen Ambitionen schaffte es jedes Mal, ihn so zu reizen, dass er über das Ziel hinausschoss.

«Herr Prottengeier, an Ihr schroffes Benehmen mir gegenüber gewöhne ich mich ja langsam. Aber Sie zeigen dasselbe Verhalten gegenüber Ihren Kollegen und allen offiziellen Stellen, mit denen wir zusammenarbeiten.»

Na und? Ging es um einen Beliebtheitswettbewerb?

«Fast täglich sitzt mir hier jemand gegenüber, den Sie vor den Kopf gestoßen haben. So geht das einfach nicht.»

«Wissen Sie eigentlich, dass in Deutschland jedes Jahr die Titanic untergeht, ohne dass es einer merkt?»

Petry stutzte. Offensichtlich konnte er diesem Gedankensprung seines Hauptkommissars nicht ganz folgen.

«Wir haben eine Aufklärungsquote von über neunzig Prozent. Aber die Rechtsmedizin geht davon aus, dass jede zweite Tötung unentdeckt bleibt. Jede zweite! Das macht die Titanic mit Mann und Maus.»

Unwillig schüttelte Petry den Kopf. «Das ist doch gerade nicht unser Thema.»

«Doch. Das ist genau das Thema.»

«Prottengeier, Ihr Eifer in allen Ehren. Ich schätze Ihre Arbeit durchaus. Aber dieses Verbohrte an Ihnen ... Meine Frau meint auch, dass Sie seit Ihrer Scheidung nicht mehr derselbe sind.» Petry rückte vertraulich näher. «Aber, Prottengeier, mal unter Männern: Das liegt doch schon über zwei Jahre zurück. Langsam ...»

Prottengeier stand auf und ging.

Als die Tür hinter ihm zufiel, konnte er Petry noch «Herr Prottengeier, bitte ...» rufen hören.

Wütend stapfte er durch die Gänge. Dieser Idiot. Leiter der Mordkommission. Ausgerechnet! Saß wahrscheinlich mit der sprechenden Perlenkette am Kamin und sezierte die Familienverhältnisse seiner Kommissare. Mord eignete sich auch nicht so gut als Cocktailparty-Thema. Und etwas anderem konnte die Perlenkette kaum folgen. Da war das Privatleben der Abteilung natürlich interessanter.

Plötzlich stand er im Freien und atmete tief durch. Er hatte überhaupt nicht gemerkt, dass er durch das ganze Kommissariat marschiert war. Wahrscheinlich schnaubend und mürrisch. Ohne nach rechts und links zu sehen. Ohne Gruß und Nicken an allen Kollegen vorbei. Auch egal.

Den Fall konnte er abhaken. Wahrscheinlich gab es noch nicht einmal eine Obduktion. Tod durch Unfall. Unfall mit Fahrerflucht. Ob sie den Wagen finden würden, war fraglich. Alles hatte wie arrangiert ausgesehen. Einfach zu offensichtlich.

Müde hob er den Kopf und sah in den grauen Nachmittagshimmel. English Summer. So ein Quatsch. Immer noch besser als diese Affenhitze. Ans Meer, in den Süden. Ohne ihn. In einer Blechlawine über heißen Asphalt zu rollen, um dann wie Ölsardinen in genauso heißem Sand zu liegen. Und nach zwei Tagen war er mit jeder Speckfalte, jeder Krampfader, die der Strandnachbar ihm vor die Nase hielt, per du. Dann lieber Regen im August.

Wie auf Kommando lösten sich vom Himmel die ersten dicken Tropfen. Erwartungsvoll hob er das Gesicht. Um ihn herum wurden Regenschirme aufgespannt, Mantelkragen hochgeklappt und Schritte beschleunigt. Prottengeier schloss die Augen und genoss den warmen Regen, der in sein Gesicht prasselte.

Von den Fenstern des Kommissariats aus konnten sie ihn sehen. Egal, das Urteil stand sowieso fest. Sollten sie ruhig denken, er sei endgültig übergeschnappt. Urlaub. Warum eigentlich nicht?

Die Söhne waren mit ihrer Mutter irgendwo im Süden. Wie er diese Familienurlaube immer gehasst hatte. Das gemietete Haus, das immer ungemütlich blieb. Die Landschaften, die sich aufdrängten und nach Betrachtung schrien. Keine Zeit zum Nachdenken, zum Alleinsein. Die ewige Sonne. Der Trubel. Und er tappte neben den dreien her wie ein Fremder.

Er schüttelte sich. Das Wasser zwischen Hemdkragen und nackter Haut war angenehm warm. Vielleicht hieß Platzregen so, weil er die Plätze leer fegte.

Neben ihm bremste ein Wagen und schleuderte eine Ladung Spritzwasser auf seinen Anzug. Hastig öffnete der Fahrer die Tür. «Mist, der schöne Anzug. Tut mir Leid, Herr Prottengeier.»

Die dunklen Haare und der spöttisch verzogene Mund. Dieses scharfkantige Gesicht, das die Renaissancemaler ihren Mönchen gaben ... Peter Less. Schlagartig fiel Prottengeier ein anderes Gesicht ein. Lehmbraune Augen und zerzauste blonde Locken. Wie lange hatte er nicht mehr an sie gedacht?

«Kommen Sie, ich fahre Sie nach Hause», sagte der Schauspieler und zog sich wieder ins Wageninnere zurück. Misstrauisch umrundete der Kommissar den Wagen und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Stumm sahen die beiden Männer sich an. Das konnte doch kein Zufall sein. Peter Less. Hatte der auf ihn gewartet? Warum?

«Lange her, was?», sagte Less endlich.

Prottengeier nickte. Über ein Jahr. Die Mordserie im Theater. Karl Brandner, Peter Less und Magda Mann. Seine drei Hauptverdächtigen.

«Als ich Sie am Straßenrand stehen sah, musste ich einfach anhalten. Einen Fingerzeig des Schicksals ignoriert man besser nicht.»

Jetzt war Prottengeier sicher, dass ihr Treffen kein Zufall war. Trotzdem sagte er nur: «Soweit ich weiß, stehe ich beim Schicksal nicht auf der Gehaltsliste.»

Peter Less begann zu lachen. «Sagen Sie das nicht, Herr Prottengeier. Im Regen sahen Sie aus wie eine der Erinnyen – eine sehr männliche allerdings.»

Der Schauspieler ließ den Motor an und wandte sich wieder an den Kommissar. «Erinnyen sind griechische Rachegöttinnen. Mit Schlangen auf dem Kopf. Statt Haaren.»

«Hört sich nett an.»

«Auf der Rückbank liegt ein Handtuch. Um die Schlangen zu trocknen.»

«Danke, es geht schon», meinte Prottengeier und strich sich die nassen Haare nach hinten. Peter Less beobachtete ihn neugierig.

Dieser Prottengeier hatte sich so gut wie nicht verändert. Grauer um die Schläfen herum. Nicht mehr ganz so massig. Stand ihm gut. Normalerweise wurden Heteros ab Mitte vierzig fett. Ein Haarschnitt und eine Rasur würden nicht schaden. Diese Spur von Vernachlässigung hatte er damals schon gehabt. Die Weiber standen ja auf so was. Sogar Magda. Erstaunlicherweise. Gut, dass er ihn erwischt hatte. Ob Prottengeier ihm das zufällige Treffen glaubte? Auch egal.

Der Schauspieler lächelte. «Wie wäre es, wenn wir einen trinken gehen? Auf die alten Zeiten?»

«In Ihre Kneipe? Diesen Theatertreff?»

Less nickte und fädelte sich in den Verkehr ein.

Prottengeier starrte durch die Windschutzscheibe auf den Regen, der sich, unbeeindruckt von den hysterisch wedelnden Scheibenwischern, wie ein grauer Vorhang vor die Welt schob.

Peter Less, Karl Brandner und Magda. Ihr großzügiges Lächeln und die unmöglichen Kleider, die sie trug. Ihr wortloses Verschwinden nach dem Tod des alten Warnak. Ob Less wieder Kontakt zu ihr hatte? Sie hatte niemandem gesagt, wo sie hinwollte. Aber es war nicht schwer gewesen, es herauszubekommen. Nicht für einen Polizisten.

Unauffällig musterte er den Schauspieler, der konzentriert den Verkehr beobachtete.

Selbstsicher und elegant, so wie er ihn kennen gelernt hatte. Das Jackett war aus Wildseide. So eins hatte er neulich im Schaufenster gesehen und sich kurz überlegt, es zu kaufen. Aber in einer Woche wären die Taschen ausgebeult und die Ärmel aufgescheuert. Und damit im Regen stehen ginge auch nicht. Erinnyen! Was sollte das? Irgendetwas wollte der Kerl doch von ihm. Vor einem Jahr hatten sie sich nicht gerade als Freunde getrennt. Aber man musste bei diesen Schauspielern nur still sein, dann wurden sie geschwätzig.

Der Wagen hielt vor der Kneipe. «Na los, schwimmen wir ins Trockene», meinte Less munter.

Im Laufschritt stürmten sie ins Lokal, und der kleine griechische Kellner begrüßte sie strahlend. Wie hieß er gleich noch? Prottengeier runzelte die Stirn. Sein Namensgedächtnis wurde auch immer schlechter.

«Für mich ein Bier, Kosta. Und Sie, Herr Kommissar?»

Kosta, genau. Ein Freund von Magda. Prottengeier erinnerte sich. Zwei zusammengesteckte Köpfe und Gekichere.

«Du bist Freund von Magda, was? Ich erinnere. Was macht Magda? Wie geht es?», schnatterte der Kellner los.

«Lass gut sein, Kosta», griff der Schauspieler ein. «Wir wissen auch nichts. Aber sobald wir von Magda hören, sagen wir Bescheid.»

Prottengeier spürte, wie Enttäuschung in ihm hochkroch. Irgendwie hatte er damit gerechnet, dass Less etwas Neues wusste. Dass er ihn vielleicht deshalb angesprochen hatte.

«Für mich auch ein Bier.» Er folgte Less an einen Ecktisch.

«Kosta kann mit seiner Fragerei ganz schön lästig sein», meinte der Schauspieler und setzte sich. «Aber man muss ihm ja nicht alles auf die Nase binden.»

Merkwürdig gereizt schob der Kommissar die kränkliche Geranie beiseite, die in der Mitte des Tisches thronte. «Haben Sie denn etwas von ihr gehört?», fragte er betont beiläufig.

«Eigentlich dachte ich ja, Sie würden nach ihr suchen. So wie Sie damals in die Kantine gestürmt kamen.» Less grinste anzüglich.

Mistkerl. Prottengeier sah ihn ausdruckslos an.

«Aber egal. Ich weiß, wo sie ist. In dem Städtchen, wo sie aufgewachsen ist. Sie spielt dort an einem kleinen Privattheater.»

Das wusste er schon lange. Wenn das alles war, was dieser Kerl ihm zu sagen hatte.

«Vor zwei Monaten hat sie mich angerufen und ...» Less unterbrach sich, als Kosta die Biere abstellte. Nachdem der kleine Kellner wieder hinter seinem Tresen verschwunden war, fuhr er leise fort: «Sie war beunruhigt. Wegen der Vorkommnisse. Da waren aber erst zwei tot. Und gestern dann die Dritte. Sie hat angerufen und war völlig außer sich.»

«Moment, Herr Less. Wer ist tot?»

«Diese alten Damen. Aus dem Altenheim. Magdas Tante ist dort in irgend so einem Heim, und anscheinend sterben die Alten dort wie die Fliegen.»

«Wenn ich Sie richtig verstanden habe, geht es um drei alte Damen in einem Altenheim?»

«Genau.» Der Schauspieler hob sein Glas. «Prost, Herr Kommissar. Drei alte Damen, die unter mysteriösen Umständen innerhalb kurzer Zeit verschieden sind.»

«Mysteriöse Umstände?»

Less zuckte mit den Schultern. «Genaueres weiß ich auch nicht. Magda hat eine wilde Geschichte von Pantoffeln erzählt, die nicht da waren, wo sie sein sollten. Und dass es dreimal dieselbe Rolle war.»

«Was heißt dieselbe Rolle?»

«Keine Ahnung. Sie hat geweint. Und sie war wohl ein bisschen betrunken.»

Betrunken, auch das noch. Prottengeier fühlte die alte Gereiztheit in sich aufsteigen. Seine Frau hatte niemals getrunken. Aber die war auch keine Schauspielerin. Gott sei Dank!

«Mein Gott, jetzt sehen Sie aus, als hätte Ihnen jemand ans Bein gepinkelt», sagte Less, der ihn aufmerksam beobachtete, und verzog spöttisch den Mund.

«Frau Mann war betrunken?»

«Da liegt also der Hund begraben? Das stört Sie?»

«Es geht nicht darum, ob mich das stört. Sondern wie ernst man den Verdacht von Frau Mann nehmen muss.»

«Wenn Magda trinkt, ist das beunruhigend. Das tut sie nämlich sonst nie. Da ist etwas faul in diesem Altenheim. Und Magda macht sich große Sorgen.»

«War sie denn bei der Polizei?»

«War sie. Aber die ermitteln nicht. Niemand hilft ihr, und deshalb ist sie so außer sich.»

«Wenn die Mordkommission nicht ermittelt, können die Todesumstände dieser alten Damen so mysteriös nicht sein.»

«Oder die Kompetenz der dortigen Mordkommission ist nicht so besonders», konterte der Schauspieler trocken. «Magdas Tante ist in diesem Altenheim. Und plötzlich sterben die Leute wie die Fliegen. Ist doch kein Wunder, dass sie sich Sorgen macht.»

«Warum erzählen Sie mir das, Less?»

Der Schauspieler lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah Prottengeier aufmerksam an. Nach einer Weile meinte er: «Genau weiß ich das selber nicht. Sie standen im Regen. Wie Nemesis persönlich. Ich habe Sie gesehen und gedacht: Das ist die Lösung.»

«Erinnyen, Nemesis – hätten Sie es nicht ein bisschen kleiner, Herr Less?»

Der Schauspieler lachte. «Komisch, in der Mythologie sind die ganzen Rachegötter weiblich. Aber unsere gesellschaftlich bestallten Rachegötter sind meistens männlich. Oder gibt es viele weibliche Kommissare?»

«Einige. Aber ich muss Sie enttäuschen. Ich sehe mich keinesfalls als Rachegott. Und ich sehe auch nicht, wie ich Ihnen oder Ihrer Freundin helfen kann.»

Der Schauspieler kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. «Vielleicht könnten Sie ja mal anrufen und Ihren Kollegen einen Schubs geben?», meinte er schließlich.

«Wie stellen Sie sich das vor? Ich rufe an und sage: Übrigens, ich habe da jemanden getroffen. Einen meiner Hauptverdächtigen bei einer Mordermittlung letztes Jahr. Und der sagt, bei euch passieren Morde, und ihr tut nichts.»

«Wir könnten hinfahren», sagte der Schauspieler unbeeindruckt. «Das ist eine Idee. Ich habe noch Theaterferien. Wir könnten hinfahren und selbst sehen, was da los ist.»

Erwartungsvoll sah er den Kommissar an. Prottengeier lachte. «Ihr Enthusiasmus in Ehren, Herr Less. Aber ein Kommissar, der in seiner Freizeit Mörder jagt – das ist lächerlich. Ich weiß so gut wie nichts über diese Geschichte. Und dass in einem Altenheim Menschen sterben, ist relativ normal.»

«Das habe ich Magda auch gesagt. Aber sie behauptet steif und fest, dass da etwas Unheimliches vor sich geht. Was ist, wenn sich da wirklich ein Mörder herumtreibt? Wenn ihre Tante wirklich in Gefahr ist? Wir müssen doch irgendetwas tun.»

Dieser Less schien besorgt zu sein. Wie er ihm so gegenübersaß und ihn mit großen Augen ansah. Aber bei den Theatermorden hatte Less auch schon versucht, ihn zu manipulieren. In eine Richtung zu drängen. Mit demselben unschuldigen Gesichtsausdruck.

«Sie erwarten, dass ich etwas unternehme? Mit dieser vagen Geschichte als einziger Information? Nur weil Ihre Kollegin, betrunken wohlgemerkt, etwas von ‹mysteriös› und ‹unheimlich› faselt? Das kann nicht Ihr Ernst sein.»

Der Schauspieler war blass geworden. «Ich erwarte gar nichts. Ich habe Sie im Regen stehen sehen. Und ich habe mich daran erinnert, dass Magda Ihnen nicht ganz gleichgültig war. Kann sein, dass ich mich da getäuscht habe.»

Prottengeier zuckte leicht zusammen.

«Aber egal», fuhr Less fort. «Ich dachte, zumindest als Kriminalbeamter würde es Sie interessieren, ob sich ein Mörder herumtreibt. Aber da kann ich mich getäuscht haben. Vielleicht liegt die Betonung bei Ihrer Berufsbezeichnung ja auch eher auf ‹Beamter›. Tut mir Leid, dass ich Sie belästigt habe. Das Bier geht auf mich.»

Er stand auf. Verdutzt sah Prottengeier ihm nach, als er am Tresen bezahlte und das Lokal verließ, ohne sich umzusehen.

Ließ der Kerl ihn einfach sitzen. Einfach aufzustehen war nicht gerade die feine Art. Was dachten sich diese hysterischen Schauspieler eigentlich? Morde im Altenheim. Auch das noch. Das waren doch nur Hirngespinste dieser Magda.

Er sah sie vor sich. Ihren Scheinwerferblick, wenn sie auf ihn einredete. Das Lächeln, das in ihren Augen begann. Auf der Bühne kniend, aufmerksam dem Regisseur zugewandt. Und er erinnerte sich an das Gewicht ihres Körpers, als er sie nach dem schrecklichen Tod Warnaks von der Arbeitsgalerie nach unten trug ...

Mit einer ärgerlichen Kopfbewegung verscheuchte er die Bilder und trank sein Glas leer. Alles Blödsinn. Unentdeckte Morde. Natürlich gab es die wie Sand am Meer. «Wenn auf jedem Grab eines Mordopfers ein Lichtlein brennen würde, wäre der Friedhof hell erleuchtet.» Diesen alten Kriminalerspruch hätte er Petry auch noch an den Kopf werfen können.

Unwillkürlich musste er grinsen. Kosta, der an seinen Tisch gekommen war, deutete mit einer Kopfbewegung auf sein leeres Glas. Prottengeier verneinte und stand auf.

«Warte», sagte der kleine Kellner und trat dicht an den Kommissar heran. «Du Polizei? Richtig? Du findest Magda?»

Unwillig schüttelte der Kommissar den Kopf.

«Doch. Du musst», meinte der Kellner nachdrücklich und packte Prottengeier am Arm. Mit der freien Hand winkte er ihn zu sich herunter und flüsterte: «Ich habe geträumt. Von Magda. Magda in Gefahr, ich weiß das. Du findest sie. Schon dreimal hab ich geträumt. Magda in Gefahr. Du hilfst. Bitte!»

Hilflos sah der Kommissar zu ihm hinab. Kosta drückte bekräftigend seinen Arm und gab ihn dann frei. Hastig wandte sich Prottengeier zum Gehen.

Ein übersinnlicher Kellner. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Die letzte Rolle

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