Читать книгу Die letzte Rolle - Madeleine Giese - Страница 8

• 3 •

Оглавление

«Tom, spinnst du? Tante Gisela spielt den Ariel nicht. Das kommt überhaupt nicht in Frage.»

Magda stürmte durch das Zimmer und schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. Der Mann dahinter zuckte zusammen.

«Ich verbiete das. Sie spielt diese Scheißrolle nicht.»

«Jetzt mal langsam, Magda. Warum regst du dich eigentlich auf?», fragte der Angesprochene und legte widerwillig sein Regiebuch beiseite.

«Dreimal stirbt der Ariel, meine Tante soll den vierten spielen, und du fragst, warum ich mich aufrege?», schnaubte die Schauspielerin.

«Bitte, Magda. Beruhige dich und setz dich erst mal.»

«Ich will mich nicht setzen. Und erst recht nicht beruhigen. Seit Wochen mach ich mir schon Sorgen, was in diesem Altenheim los ist, und jetzt das!»

Mit einem Seufzen stand Tom Haller auf und umrundete den Schreibtisch.

«Fass mich bloß nicht an», schnauzte sie.

Überrascht blieb der Theaterleiter stehen. «Mach es mir doch nicht so schwer, Magda. Lass uns miteinander reden.»

Sie trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme über der Brust. «Mach das rückgängig. Du bist schließlich der Theaterleiter. Sag, du willst nicht, dass sie den Ariel spielt. Sag ihr, du als Regisseur traust es ihr nicht zu. Sag irgendwas.»

«Das ist nicht dein Ernst, Magda. Gisela Mann ist die Idealbesetzung für den Ariel. Du weißt das. Ich weiß das. Und sie weiß das auch.»

Unwillig strich er sich die graublonden Haare aus der Stirn.

Magda sah ihm zu. Da war er wieder, der berühmte Stich ins Herz. Wie immer, wenn er eine altvertraute Geste machte. Der Held ihrer Jugend.

«Tom, ich bitte dich», sagte sie sanfter als beabsichtigt. «Rede ihr das aus. Sie darf den Ariel nicht spielen.»

Vorsichtig kam er näher und blies ihr eine Locke aus der Stirn. Zum ersten Mal bemerkte er die zarten Fältchen um ihre Augen. Braun wie Erde. Die Linien ihres Mundes. Mit dem Zeigefinger war er ihn entlanggefahren. Früher. Als seine Hände jede ihrer Linien kannten.

«Lass uns vernünftig sein, Magda. Drei alte Frauen sind gestorben. Das passiert. Frau Desch-Kallenberg, unser erster Ariel, war schon neunzig. Das ist alt, Magda.»

Dieser Mistkerl. Die zärtliche Stimme. Sein Geruch nach Herbst und frühem Morgen. Aber sie würde sich nicht einwickeln lassen.

«Der zweite Ariel war erst siebzig.»

«Stimmt. Aber Katharina hatte Herzrhythmusstörungen. Da ist auch mit siebzig ein Herzinfarkt nichts Außergewöhnliches.»

«Und die Geschichte mit ihren Pantoffeln?»

Tom Haller stöhnte auf. «Mein Gott, Magda. Elsa und ihre Pantoffel-Geschichte. Was soll denn dieser ganze Aufstand, wann Katharina Pantoffeln getragen hat und wann nicht?»

«Elsa war mit ihr befreundet. Jahrelang. Sie kannte Katharina besser als jeder andere. Und sie schwört, dass Katharina immer Pantoffeln trug, wenn sie sich aufs Sofa legte. Man hat sie auf dem Sofa gefunden. In ihre Decke eingewickelt. Aber sie trug keine Pantoffeln. Warum nicht?»

Tom Haller schüttelte den Kopf. Diese Frau war so hartnäckig wie eine Zecke. Schon mit achtzehn war sie so gewesen.

«Katharina hat also ihre sagenhaften Pantoffeln nicht angehabt, als sie auf ihrem Sofa gefunden wurde. Na und? Was folgerst du daraus? Dass sie ermordet wurde? Und der Mörder sie auf dem Sofa drapiert hat, damit es so aussieht, als hätte sie während des Mittagsschläfchens ihren Herzanfall gehabt?»

«Zum Beispiel.»

«Lächerlich. Woher will Elsa überhaupt wissen, dass Katharina diese blöden Pantoffeln immer trug? War sie jedes Mal dabei, wenn Katharina sich hinlegte? Außerdem – Menschen ändern sich.»

«Aber nicht ihre Gewohnheiten. Und im Alter schon gar nicht. Die Gewohnheiten sind ihre Gerüste des Tages», sagte sie bestimmt.

Wie sie so wild entschlossen vor ihm stand. Die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf im Nacken, das Kinn angriffslustig vorgestreckt.

Früher hatten sie ganze Tage so gestritten. Jeder hatte leidenschaftlich seinen Standpunkt vertreten. Und nachts hatten sie sich genauso leidenschaftlich versöhnt.

«Und was ist mit Frau Braun?», unterbrach sie seine Erinnerungen. «Dieser Tod in der Badewanne? Die dritte Spielerin des Ariel?»

«Ein Unfall», winkte er ab und sah auf ihren Mund. Er hätte sie gern geküsst, aber er wusste aus Erfahrung, dass er das jetzt besser nicht probierte.

Sie lachte höhnisch auf.

Er kam noch einen Schritt näher und umfasste ihre Schultern. Sie roch so verdammt gut.

«Magda, alte Frauen sterben eben.» Gereizt versuchte sie, sich aus seinem Griff zu befreien, aber er ließ nicht los. «Überleg doch mal: Wer sollte drei alte Schauspielerinnen ermorden? Zu vererben hatten die drei doch nichts. Um der Produktion zu schaden? Warum? So wichtig ist das, was wir tun, auch wieder nicht. Außer für die Alten.»

Er hielt sie fest und zwang sie, zu ihm hochzusehen.

Dieser verletzte Marlon-Brando-Blick. Müde sah er aus. Wie von einer leichten Staubschicht überzogen. Dabei war er immer so strahlend gewesen. Für sie hatte er aus jeder Menge herausgeragt. Mit seinem Elan, seinen Ideen. Erstaunt merkte sie, dass sie ihn alt fand. Sie selbst war auch nicht viel jünger. Ob er wohl dasselbe dachte, wenn er sie ansah?

«Du müsstest sie aufblühen sehen, Magda», fuhr er fort, und ein bisschen von dem alten Feuer blitzte in seinen Augen. «Wie lebendig sie bei den Proben werden. Was es für sie bedeutet, wieder auf der Bühne zu stehen. Zu spielen. So viel gelebtes Leben. Und das in einem Stück wie Shakespeares Sturm. Sie sind hervorragend.»

Mit den letzten Worten sah er über ihren Kopf hinweg in irgendeine hoffnungsvolle Ferne.

Er hatte sich doch nicht so sehr verändert. Das Blühen alter Kollegen. Gelebtes Leben. Immer noch derselbe Schwärmer. Der Mann der Visionen. Seine Lieblingsrolle.

«Ich sehe nur, dass dreimal der Ariel stirbt», sagte sie trocken. «Dreimal dieselbe Rolle. Das gefällt mir nicht, Tom.»

«Dreimal stirbt dieselbe Rolle. Aber sie lassen sich nicht unterkriegen. Sie proben immer wieder von vorne. Ohne zu klagen. Wollen das Stück auf die Bühne bringen. Das ist einfach großartig.»

«Aber nicht mit meiner Tante als Ariel.»

Entnervt ließ er sie los. «Mein Gott, Magda. Siehst du nicht den Willen dahinter? Diesen Wunsch, noch zu leben? Zu etwas zu taugen? Kunst zu schaffen?»

«Ich sehe nur, dass etwas geschieht, was ich nicht verstehe. Was, wenn sich wirklich ein Mörder herumtreibt? Der es auf den Ariel abgesehen hat? Ein Verrückter, was weiß ich. Was, wenn es gefährlich ist, diese Rolle zu spielen? Tom, sieh doch einmal nicht nur das Theater. Sieh die Menschen.»

Ärgerlich drehte er sich um und stellte sich ans Fenster. Sie redete schon genau wie Ingrid. Natürlich sah er die Menschen. Was sonst beim Theater? Dass Frauen nie über ihren Tellerrand sehen konnten. Für wen machte er denn das Ganze? Für Menschen!

«Was erwartest du von mir?», fragte er knapp.

«Stopp die Produktion. Bis wir wissen, was los ist.»

Wütend drehte er sich um. «Wie stellst du dir das vor? Die Produktion ist der Clou. Die ganze Aufmerksamkeit der Presse. Was glaubst du, was das für unser Theater bedeutet? ‹Alte Schauspieler wieder auf der Bühne!› Riesige Vorankündigungen, überregionales Interesse. Und die Produktion wird etwas ganz Besonderes. Das hat noch keiner gemacht. Shakespeares Alterswerk fast nur mit alten Schauspielern!»

Langsam ging sie auf ihn zu. «Bitte, Tom. Tu’s mir zuliebe. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl bei der Sache.»

«Magda, das kann ich nicht», antwortete er gequält. «Selbst dir zuliebe nicht. Ich bin der Leiter dieses Theaters. Ich muss tun, was für das Theater das Beste ist. Diese Produktion kann uns aus allen Schwierigkeiten herausreißen. Und als kleines Privattheater haben wir davon genug. Das kannst du mir glauben.»

Sie sah an ihm vorbei aus dem Fenster. Nach dem vielen Regen wirkte das Gras draußen wie poliert. Unecht. Einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl, das Zwitschern der Vögel käme vom Band und der Sommergeruch aus der Spraydose.

Er würde nichts tun. Er wollte einfach nicht sehen, dass etwas vor sich ging. Tom sah nur, was Tom sehen wollte. Wie früher.

Irritiert merkte sie, dass er schon wieder ihre Schultern gepackt hatte und sie an sich zog. Mit dem Mund an ihrer Schläfe flüsterte er: «Du hast doch heute Abend probenfrei. Wie wäre es, wenn ich bei dir vorbeikäme? So um halb zehn?»

Mit einem Ruck machte sie sich frei. «Nein, Tom. Weder heute noch morgen, noch irgendwann.»

Mit einem Schlag veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Kühl meinte er: «Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest? Ich habe noch zu tun. Um zehn Uhr kommt die Sturm-Mannschaft.» Und mit ausgestrecktem Arm deutete er zur Tür.

Natürlich, jetzt war er beleidigt. Vielleicht hätte sie die Abfuhr vorsichtiger formulieren sollen? Aber warum eigentlich? Schließlich war es ihr gutes Recht, nicht mit ihm ins Bett zu gehen.

Genauso kühl gab sie zurück: «Ich hoffe, du denkst noch einmal über die Ariel-Besetzung nach.»

«Wohl kaum», sagte er und musterte sie von oben herab. «Deine Tante will den Ariel spielen. Und du bist nicht ihr Vormund.»

Dieser blöde Arsch! Wenn sie nur nicht zurückgekommen wäre. Wütend wandte sie sich zur Tür.

«Du sollst übrigens noch bei Ernst vorbei. Er hat einen Brief für dich», rief er, bevor sie die Tür schloss.

Auf dem Gang blieb sie stehen und atmete tief durch.

Auch hier standen die Fenster weit offen für die in diesem Sommer seltene Sonne.

Ein Brief. Sie starrte auf das flimmernde Grün vor dem Fenster. Sie hätte nicht mit ihm ins Bett gehen sollen, als sie zurückkam. Das machte alles nur schwieriger. Klar war er jetzt sauer, wenn sie sich weigerte. Hatte das vermutlich als bequemes Arrangement beibehalten wollen. Sie war ein Idiot. Tom war kein Ehemann, sondern ein verheirateter Junggeselle. Mit denen gab es immer Ärger.

So oder so würde er nichts tun, was den Sturm gefährdete. Und wenn noch zehn Ariels starben.

Sie war allein.

Bedrückt ging sie zum Büro des Geschäftsführers. Nach einem kurzen Klopfen zwängte sie sich in den voll gestopften Raum, in dem Bücher und Papiere sich wie Unkraut an den Wänden entlangzogen, in Türmen aus dem Boden wuchsen und jede freie Fläche belagerten.

«Magda. Schön, dich zu sehen», grinste Ernst ihr von seinem überquellenden Schreibtisch entgegen. «Ich habe einen Brief für dich. An das Theater adressiert. Warte mal, hier muss er irgendwo sein.» Und mit zerzausten Haaren tauchte er hinter seinen Papierbergen ab.

Unwillkürlich lächelte sie. Ernst und das Chaos waren immer noch Geschwister.

«Hier hab ich dich.» Triumphierend tauchte er wieder auf und hielt ihr den Umschlag entgegen.

Nach einem Blick auf den Absender riss sie ihn hastig auf und überflog den Bogen.

«Gute Nachrichten?», fragte er, als sie zu strahlen begann.

«Ein alter Freund kommt mich besuchen. Peter Less, ein Schauspielkollege», antwortete sie bereitwillig. «Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit ...» Verlegen brach sie ab.

Ernst lächelte sie an. Er würde nicht fragen. Sie hatten beide keine Fragen gestellt, als sie vor einem Jahr hier ankam und um Arbeit bat. Ernst nicht und Tom auch nicht. Sie hatten sie einfach eingestellt. Und sie hatte nicht viel erzählt. Nichts über die Mordermittlung im vergangenen Jahr. Oder den Todessprung des alten Warnak.

«Ernst, kannst du mir nicht helfen?», fragte sie impulsiv und kniete sich neben seinen Stuhl. «Ich mache mir Sorgen. Heute Morgen kam Tante Gisela und hat mir verkündet, dass sie bei euch den Ariel spielt. Ich hab sie gebeten, es nicht zu tun. Aber sie hört nicht auf mich. Und Tom will auch nichts unternehmen.»

Ernst nahm seine Brille ab und sah sie mit großen, kurzsichtigen Augen an. «Aber was soll er denn unternehmen? Magda, du glaubst doch nicht wirklich, dass hinter den Todesfällen etwas anderes als Zufall steckt?»

«Zufall?», fragte sie verächtlich. «Drei tote Ariels, und ihr nennt das Zufall?»

«Magda, die Schauspielerinnen waren alt.»

«Wenn ich das noch einmal höre, fange ich an zu schreien», unterbrach sie ihn. «Die Schwestern im Heim, der Arzt, sogar die Polizei. Alle sagen nur: Sie waren alt.»

Verwirrt ließ er seine Brille sinken und blinzelte sie kurzsichtig an. «Polizei? Wieso denn Polizei?»

«Elsa war nach Katharinas Tod bei der Polizei. Weil sie doch ihre Pantoffeln nicht trug.»

«Ach ja. Die Pantoffeln. Mit dieser wilden Geschichte kam sie auch ins Theater gerannt.»

«Das ist keine wilde Geschichte», beharrte Magda.

Er zog ein Taschentuch hervor und begann, seine Brille zu putzen. «Nur weil Katharina keine Pantoffeln trug, kannst du doch nicht glauben, dass sie ermordet wurde.»

«Tu ich doch nicht.» Erregt stand sie auf. «Das ist doch nur ein Indiz in einer ganzen Kette von Merkwürdigkeiten. Ihr probt den Sturm. Der erste Ariel stirbt. Okay, das kann passieren. Der zweite Ariel probt, stirbt aber kurz darauf ebenfalls. Da wird es schon merkwürdiger. Dann kommt der dritte Ariel. Und der rutscht in der Badewanne aus und stirbt drei Tage nach Probenbeginn. Ernst, das schreit zum Himmel.»

«Was sagt denn die Polizei dazu?»

«Nichts. Der Arzt hat in allen drei Fällen natürlichen Tod attestiert. Also tun sie nichts. Die glauben doch sowieso, in dem Altenheim sitzen nur Verrückte. Hysterische Schauspieler.»

«Das sind sie ja auch, oder?», fragte er trocken. Als sie aufbegehren wollte, meinte er: «Was glaubst du, wie oft die Polizei schon dort oben war, weil jemand seine goldene Pillendose verlegt hat? Oder ein Mordkomplott witterte? Magda, die alten Leutchen haben ihr Leben lang auf der Bühne gestanden. Im Mittelpunkt. Die meisten haben keine Familie, keine Kinder. Sie langweilen sich. Also inszenieren sie ihre eigenen Dramen. Deshalb ist es doch so heilsam, dass sie bei uns den Sturm machen.»

Resigniert sah sie ihn an. Seine Hände lagen wie etwas Fremdes ineinander verschränkt auf dem Tisch. Kindermör-derhände. Jedes Mal fiel ihr dieses Wort ein, wenn sie seine zu großen, klobigen Hände mit den breiten Fingerkuppen und schwarzen Härchen bis zu den Nägeln sah. Hände, die so gar nicht zu seiner hageren Gestalt passen wollten, nicht zu dem gutmütigen Blick hinter den dicken Brillengläsern.

Als hätte er ihre Gedanken gespürt, versteckte er seine Hände unter dem Schreibtisch. Weg von ihren Blicken.

«Du willst mir also auch nicht helfen?», fragte sie traurig.

«Ich glaube, du machst dir unnötige Sorgen», antwortete er ruhig.

«Das glaube ich nicht. Und ich verspreche dir, dass ich nicht untätig herumsitze und zusehe, bis Tante Gisela etwas zustößt. Wenn etwas faul ist, kriege ich das raus. Egal, ob ich das Altenheim oder euer Theater aufmischen muss.»

Damit drehte sie sich um und ging.

Nachdenklich sah der Geschäftsführer zur geschlossenen Tür. Ein guter Abgang, das musste er ihr lassen. Er griff zum Hörer und wählte. Als er die Verbindung hatte, sagte er kurz: «Magda war gerade bei mir. Sie macht Ärger. Es wird Zeit, dass wir etwas unternehmen.»

Die letzte Rolle

Подняться наверх