Читать книгу Die letzte Rolle - Madeleine Giese - Страница 9
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Оглавление«Und – eins und zwei und Dreeehung, eins und zwei und Dreeehung, eins und zwei ...»
Schweißtropfen liefen ihr den Rücken hinunter, tropften von ihrer Stirn und lösten die Wimperntusche, die ihr brennend in die Augen lief. Hastig blinzelte sie, ignorierte den Schmerz und versuchte, sich weiter auf die Stimme zu konzentrieren.
«... eins und zwei und Dreeehung, eins und zwei und Dreeehung ...»
Ein schwitzender Körper wirbelte auf sie zu. Ihre Augen tränten. Egal. Gewichtsverlagerung. Denk an den Sprung.
«... eins und zwei ...»
Mit ausgestreckten Armen griff der Tänzer ihr unter die Achseln.
Mist. Die Arme vergessen.
«... Dreeehung, eins und zwei ...»
Sie fühlte, wie ihr der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Der Sprung. Sie hatte den Absprung vergessen. Wie ein Mehlsack hing sie in den Armen des Tänzers.
«Stopp, stopp, stopp», forderte die unerbittliche Stimme.
Der Choreograph am Ende der Tanzfläche klatschte genervt in die Hände. Der Tänzer, der sie hochgehoben hatte, ließ sie unsanft auf die Erde zurück.
Magda stützte die Hände auf die Oberschenkel und japste nach Luft. Jeder Atemzug schmerzte. Ihre Beine waren tonnenschwer. Die Achselhöhlen brannten von dem plötzlichen Druck. Dieser Idiot hatte ihr bestimmt die Arme ausgerenkt. Wieso vergaß sie nur dauernd diesen blöden Absprung? Ein Luftzug streifte die warmen Schweißperlen auf ihrem Körper und ließ sie frösteln.
«Wieso schon wieder nicht vorbereitet? Wieso?»
Erregt fuchtelte Vlad Burmistov mit den Armen. Magda blieb in ihrer Kauerstellung und schloss die Augen. Wenn er sich aufregte, wurde sein Deutsch der reinste Schmonzes. Sollte er doch schreien. Sie musste erst mal wieder Luft bekommen.
«Musik macht TaTaTaTa ... Alexej macht Kreis um dich. Nächstes TaTa, er greift unter Achseln. Arme auf, Magda! Dann TaTaTaTa, du springst, er hebt. Dann TaTaTa ...»
TaTaTa – als ob sie das hören würde. Sie hörte nur ihre schmerzenden Füße schreien.
«Wie oft ich sage: Vorbereitet sein? Wie oft? Konzentration.»
«Wie oft ich sage: bin Schauspielerin. Keine Tänzerin», fuhr sie hoch.
Getroffen biss er sich auf die Unterlippe. Sie hätte ihn nicht nachmachen sollen.
«Du bist ein Mensch, Magda?», fuhr er betont ruhig fort. «Du kannst hören? Du kannst gehen? Also kannst du springen bei TaTaTaTa.»
«Klar. Und beim nächsten TaTaTaTa steh ich an der Rampe und rezitiere zarte Liebesgedichte. Und dabei keuche ich wie ein Walross und schwitze wie ein Stier. Klasse.»
«Ist gut. Ist Leidenschaft.»
«Ist Quatsch! Ist russisches Melodram, Vlad.»
Sie könnte sich ohrfeigen. Warum machte sie ihn nur dauernd nach? Weil sie wusste, dass es ihn verletzte. Sie war eine blöde Zicke. Eine Schauspiel-Diva. «Entschuldige bitte, Vlad. Ich bin doch ein Elefant zwischen Elfen. Ich kann mir Texte merken. Aber Schritte merken ...»
Seine mandelförmigen Augen zogen sich beim Lächeln zu kleinen Schlitzen zusammen. Mit elegantem Schwung drehte er sich in die Bühnenmitte. «Probe für Tänzer beendet. Unter die Dusche mit euch. Magda bleibt.»
Alexej, Elena und Nadja, die während der Unterbrechung weiter Schritte ausprobiert oder sich gedehnt hatten, applaudierten dem Choreographen. Der Dank für die Probe.
Einem Regisseur applaudieren. Höchstens bei der Premiere. Zusammen mit dem Publikum. Und nur dann, wenn die Arbeit wirklich außergewöhnlich war. Aber nach jeder Probe, wie diese Tänzer? Eigentlich sehr höflich.
Sehnsüchtig sah sie ihnen zu, wie sie aus den Seitenbühnen ihre Handtücher holten und sich auf den Weg nach draußen machten.
Wie gern wäre sie mitgegangen. Eine Dusche. Bei dem Gedanken an warmes Wasser auf ihrem müden Körper seufzte Magda auf. Wenn Vlad sie dabehielt, hieß das Einzelprobe. Sie konnte sich nicht vorstellen, sich jemals wieder zu bewegen.
Der Ballettsaal wirkte riesig. Der polierte Tanzboden war ein braun schillernder See, der uferlos im Halbdunkel der Dachschrägen verschwand. Umflirrt nur von kleinen Staubkörnchen, die in der Vormittagssonne tanzten. Mit sanftem Schmatzen fiel die gepolsterte Tür ins Schloss.
Vlad Burmistov ging über die Tanzfläche und schaltete den Kassettenrecorder ein. Ein einsames Cello füllte den Raum.
Vom Rand der Tanzfläche lächelte er sie an. «Du musst die Schritte nicht merken, Magda. Du musst sie fühlen. Tanz ist wie Text. Wie Malerei, wie Gesang. Es kommt von innen.»
Wie ein Panther kam er auf sie zu. Drehte sich. Tanzte. Dabei flüsterte er: «... eins und zwei und Dreeehung, Bewegung fließt, siehst du? Dreeehung. Arme ein Bogen, siehst du? Dreeehung, eins und zwei und Dreeehung ...»
Groß und geschmeidig tanzte er um sie herum, erklärte, zeigte. Alles mit derselben flüsternden Stimme im Takt des Cellos. Wie in Zeitlupe sah sie jeden seiner Muskeln einen Impuls an den nächsten senden, bis alles in einer perfekten Bewegung zusammenfloss. Bezähmte Kraft. Seine schwarzen, dichten Haare schimmerten im Licht fast bläulich. Sie schluckte.
Er wirbelte auf sie zu. Schob seine Arme unter ihre Achseln. Sie sprang.
Der Saal drehte sich. Sie flog. Im Rücken spürte sie seinen warmen Körper. Zusammen wirbelten sie mit dem Geistercello durch den Raum.
Sanft setzte er sie ab. Sie wollte nicht, dass er sie losließ. Und voll Sehnsucht nach dem Weiterfliegen begann sie mit klarer Stimme:
«... wo sich berühren Raum und Zeit,
Am Kreuzpunkt der Unendlichkeit –
Wie Windeswehen in gemalten Bäumen,
umrauscht uns diese Welt, die wir nur träumen.»
Mit ihrem letzten Wort verstummte auch das Cello.
Vlad Burmistov klatschte in die Hände. «Siehst du, Magda. Es geht. Ohne Keuchen und Zählen. Tanz und Text sind zusammen wie rechte und linke Hand.» Damit hob er seine fest verschränkten Hände über den Kopf und machte ein triumphierendes Siegeszeichen.
Befreit lachte sie auf. «Das war schön.»
«Weil du nicht dauernd denkst: Mache ich alles richtig? Weil du Sorgen an der Probentür abgibst. Wie lange bist du beim Theater, Magda? Zwanzig Jahre? Du weißt es. Geldsorgen? Dein Kind ist krank? Heimweh, Schmerzen, alles Dreck während der Probe.»
Auf einmal spürte sie wieder das Gewicht ihrer Glieder. Tonnenschwer zogen ihre Beine sie nach unten, und sie ließ sich auf den Boden plumpsen.
«Manchmal geht das eben nicht. Alles vergessen. Sich nur auf den Moment zu konzentrieren», murmelte sie müde.
Der Choreograph kniete sich zu ihr und hob vorsichtig eins ihrer ausgestreckten Beine an. Mit geübten Griffen begann er, ihr Bein zu schütteln und die Muskeln zu lockern. Entspannt lehnte sie sich zurück.
Nach einer Weile fragte er: «Was sind deine Sorgen?»
«Meine Tante. Diese toten Frauen. Das Altenheim. Der Sturm. Du weißt, dass Tante Gisela den Ariel spielt?»
Er nickte, ohne sie anzusehen oder seine Tätigkeit zu unterbrechen.
«Die ganze Zeit sagt sie, sie will nicht mehr spielen. Und jetzt muss es unbedingt dieser verflixte Ariel sein. Ich verstehe einfach nicht, warum sie so scharf darauf ist, in diese Produktion einzusteigen.»
«Vielleicht weil du an diesem Theater spielst? Ist vielleicht eine Herausforderung?»
«Quatsch», schnarrte Magda unwillig.
Der Choreograph winkelte ihr Bein an und klopfte die Wadenmuskeln ab.
«Wenn ich nur nicht so überzeugt wäre, dass diese drei toten Ariels kein Zufall sind. Aber damit steh ich ziemlich alleine da ...»
«Mit Elsa», sagte der Mann vor ihr.
Richtig, die verrückte Elsa. Nicht gerade die ideale Verbündete.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte der Tänzer: «Elsa ist nicht verrückt. Sie ist nur manchmal in anderer Wirklichkeit.»
So konnte man es auch sehen, aber sie hatte keine Lust, darüber zu diskutieren.
«Das Theater hat viele Probleme», fuhr er fort. «Der Sturm ist ganz wichtige Produktion. Zu viele Erwartungen. Geld, Reputation, Erfolg. Das ist nicht gut. Zu viele Emotionen bei diesem Stück.»
Nachdenklich nahm er sich ihr anderes Bein vor. «Kein Geld für Kultur in Deutschland. In so einem reichen Land. Ich verstehe das nicht. In Russland, so viele sind arm und hungrig. Aber trotzdem auch hungrig nach Kultur. Und hier?» Er machte eine wegwerfende Bewegung. «Alle satt.»
Vielleicht bildete sie sich die Probleme auch nur ein. Der Mann vor ihr hatte wirklich welche. Kam irgendwo aus der sibirischen Steppe. Hatte eine Karriere hinter sich. Und lebte jetzt hier. In einem fremden Land, einer fremden Kultur mit einer fremden Sprache.
«Für dich und deine Tänzer ist das bestimmt nicht leicht», sagte sie leise. «Vom Moskauer Staatsballett an so ein popeliges Privattheater.»
«Nein, ist gut», unterbrach er sie. «Schönes Theater. Hat sogar einen Ballettsaal. Und ich kann Choreographien machen, wie ich will. War in Moskau nicht möglich. Immer nur klassisches Ballett. Wir können arbeiten. Können tanzen. Das ist wunderbar.»
Beschämt sah sie ihn an. Er hatte ja Recht. Sie könnte ruhig auch ein bisschen dankbarer sein, spielen zu dürfen.
«Du liebst Tante Gisela?», fragte er unvermittelt.
«Sie hat mich großgezogen. Als meine Eltern starben, hat sie mich zu sich genommen. Ist wegen mir hier am Stadt-theater hängen geblieben. Mit einem kleinen Kind am Hals machst du keine Karriere. Dauernd umziehen und Schulwechsel sind da nicht drin.»
«Hat sie dir erzählt?»
«Das musste mir niemand erzählen, das hab ich gewusst. Sie war so begabt. So schön.»
«Du bist auch begabt. Und schön.»
Lachend stupste sie ihn mit ihrem Fuß vor die Brust. Lachend ließ er sich fallen, rollte mit elegantem Schwung über die Seite und landete auf allen vieren vor ihr. Spielerisch hob er seine Hand und stieß sie wie mit einer Tatze um. Sie ging ebenfalls in Tierhaltung und fauchte ihn an. Er wich aus. Sie kicherte: «Ich bin nicht schön.» Sie stupste ihn in die Seite: «Ich bin ein hässliches Entchen», ein neuer Stoß: «Eine alte Hexe.» Sie krümmte ihre Finger zu Krallen und versuchte, ihn zu erwischen. Aber er war schneller und wich zur Seite aus.
«Und jetzt kommt die Todeswaffe. Der Blick der Medusa», rief sie und schielte ihn an.
Er lachte so heftig, dass sie ihn erwischte und sich über ihn warf.
Mit beiden Armen umschlang er sie, drückte sie fest an sich und rollte mit ihr auf die Seite.
Seine Augen waren fast schwarz. Fasziniert versuchte sie, die Trennung zwischen Pupille und Iris zu sehen. Im Saal war nur ihr schweres Atmen zu hören.
Nach endlosen Sekunden sagte er mit belegter Stimme: «Sei vorsichtig, Magda. Ist Böses hier im Theater. Nicht gut für dich.»
Erschrocken ließ sie ihn los.
Ohne sich zu bewegen, flüsterte er: «Tom und Ernst. Freunde von dir? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.»
Sie setzte sich aufrecht und fragte laut: «Wie meinst du das, Vlad?»
Als würde er einen Traum abschütteln, setzte er sich ebenfalls auf und sagte in den Saal: «Ich weiß nicht. Ein Gefühl. Ein Gespür. Ich bin Burjate, du weißt. In Sibirien, am Rand der Mongolei, Leute haben oft zweites Gesicht.»
Irritiert sah sie ihn an. Ein übersinnlicher Choreograph. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.