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1998

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Saskia blickt immer wieder hoch zur Zimmerdecke. Sie ist makellos weiß, ohne Fugen und Flecken. Nicht einmal ein Fliegenschiss ist drauf. Für Saskia ist diese weiße, glatte Fläche genau das Richtige, um ihre Träume zu bändigen und ihre Gedanken zu sammeln. Sie ist froh, die Operation gut überstanden zu haben und stört sich nicht an dem Infusionskabel an ihrer Hand. Wie schnell alles gegangen war! Vorgestern noch die Super-Party auf Isabells Geburtstag. Die Musik war umwerfend, ihr Bruder wirklich ein guter DJ. Und Marc, der war ein bisschen peinlich. Nur weil sie nicht dauernd mit ihm getanzt hatte, ließ er sich volllaufen. Eklig war das. Über die Köpfe der Paare hatten Isabell und sie sich beim Tanzen angefeixt. Mit ihr verstand sie sich wirklich super. Wie schnell hatte sie letztes Jahr vergessen, dass sie ihr Ralf ausgespannt hatte. Jetzt waren es nur noch zwei Monate bis zu ihrer großen Reise in die USA. Was hatten sie Glück, in derselben Stadt einen Studienplatz bekommen zu haben. Nur ist jetzt mal was dazwischen gekommen, so eine Geschwulst. Drei Wochen hatte der Arzt ihr heute bei der Visite gesagt, dann würde sie den Bauchschnitt kaum mehr merken. Aber blöd findet sie es schon, dass sie am Ende der Party umgekippt ist. Wie die Leute alle um sie herumstanden! Doch sie bleibt nicht lange bei diesen Bildern.

Viel schlimmer war es für sie vor einem Monat. Saskia konnte seither nie einschlafen, ohne noch einmal daran zu denken. Die Beerdigung war grauenhaft. Ihre liebe Omi wurde einfach in die Erde versenkt. Niemanden hatte sie auf der Welt so geliebt wie sie. Ihr konnte sie immer alles erzählen; sie konnte wunderbar zuhören und trösten. Wieder schaut Saskia unverwandt an die Decke, als ob sie hofft, dort ihre Omi wiederzusehen. Plötzlich hört sie draußen Schritte. Eine Schwester kommt herein, um die Infusion zu wechseln. Wieder Stille. Saskia bewegt sich vorsichtig im Bett, die Schmerzen haben wieder begonnen. Fast unmerklich lächelt sie, als sie sich ausmalt, wie Isabell und ihr Vater sie morgen vielleicht besuchen werden. Papa sicher mit einem großen Blumenstrauß und Isabell mit einem ihrer Lieblingsbücher. Bald wird dies hier überstanden sein, spricht sie sich nun selbst Mut zu.

Der geliebte Vater taucht schon früh in ihrem Zimmer auf, allerdings bewegt er sich nicht so resolut wie sonst, sondern setzt seine Schritte behutsam, fast ängstlich. „Es geht schon ganz gut“ sagt Saskia lächelnd, ohne dass er sie nach ihrem Befinden gefragt hat. Der Vater drückt einen Kuss auf ihre Stirn, rückt einen Stuhl an ihr Bett, nachdem er sein Jackett über die Lehne gestreift und sich die Krawatte gelockert hat. „Hast du schon Einzelheiten über die OP erfahren?“ fragt er dann. „Der Arzt hat nur gesagt, dass die Operation gut verlaufen ist und wir in einer Woche mehr wüssten.“

„So ist das wohl,“ entgegnet der Vater. Dabei muss er einen Sekundenbruchteil sorgenvoll ausgesehen haben, denn Saskia fragt nun: „Was Schlimmes kann es doch nicht sein, oder?“

„Du brauchst wegen der Geschwulst überhaupt keine Sorgen zu haben, weil du noch so jung bist. Deine Omi war über 70, als es bei ihr auftrat. Übrigens hat Isabell gestern angerufen. Sie wird dich heute bestimmt besuchen. Ich glaube, sie hat gestern ihren Sprachtest bestanden.“

Beide plaudern nun fröhlich über die bevorstehende Zeit in den USA.


Eine Woche später taucht der Vater erst nach der Arbeit im Krankenhaus auf. Er will dabei sein, wenn der Oberarzt wie angekündigt Saskia über ihren Befund informieren wird. Saskia kommt ihm schon auf dem Flur entgegen. Der blauseidene Kimono steht ihr ausgezeichnet. Er passt zu ihren natürlichen blonden Locken und ihren blauen Augen und deutet dezent ihre weibliche Figur an. Auch wenn sie noch etwas bleich ist, zieht sie auch hier – mitten in dem unruhigen Medizinbetrieb – viele Augen auf sich. Sie begrüßen sich herzlich und verschwinden in ihrem Privatzimmer.

„Aufgeregt?“ beginnt der Vater das Gespräch. „Nicht richtig,“ beruhigt ihn Saskia. Nach einer kleinen Weile betritt der Oberarzt den Raum. Er wirkt abgespannt nach seinem langen Operationstag und bittet Saskia und ihren Vater in der Sitzecke Platz zu nehmen, während er sich selbst auf die Kante ihres Bettes setzt. In der Hand hält er ein paar beschriebene DIN A-4 Seiten.

„Ich bin selbst sehr überrascht über das Ergebnis“ beginnt er. So früh taucht diese Krebsart nur äußerst selten auf. Es tut mir sehr leid für Sie.“ Dabei schaut er Saskia gerade ins Gesicht. Saskia reißt ungläubig die Augen auf. Sie hört nur das Schlucken ihres Vaters neben ihr.

„Man kann operativ heute natürlich eine Menge machen. Das Entscheidende ist, dass Sie ganz dichtmaschig kontrolliert werden müssen, damit man jeden neuen Tumor sofort entdecken kann.“

Saskia bedeckt mit beiden Händen ihr Gesicht, aber gibt keinen Ton von sich.

„Ein längerer Auslandsaufenthalt ist dann wohl nicht mehr möglich, oder?“ lässt sich der Vater nun vernehmen.

„Wohl kaum. Ihre Tochter muss sich jetzt auch gleich mehreren Untersuchungen unterziehen, um Metastasen auszuschließen. Das kann noch ein paar Tage dauern. Der vorgesehene Entlassungstermin muss verschoben werden. Danach muss sie alle 3 Monate durchgecheckt werden. Tut mir wirklich sehr leid.“

Saskia spürt die Hand des Vaters auf ihrer Schulter und hört dann wieder die Stimme des Arztes. „Wenn Sie noch Fragen an mich haben, melden Sie sich gern bei mir. Ich muss mich verabschieden, weil ich die Visite fortsetzen muss.“ Sie hört das Schließen der Tür und die sich entfernenden Schritte draußen. Obwohl sie weiß, dass ihr Vater sehr leidet, will sie ihn jetzt nicht bei sich haben. Sie will allein sein mit der schlimmen Nachricht.

„Papa,“ beginnt sie, „nimm es mir nicht übel, ich muss das jetzt erst einmal ganz allein verarbeiten. Du brauchst es ja Mutter und Helge nicht gleich zu sagen. Ich könnte ihr angebliches Mitleid im Moment nicht ab. Bis morgen!“

Der Vater steht noch unschlüssig da, wendet sich aber dann mit schweren Schritten der Tür zu.

Saskia ist in dem Besucherstuhl sitzen geblieben und starrt unentwegt auf den Platz, auf dem eben noch der Arzt gesessen hat. ‚Aus! Alles aus!‘ sagt es in ihr. ‚Ich glaub es nicht. Es ist nur ein Traum‘ geht es weiter. ‚Doch, es stand auf diesem weißen Papier. Aber so krank fühle ich mich doch nicht! In Amerika haben sie auch gute Ärzte. Dann überprüfen sie mich halt da. Ich lasse mir doch nicht alles versauen!‘ Langsam erhebt sie sich vom Stuhl und geht vor ihrem Bett hin und her. Sie achtet nicht darauf, dass sie mit ihren graziösen Pantoffeln über den Boden schlurft. ‚Dann soll ich also zig mal operiert werden und muss am Ende früh sterben. Gibt es doch nicht! Gibt es doch! Ob Isabell ohne mich fahren wird? Sie wird genauso geschockt sein wie Papa. Ich würde ihn gern trösten, aber wie denn? Und Mama? Sie würde sich bei meiner Beerdigung sicher den schönsten Hut, der in Hamburg auffindbar ist, kaufen. Dann wird sie endlich die Schönste in unserer Familie sein! Ich weiß, ich bin jetzt ungerecht, aber als sie mich hier letztes Mal besucht hat, hat sie mir den hübschen Kimono und die elegantesten Pantoffeln mitgebracht, die sie finden konnte. Es geht immer nur um Schönheit. Alles andere schien ihr nicht wichtig zu sein. Hat sie den Ernst meiner Krebserkrankung nicht begriffen? Na ja, die beiden Sachen werden sich nun amortisieren, wenn ich noch so oft operiert werden muss! Saskia versucht eine Welle der Bitterkeit, die sich in ihr ausbreitet, zu stoppen. Selbst ihr Speichel ist inzwischen bitter geworden. Sie legt sich vorsichtig ins Bett und zieht die Decke bis über ihre Nasenspitze.

Unverfroren

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