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ОглавлениеGeorg hatte nur noch zwei Jahre warten müssen, bis das Ungeheuerliche möglich schien. Wieder traf er wohlüberlegt einige Vorkehrungen. Um hohe Kosten aufbringen zu können, verkaufte er sein Haus auf Amrum, die anderen Immobilien behielt er aber aus gutem Grund. Als Yvonne ihn auf den Verkauf ansprach, meinte er nur, sie sei ja schon zwei Sommer nicht mehr auf der Insel gewesen, deshalb sei es an der Zeit zu verkaufen. Da das Haus in ausgezeichneter Verfassung sei, würde er sicher bald einen Käufer finden. Yvonne hatte dem nichts mehr entgegenzusetzen. Wenn sie gewusst hätte! Als nächstes erkundigte er sich nach Darmkrebsspezialisten und nach einer guten Physiotherapeutin, die auch zu einem Ortswechsel bereit wäre. Nach ein paar Monaten war es so weit.
Georg ist tatsächlich für ein Stündchen eingenickt. Schon zeigen die Lämpchen über ihm den Landeanflug an. Die Lautsprecheranlage über ihm schnarrt so sehr, dass er die englische Ansage der Stewardess gar nicht versteht. Wozu auch? Als Vielflieger kennt er sich aus. Diesmal steigt er in einem Mittelklassehotel in der Nähe des Instituts ab. Als er auf seinen Koffer beim Gepäckband wartet, kann er das Zittern seiner Hand nicht unterdrücken. Morgen wird er erst einmal ein Gespräch mit dem Leiter des Instituts haben, der gleichzeitig Internist ist. Acht Leute sollen in dem Institut schon aufgetaut worden sein, aber nur einer habe einen Monat überlebt. Wird sie so bald noch einmal sterben müssen? fragt er sich immer wieder?
Am nächsten Morgen muss er erst einmal etliche Formulare unterschreiben, in denen nicht nur die Bezahlung festgelegt wird sondern er auch aufgefordert wird, für den Eingriff in Vertretung der Klientin die Verantwortung zu übernehmen. „Eingriff“ nennen sie das! Den Bürokraten fällt auch nichts besseres ein, mokiert er sich.
Der Direktor, ein Mann in den Vierzigern, begrüßt ihn freundlich und erklärt ihm das bevorstehende Verfahren. Um die Körperzellen zu schonen müsse man über mehrere Tage das Auftauen hinziehen. Und dann fasse man sich als Beobachter bitte in Geduld! Die menschlichen Funktionen würden erst nach und nach wieder zurückkommen.
„Kann ich mir schon vorstellen,“ will Georg die Ausführungen abkürzen, etwas, das er später bereuen sollte.
„Wir sind selber sehr gespannt in diesem Fall. Sie ist mit Abstand die Jüngste unserer Klienten. Das kann vieles vereinfachen.“ Mit diesen Worten verabschiedet sich der Direktor. Anscheinend hat er es eilig.
Ehe er sich’s versieht, steht Georg wieder draußen vor der Tür. Immerhin sieht er die Tür des Sekretariats, wo er fragt, wann man mit dem Auftauen beginnen wolle. „Morgen früh“, ist die kurze Antwort.
„Was soll ich bloß machen in dieser mittelgroßen Stadt, in der ich niemanden kenne und in der mich nichts reizt. Drei bis vier Tage werden sie brauchen, bis sie Normaltemperatur erreicht haben. Drei bis vier Tage bangen Wartens. Wie schon so oft, würde er so gern mit jemanden darüber reden. Er geht in Restaurants, den Zoo und ins Kino, um die grausame Zeit totzuschlagen. Am vierten Tag wird er im Institut erwartet. „Denken Sie dran, erwarten Sie nicht zu viel,“ ruft ihm der Direktor noch zu, bevor er den Auftauraum betritt. Bleich und regungslos liegt Saskia vor ihm auf einer breiten Liege. Georg ist merkwürdig berührt, als er sie sieht. Ihm wird jetzt erst bewusst, dass er sie noch nie als junge Frau nackt gesehen hat. In der Mitte des Brustkorbes entdeckt er eine Wunde, die mit drei Klammern zusammengehalten wird und aus der ununterbrochen ein Sekret herausfließt. Georg wendet sich angeekelt ab, aber kurz danach heftet er wieder seinen Blick auf ihren Körper. Wie schön ihr Gesicht noch immer ist! Zwei Assistenten in grünen Kitteln bringen Auftauwasser weg und befestigen Elektroden an Kopf und Brust, die kleine elektrische Impulse aussenden sollen. Der Kleinere von ihnen löst die Klammern, versorgt und verbindet die große Wunde. Dann stellen sie sich beide an die Liege und warten ab.
„Klappt schon!“ sagt plötzlich der große Breitschultrige. „Das Herz fängt an zu klopfen.“ Georg ist nass geschwitzt vor Aufregung und starrt auf seine Tochter. Plötzlich bricht Saskia in wilde Zuckungen aus und stößt einen urtümlichen Schrei aus. Georg schrickt zusammen. „Oh Gott,“ denkt er. „Hoffentlich ist sie durch die Prozedur nicht in ein Monster verwandelt worden. Ist ja grauenhaft.“ Die Zuckungen und das Schreien setzen sich indessen fort. Der Breitschultrige nähert sich schließlich Georg und fragt:“Hat Sie der Chef nicht darauf vorbereitet?“ Dann legt er eine Hand auf eine Schulter von Georg und meint: „Keine Angst, das gibt sich bald. Das Gehirn muss erst wieder die Motorik koordinieren lernen.“ „Und das hört wirklich auf?“ fragt Georg sichtlich besorgt. „Glauben Sie mir nicht?“ grinst ihn der Assistent an.
Das Schlimmste ist tatsächlich nach einer Stunde vorbei. Saskia wird ruhiger und schlägt die Augen auf. Aber wie sollte es anders sein, sie erkennt ihren Vater nicht. “Bis die Erinnerungen wiederkommen, dauert es länger. Kann sein, dass sie alles von vorn lernen muss,“informiert ihn wieder der Assistent. „Sie müssen wissen, wir haben ja noch keine Langzeiterfahrungen mit den Aufgetauten.“
Georg ist auch diesmal nicht in der Lage, diese Informationen aufzunehmen. Ihm wird schwindlig. Gestützt auf die beiden Assistenten verlässt er schwankend den Raum.
Schon in den nächsten Tagen wird Saskia überführt in ein Rehabilitationszentrum. Hier ist man geschult, Patienten nach schweren Unfällen wieder zu mobilisieren. Saskia erhält jeden Tag eine Infusion in ihr Lymphsystem, mit der allmählich die Kühlflüssigkeit durch normales Wasser ersetzt werden soll. Auch das soll sich über Wochen hinziehen. Doch der Schwerpunkt der Behandlung liegt auf der Aktivierung ihres Bewegungsapparats. Behutsam werden Saskias Muskeln der Arme, Beine und des Halses bewegt. Dann machen sich eine Logo- und eine Atemtherapeutin ans Werk. Da sie das Englische noch nicht wieder versteht, machen die beiden Therapeutinnen ihr alles mit Gesten vor und fordern sie dann auf, es nachzumachen. Erstaunlicherweise begreift Saskia die Maßnahmen rasch und macht daher bald Fortschritte. Der Direktor des Kryonikinstituts taucht nach zwei Wochen schon im Rehazentrum auf, um sich persönlich von der Entwicklung zu überzeugen. Nach drei Wochen war bisher keiner der Aufgetauten schon zu Sprechversuchen und tiefen Atembewegungen in der Lage. Vor dem Einfrieren seien wohl nur ihre inneren Organe geschädigt gewesen und ihr Gehirn müsse noch ganz intakt gewesen sein. So erklärt er sich die ungewöhnlichen Fortschritte. „Sie hat bisher die beste Prognose von unseren Klienten“, erklärt er Georg. „Das heißt natürlich nicht, dass sie schon bald wiederhergestellt sein wird,“fügt er dann hinzu, als er sieht, mit welcher Freude Georg auf seine Botschaft reagiert.
Georg wirft das nicht mehr um. Das Schwierigste ist überstanden, der Rest wird sich finden, sagt er sich. Er sei jetzt im Ruhestand und wolle warten, bis sie besser sprechen und aufrecht gehen könne. Die weitere Aufbauarbeit könnte dann in seinem Haus auf Ibiza geleistet werden. Yvonne mailt er, sie könne noch ein wenig länger in der Karibik Urlaub machen, seine eigene Reise zöge sich noch hin und zum Schluss, schreibt er, was er schon lange nicht mehr getan hat: “Es grüßt und küsst dich Georg“. Ab jetzt will er auch wieder ans Mobiltelefon gehen, um normale Kontakte zu ermöglichen. Ein paar Wochen später kehrt er zurück nach Hamburg und macht sich sofort daran, sich um das erforderliche medizinische Personal für seine Tochter zu kümmern. Natürlich weiht er auch jetzt seine Frau und seinen Sohn nicht ein. Als er jetzt – mitten im Sommer - an der Elbe spazieren geht, kommt ihm plötzlich der Gedanke, er habe alles in Amerika nur geträumt. Erst als er in seiner Brieftasche die Zahlungsbelege für das Institut und das Rehazentrum findet, glaubt er wieder, dass er das Unglaubliche wirklich in den letzten fünf Wochen erlebt hat. Er schüttelt lächelnd den Kopf. Niemand wird es mir glauben. In seinem Arbeitszimmer zuhause wieder angekommen, denkt er ganz sachbezogen an die nächsten Hürden. Wie soll er eine in Hamburg beerdigte Frau als lebenden Menschen ohne gültigen Pass wieder nach Deutschland bringen? Darüber hatte er vor Jahren nicht nachgedacht. Und was hatten sich nach dem 11. September 01 die Ein-und Ausreisekontrollen verschärft! Im Institut konnten sie ihm auch nicht weiterhelfen, denn Saskia war ihre erste aufgetaute europäische Klientin. Nach langem Grübeln kommt er zu dem Schluss, dass Mitarbeiter des jetzigen Rehazentrums behaupten müssen, sie sei ohne Papiere eingeliefert worden und benötige dringend einen neuen Pass – als Amerikanerin, versteht sich. Sie müsse nach Europa fahren für eine weitere Heilmaßnahme. Man solle ein Passfoto von ihr machen und einen Beamten bitten, ihr die biometrischen Abdrücke in der Klinik abzunehmen. Zum Glück haben die Amerikaner ja keine Personalausweispflicht, das wird die Sache erleichtern. Sie wird herkommen als stumme Amerikanerin nach einem schweren Unfall. Und Georg wolle sie als alter Freund der Familie nach Spanien begleiten. Ihm beginnen die verwegenen Gedanken nun geradezu Spaß zu machen. Wäre doch gelacht, wenn wir dies nicht hinbekämen! Miss Saskia Shultz! Die Idee macht ihn richtig fröhlich. Aber als er weiter seinen Gedanken freien Lauf lässt, wird er wieder sehr ernst. Vielleicht lebt sie gar nicht mehr, wenn ich sie übermorgen Abend wiedersehe und womöglich wird sie ihr ganzes früheres Leben vergessen haben und mich nie wiedererkennen. Würde ich unter diesen Umständen weiter alles dran setzen, dass sie in unser Leben zurückkehrt, fragt er sich. Er spürt, wie Unsicherheit sich in ihm breit macht. Wie schrecklich egoistisch ich doch gewesen bin. Habe ich nicht alles nur für mich getan und nur vermeintlich für sie? Diese tiefen Zweifel begleiten ihn die ganze Nacht. Auch wachsen seine Skrupel Yvonne gegenüber. Ihr hat er seine ganze Hoffnung vorenthalten. Vielleicht habe er es sich auch zu einfach gemacht, indem er ihr Verhalten seit Jahren verachtete oder verteufelte, fragt er sich jetzt. Das Telefonat von gestern Nachmittag, das er unfreiwillig mit anhörte, gibt ihm immer noch zu denken.
„Kannst du mir nicht die Adresse deines Schönheitschirurgen geben? Ich bin ganz verzweifelt… Das kannst du nicht verstehen?... Aber hallo! Du bist 10 Jahre jünger und siehst noch sehr attraktiv aus. Ich mit meinen 64 Jahren finde mich entsetzlich, wenn ich mich im Spiegel ansehe… Nein, ich übertreibe nicht. Die Falten haben derartig zugenommen. Auch der Busen ist viel zu schlaff geworden. Sicherlich der Grund, warum ich Georg total gleichgültig geworden bin… Das glaubst du nicht? Er ist so oft wie möglich nicht zu Hause…Eine andere Frau? Komisch, das glaub ich nicht… Übrigens ist er nicht der einzige, dem ich egal bin. Meinst du etwa, auf der Karibikinsel hätte sich irgendein Mann mal nach mir umgedreht...Du fragst, warum Georg mich überhaupt geheiratet hat? Ich war wirklich hübsch früher, und er steht auf schönen Frauen. Zu Anfang waren wir auch ein Super-Paar… Du hast Recht. Das ist schon sehr lange her. Aber ich sage dir, wenn ich wieder hübscher aussehe, wird sich alles ändern. Ich kann ihm ja sonst nichts bieten.“ Daraufhin drang ein heftiges Schluchzen an sein Ohr.
Tief verunsichert und übernächtigt tritt er an den Frühstückstisch, an dem Yvonne schon Platz genommen hat. Er schaut aufmerksam in ihr Gesicht, sieht ihr Make-up und das breite Goldcollier um ihren Hals jetzt mit anderen Augen. Vielleicht ist es nicht nur ihre Luxussucht, sondern der angestrengte Versuch, die Anzeichen ihres Alters zu verbergen, fällt ihm jetzt ein. Das Knallrot ihrer Seidenbluse kommt ihm wie ein Hilferuf vor. Doch das gerade entstandene Mitgefühl hält sich nicht lange, sondern bald schaut er wieder auf sie wie auf eine lästige Fremde. Seine Vorbehalte haben sich schon seit Jahrzehnten in sein Bewusstsein gestanzt, sodass schon sehr viel geschehen müsste, bis sie sich auflösen.
Er schneidet sich ein Brötchen auf, lässt sich die Butter, die Marmelade und den Lachs reichen und zögert nicht, nach ein paar Floskeln über die jüngsten politischen Skandale sie wie vorbereitet anzulügen. Er müsse noch einmal in die Staaten, um ein Geschäft zu Ende zu bringen. „Das passt ja prima, ich wollte sowieso ein paar Wochen nach Ibiza, Du weißt doch, wie sehr ich das Mittelmeer liebe. Hast doch nichts dagegen?“ überspielt sie ihre kleine Enttäuschung, denn eigentlich hatte sie gehofft, er würde ein paar Tage länger in Hamburg bleiben.
„Natürlich nicht. Wenn es dir Spaß macht…“entgegnet er fast mit gelangweiltem Ton.
Als er seine Sachen packt, ist er nicht recht bei der Sache, und auf dem Weg zum Flughafen macht er um ein Haar einen Unfall. Erst im zweiten Flieger kurz vor der Landung im Mittelwesten der USA versucht er sich wieder zur Ordnung zu rufen. Er versucht höflich auf die übergewichtige Frau neben seinem Sitz beim Aussteigen zu warten. Irgendwann wird auch sie das Aufstehen geschafft haben. Ein Griff zum Handgepäck und dann trottet er hinter den anderen Passagieren dem Ausgang zu. Endlich wieder frische Luft. Auf dem Weg zum Flughafengebäude schaut er kurz zum Himmel hoch. Nicht ein Stern ist in der tief schwarzen Nacht heute zu sehen. Ein Gewitter ist im Anzug. Erste Blitze erleuchten die Nacht. Georg beeilt sich, bevor der Regen auf ihn niederprasseln wird. Wieder die lange Prozedur beim Immigrationsschalter und dann an den Gepäckbändern. In der Nacht scheint alles noch viel länger zu dauern. Zum Glück erwischt er danach ein Taxi, das ihn zum Hotel bringt. Sogar auf dem kurzen Weg zum Hoteleingang wird er noch ganz durchnässt. Er muss zweimal klingeln, bevor ein verschlafener Nachtportier ihm schließlich öffnet. Hoffentlich ist dieser unschöne Empfang nicht ein böses Omen, fragt er sich auf dem Weg zu seinem Zimmer.