Читать книгу Unverfroren - Madlen Jacobshagen - Страница 7
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ОглавлениеWochen und Monate vergehen. Der Winter hat schon angekündigt mit ersten Frösten, einmal sogar schon mit Schnee. Isabell ist inzwischen doch gefahren. Saskia ist auf dem Weg zu einer ganz normalen gynäkologischen Untersuchung. Nach längerem Warten wird sie schließlich hereingerufen und untersucht. „Was ist denn das?“ sagt die Ärztin, als sie in dem Stuhl liegt, den sie gar nicht mag. „Der linke Eierstock gefällt mir gar nicht. Begeben Sie sich so bald wie möglich nach Eppendorf zur Kontrolluntersuchung. Hoffen wir auf eine harmlose Zyste!“
Damit hat Saskia nicht gerechnet. Bisher war nur ihr Darm erkrankt. Als ihr Vater sie am nächsten Morgen ins Klinikum Eppendorf begleitet, sieht er sie einen Moment äußerst sorgenvoll an, bevor er ihr lächelnd Mut zuspricht. Wieder ist es Krebs, der so schnell wie möglich herausgeschnitten wird. Und wieder ist es der Vater, der sie als Erster nach der Op besucht. Leise und eindringlich fragt er Saskia nach ihrem größten Wunsch zu Weihnachten. Er wolle alles für sie möglich machen.
„Steht es so schlimm um mich?“ fragt ihn daraufhin Saskia.
„Ich muss dir gestehen, dass ich das denke. Ich habe inzwischen mit mehreren Ärzten gesprochen. Kapazitäten weißt du. Ihres Wissens gibt es in Deutschland bisher keinen Fall eines Lynch-Syndroms, bei dem der Krebs so früh aufgetreten ist. Vielleicht hast du auch zwei Krebsarten gleichzeitig. Jedenfalls breitet er sich rasant aus. Und deswegen habe ich in kurzer Zeit weiße Haare bekommen.“ Er schnäuzt sich ins Taschentuch, während Saskia Tränen in die Augen treten, und geht unruhig im Raum umher.
„Vielleicht gibt es ja ein Wunder und man findet ein Mittel, das ganze auszubremsen.“
„Glaubst du an Wunder?“
„Nicht so leicht, aber im tiefsten Herzen schon.“
Weihnachten darf Saskia zu Hause verbringen. Aber die Freude ist ihr abhanden gekommen. Sie fröstelt innerlich, schaut zu dem hübsch geschmückten Lichterbaum und denkt, dass sie ihn wahrscheinlich nächstes Jahr nicht mehr sehen wird. Helge hat sich nach der Bescherung gleich zu seinem Freund verabschiedet. Sie wollen abends in eine Disco gehen mit allen Weihnachtsspöttern zusammen. Yvonne hat sich heute selbst um das Menü gekümmert, weil ihre Hausangestellten frei haben. Es scheint für sie nichts Wichtigeres als das Essen zu geben. Festlich angezogen serviert sie Mann und Tochter die Speisen, die einsilbig und offenbar mit wenig Appetit im Essen stochern.
„Georg, kannst du dich nicht mal um die Musik kümmern?“ fragt Yvonne.
Georg erhebt sich schwerfällig und legt die Weihnachts-CD auf, die im letzten Jahr Beifall gefunden hat.
An diesem Heiligen Abend ändert sich nicht mehr viel. Alle essen stumm, helfen beim Abräumen und hören ebenso still einer weiteren Weihnachtsmusik zu. Sie gehen ungewöhnlich früh ins Bett. Nur Yvonne hört spät in der Nacht ihren Sohn heimkommen.
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Saskia geht es im folgenden Jahr von Monat zu Monat schlechter. Sechs Operationen und eine starke Chemotherapie hat sie schon überstanden. Von ihren Freunden taucht niemand mehr am Krankenbett auf. Ihre Zuversicht ist Resignation gewichen. Sie wird immer bleicher und schwächer. Noch ein paar Wochen, noch ein paar Tage, dann wird es aus sein, denkt sie. Nur ihr Vater kümmert sich jeden Tag um sie, versucht sie aufzumuntern mit Sprüchen oder kleinen Geschenken. Er berichtet von langen einsamen Spaziergängen und gelegentlichen Besuchen in einer Kapelle, in der er inständig um ihre Heilung betet. Sie erfährt, dass er mehrere Ämter aufgegeben habe und in seiner großen Firma nur noch das Notwendigste erledige. Sie würde ihm so gern den Kummer ersparen und versucht in seiner Gegenwart immer so tapfer wie möglich zu sein.
Eines Tages im November sitzt er in der Klinik an ihrem Bett und sieht ausnahmsweise nicht so traurig aus. Irgendetwas muss ihm eingefallen sein.
„Saskia,“ beginnt er. „Was jetzt kommt, ist etwas ganz Schwieriges. Bist du ganz wach?“
„Natürlich, sag schon!“
„Die Ärzte haben mir im Vertrauen gesagt, dass du wahrscheinlich dieses Weihnachten nicht mehr erleben wirst.“
„Warum sagen sie es mir nicht selbst? Ich möchte doch wissen, wie viele Tage mir noch bleiben.“
„Lass gut sein. Sie meinen es nur gut. Aber ich habe mich inzwischen mit etwas ganz Verrücktem beschäftigt. Vielleicht ist das was für dich.“
„Willst du mich auf die Folter spannen? Au, entschuldige, es sind nur diese blödsinnigen Schmerzen.“
„Hier, nimm die nächste Tablette! Sag mir, wenn es anschlägt.“ Nach einer Weile meint Saskia: „Du kannst jetzt gern reden. Was führst du im Schilde?“
„Ich habe gelesen und es haben mir hier die Ärzte bestätigt, dass man dabei ist, an die genetischen Ursachen von Krankheiten heranzugehen. Jedes Jahr machen sie Fortschritte. In Tierversuchen hat schon vieles geklappt. Aber es dauert ja oft Jahrzehnte, bis sie taugliche Medikamente für den Menschen auf den Markt bringen.“
„Und?“
„Deine fürchterliche Krankheit ist erblich bedingt. Wenn man deine Gene reparieren könnte…“
„Papa, du träumst. Ich bin ja jetzt todkrank und nicht in Jahrzehnten.“
„Klar, du hast zur falschen Zeit diese fürchterliche Krankheit, aber vielleicht kannst du sozusagen eine Zeitreise in die Zukunft machen.“
„Papa jetzt spinnst du wirklich!“
„Saskia, du wirst bald sterben. Du weißt, wie traurig mich das macht. Aber es gibt einen Hoffnungsschimmer für uns beide.“
„Du meinst, wenn wir uns im Himmel begegnen?“
„Viel nüchterner: wenn du dich unmittelbar nach dem Tod einfrieren lässt und wir dich dann wieder auftauen, wenn die Medizin so weit ist.“
„Das meinst du doch nicht im Ernst!“
„ Aufgetaute Embryonen haben schon wunderbare Menschen gegeben. Und man hat vor kurzem einen Weg gefunden, die sogenannte Vitrifikation, die es möglich machen soll, dass das Körpergewebe beim Einfrieren nicht so beschädigt wird. Auch hier arbeitet man mit Hochdruck dran, die Schäden beim Einfrieren zu verringern.“
„Was sagt Mama denn dazu?“
„Ich habe sie natürlich nicht eingeweiht. Du weißt ja, wie sie ist.
Vielleicht kann ich dich in 15 oder 20 Jahren auftauen lassen und erlebe, wie du ganz gesund wirst. Das ist die einzige mir verbliebene Hoffnung.“
„Armer Papa“ Dabei richtet sie sich etwas auf und streichelt liebevoll seine Hand.
„Ich kann nichts mehr verlieren. Deshalb bin ich einverstanden,“sagt sie nach einer Pause.
„Dann werde ich mich so bald wir möglich um die Modalitäten kümmern. Das Einfrieren von Menschen ist nämlich in Deutschland verboten. Aber ich habe schon gehört, wie man dieses Verbot umgehen kann. Morgen, spätestens übermorgen sage ich dir Bescheid. Aber sag inzwischen niemand ein Wort darüber.“
Saskia lächelt, als sie ihren Vater sich aufrichten und raschen Schrittes der Tür zustreben sieht. Sie freut sich über sein Augenzwinkern. Wie in alten Zeiten, als sie noch ein Kind war, haben sie jetzt ein Geheimnis miteinander.
Saskia bekommt nicht mehr mit, dass ihr Vater schon Tickets nach Amerika für sich und sie gebucht hat. Er will sie dort in eine Klinik bringen, sie dort sterben lassen und sofort vor Ort ihre Präparation und Einfrierung in einem speziellen Institut veranlassen. Sie weiß nichts davon, mit welcher Mühe und Ausdauer sich ihr Vater Spezialkenntnisse über Kryonik, die Wissenschaft vom Einfrieren von Tieren und Menschen, besorgt hat. Sie erlebt auch nicht mehr die Vorbereitung für die große Millenniumfeier in Hamburg.
Als ihr Vater zwei Tage nach ihrem Gespräch in Eppendorf auftaucht, befindet sie sich bereits in bewusstlosem Zustand in der Intensivstation. Er zögert keinen Moment und leitet sofort ihren Transport mit lebenserhaltenden Infusionen in die USA ein. Alles verläuft nach Plan. Seiner Frau sagt er, dass er einen letzten Heilungsversuch mit Saskia unternehmen will. Wenn sie ihn auf dem Mobiltelefon anzurufen versucht, geht er nicht ran. Immerhin schafft er, es so zu organisieren, dass nur wenige Minuten nach ihrem Ableben die Vorbereitungen für das Einfrieren vorgenommen werden können. Als er das Institut verlässt, ist er einem Zusammenbruch nahe. Er hat tagelang nicht geschlafen und gegessen und schämt sich, seine Frau belogen zu haben. Im Hotel kramt er sich ein paar Kekse aus der Tasche und findet in der Minibar eine Flasche Wasser, die er gierig hinunterspült. Allmählich geht es ihm etwas besser und er setzt sich auf seine Bettkante und grübelt hin und her, was er Yvonne nun sagen soll. Wegen der Zeitverschiebung möchte er sie vor Mitternacht nicht anrufen. Noch bleiben ihm ein paar Stunden, in denen er ganz in Ruhe an seine geliebte Tochter denken kann. Das Gefühl der Hilflosigkeit übermannt ihn wieder. Sie ist tot. Weder die Medizin noch Gebete haben es verhindern können. Ihr Einfrieren ist der einzige Strohhalm, der ihm bleibt. Um nicht verlacht oder in Deutschland juristisch verfolgt zu werden, muss ihre kalte Ruhe sein strenges Geheimnis bleiben. Für lange, vielleicht für immer.
Yvonne würde ihn nie verstehen. Seit Saskia ein kleines Mädchen war, war sie eifersüchtig auf seine zärtliche Liebe zu dem Kind. Er muss ihr die Wahrheit verschweigen, leider. Als er merkt, er wird müde, stellt er sich den Wecker auf 0.30 Uhr und legt sich aufs Ohr. Bald ist er eingeschlafen.
Als der Wecker schrillt, weiß er erst gar nicht, wo er ist. Er tastet nach dem Ausstellknopf und geht langsam ins Bad. Eine Handvoll kalten Wassers im Gesicht hilft ihm weiter. Geradezu bedächtig nimmt er sich nun das Telefon vom Tisch und wählt die häusliche Nummer. Nach dem dritten Klingeln hört er ein unwilliges „Ja“.
„Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe, aber es ist ganz wichtig. Alle Mühe war umsonst. Heute morgen ist Saskia gegen 10.30 gestorben. Sie ist aus dem Koma nicht mehr aufgewacht. Die heilsversprechende Behandlung kam einfach ein paar Tage zu spät. Hallo, hörst du mich?“
„Klar höre ich dich. Du bist wie immer nicht zu überhören. Das arme Kind! Meinst du, sie hat noch Schmerzen gehabt?“
„Mit Sicherheit nicht. Trotzdem ist es entsetzlich!“
„Meinst du für mich nicht? Wenn man seinen Sonnenschein verliert?“
Kurze Zeit wird ihre Stimme brüchig.
Georg bleibt am Apparat, sagt aber nichts.
„Bist du noch dran?“
„Ja, ich muss jetzt nur umschalten auf das Sachliche. Den ganzen Nachmittag habe ich Formalitäten regeln müssen. Saskia hat mir kurz vor ihrer Bewusstlosigkeit in Eppendorf erklärt, man möge ihren Körper verbrennen, wenn es so weit ist. Das habe ich jetzt in die Wege geleitet. In zwei Tagen wird es geschehen. Das Amt hat mir gesagt, dass in zehn Tagen ihre Urne im Ohlsdorfer Friedhof ankommen wird, wenn nichts dazwischen kommt.“
„Ach, verbrannt wird sie. Du hast mir verschwiegen, dass sie das wollte!“
„Wir könnten die Trauerfeier etwa in 14 Tagen ansetzen. Weißt du, welcher Wochentag es ist?“
„Ich glaube Donnerstag. Dann müssen wir wohl auch auf unsere lange geplante Millenniumsfeier verzichten. Wie viele Leute ich dann noch anrufen muss! Und die Trauerfeier soll ich jetzt allein organisieren, während du dir schöne Tage in Amerika machst?“
„Yvonne, von schönen Tagen kann gar keine Rede sein. Wann begreifst du endlich, dass wir gerade ein Kind verloren haben?“ Dabei kann er ein Schluchzen nicht unterdrücken.
„Tschuldige. Sag lieber, wann du kommst.“
„Morgen Abend werde ich in Hamburg sein. Ich rufe dich vom Flughafen aus an, okay?“
Als sie nichts erwidert, legt er auf. Das hatte er geschafft! „Sie wird bestimmt nicht in eine Gruppe für verwaiste Eltern gehen. So viel steht fest,“ flüstert er vor sich hin. Ihm graut schon davor, mit ihr morgen Abend die Anzeige aufzusetzen und aufzuschreiben, wer alles benachrichtigt werden muss. Der Blumenschmuck muss ausgesucht werden und der ganze Mist. Alles wird sie nur vom Feinsten haben wollen. Wie immer. Mit dem Pfarrer will er lieber selber sprechen. Morgen früh, überlegt er, will er Helge anrufen, dann wird er aus der Schule sein. Es wird auch für ihn schlimm sein, denkt er. Schon seit längerem geht er wie ein eingesperrter Tiger in seinem großen Hotelzimmer hin und her, immer im Kreis. Wem in aller Welt kann er nur anvertrauen, dass ihr Körper jetzt in einem Institut für Kryonik liegt und dass er einiges Geld dafür hinblättern musste? Ihm fällt niemand ein. Niemand. Schließlich stoppt er wieder bei der Minibar und schenkt sich einen doppelten Whisky ein. „Und doch war es richtig!“ sagt er dann laut. Die Worte klingen noch länger nach, bis er endlich zur Ruhe kommt, und der Schlaf gnädig seine Verzweiflung überdeckt.