Читать книгу I fight for you - Madlen Schaffhauser - Страница 3

1. Kapitel

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Sue

Heute, Juli 2016

Ich brauche nur noch ein paar Tasten des Laptops, der auf meinem Schoß liegt, zu drücken, dann habe ich ihn. »Bist du bereit?«, frage ich nach hinten.

Auf dem Rücksitz wartet Perce auf seinen Einsatz und wippt ungeduldig mit dem Fuß.

»Kann es kaum erwarten«, erwidert der schwarzhaarige Chinese mit einem frechen Grinsen.

»Ich schicke ihn in die nächste Seitengasse, dann bist du dran.«

»Alles klar.«

Ich brauche noch die Zustimmung unseres Fahrers, der uns mit seinem Subaru durch die Straßen lenkt, damit er auch im richtigen Moment handelt. Ich werfe einen Blick zum Fahrersitz. »Ike?«

»Du kannst loslegen.« Ike hat eine Hand am Lenkrad, die andere am Schalthebel. Sein Blick ist nach vorn gerichtet.

Mit Zeigefinger und Daumen drücke ich auf meinem Notebook zwei Tasten gleichzeitig und sofort blinkt der BMW vor uns nach links. Ich beschleunige den Wagen und lasse ihn unkontrolliert schlängeln, um das Überraschungsmoment für den BMW-Fahrer noch zu erhöhen. Das alles mache ich nur mit meinem Rechner. Sobald ich im System des jeweiligen Autos bin, übernehme ich die Steuerung. So wie jetzt bei dem leuchtend blauen Sportwagen, der gleich eine Vollbremsung hinlegen wird.

»Jetzt!«, rufe ich in die angespannte Stille.

Ike tritt sofort die Bremse durch und in der nächsten Sekunde leuchten die Bremslichter des vorderen Wagens rot auf.

»Los! Los! Los!«, brüllt Ike.

Die rechte hintere Tür wird aufgestoßen und wieder zugeschlagen. Perce rennt auf das vordere Auto zu, während ich abermals auf meinem Laptop herumdrücke und fast zeitgleich geht bei dem königsblauen Schlitten vor uns automatisch die Fahrertür auf. Perce zerrt einen verdutzt schauenden Mann aus dem Wageninneren, stößt ihn zur Seite und schlüpft hinter das Steuer. Ich kappe die Verbindung zum BMW. Gleich darauf fährt Perce mit unserer neuesten Errungenschaft davon – durch die Straßen von London, Richtung Garage, wo Greg und Chad, die letzten beiden der Gang auf uns warten.

Ike und ich folgen Perce durch die Seitengasse, wobei ich durch den Seitenspiegel den Mann beobachte, dem soeben sein Auto gestohlen wurde und der nun wild mit seinen Armen rudert. Dabei sieht er fassungslos seinem mindestens zweihunderttausend Pfund teuren M4 nach, der in den nächsten Sekunden um eine Linkskurve biegen und aus seinem Blickfeld verschwinden wird.

»Kannst du mich hören?«, frage ich Perce über den Ohrknopf, mit dem wir alle miteinander verbunden sind.

»Yeah! Ist das ’ne geile Karre!«, johlt dieser.

Ich muss schmunzeln, doch Ike starrt finster durch die Frontscheibe. »Achte auf den Verkehr, fahr die erlaubte Geschwindigkeit und mach keinen Scheiß«, weist er Perce an.

»Mann, Ike, mach dich mal locker. Lass mich diese kurze Fahrt genießen. Wir haben das Baby. Also kein Grund zur Sorge.«

»Du hast gehört, was ich gesagt habe. Kein unnötiges Risiko. Wir sehen uns in der Zentrale.« Ike biegt nach rechts, während Perce nach links fährt.

Wir überqueren eine Kreuzung, bevor Ike einen raschen Seitenblick in meine Richtung wirft. »Du warst wieder einmal absolute Klasse, Kleines.«

»Danke.«

»Dein Bruder wäre stolz auf dich.«

Ich zucke leicht zusammen. Dean war es, der mir die Sprache der Computer beigebracht hat. Ich war eine gute Schülerin und verbesserte meine Fähigkeiten von Tag zu Tag. Aber Dean wollte bestimmt nicht, dass ich Systeme hacke und mich illegal bereichere. Daher glaube ich eher, Dean wäre enttäuscht von mir, wenn er das hier miterleben würde. Doch das tut nichts mehr zur Sache. Dean ist tot. Und ich muss ohne ihn klarkommen.

Ich erwidere nichts auf Ikes Äußerung und konzentriere mich auf den Verkehr sowie die Stimmen in meinem Ohr.

»Perce ist angekommen«, erklärt uns Greg, der in der Zentrale vor seinen Computern sitzt.

»Sehr gut«, meint Ike neben mir.

»Wir sind in einer Minute bei euch«, melde ich mich bei den anderen und fahre meinen Laptop runter.

Bei der nächsten Kreuzung biegen wir nach rechts in ein abgelegenes Industriegebiet ab. Hier befindet sich unser Hauptquartier. Wir steuern auf ein großes, gräuliches und etwas heruntergekommenes Gebäude zu, das früher bestimmt als Autowerkstatt gedient hat. Eins der beiden Tore steht offen und schließt sich wieder, sobald wir hindurchgefahren sind.

»Lass uns das Schmuckstück betrachten«, meint Ike, nachdem er den Motor des Subarus ausgemacht hat.

Ich folge ihm zu dem leuchtend blauen Auto, das in wenigen Tagen einen neuen Besitzer bekommen wird. Die anderen stehen bereits um den BMW herum und begutachten ihn von allen Seiten.

Perce prahlt damit, wie geil diese Sportkarre zu fahren ist und was für ein Feeling es war, in den Kurven zu liegen, während Gregs blonder Haarschopf unter der Haube steckt. Mit geübtem Blick überprüft er den Motor, klappt schließlich die Haube wieder zu und grinst zufrieden.

Ike setzt sich auf den Fahrersitz, fährt mit der Hand über das lederne Lenkrad und das schwarze Armaturenbrett, ehe er wieder aussteigt und jedem auf die Schultern klopft.

Während Perce, Greg und Ike ihre Begeisterung kaum zurückhalten können, steht Chad ganz gelassen neben dem Auto. In seiner rechten Hand hält er wie immer einen Joint und hat ein dreckiges Grinsen auf dem Gesicht. »Sehr gut«, meint er, zieht an seinem Glimmstängel und schiebt seine schulterlangen, fettigen Haare hinter die Ohren.

Ich kann Chad nicht ausstehen. Zwar versteht er sein Handwerk als Mechaniker, aber manchmal gibt mir seine gleichgültige, schleimige Art echt zu denken. Ich versuche, es irgendwie locker zu nehmen.

Ich bin als Letzte zur Gruppe gestoßen. Vor fast drei Jahren haben sie mich aufgenommen, als ich keinen Ausweg mehr sah. Damals waren die vier Jungs schon eine eingeschworene Gemeinschaft, weshalb ich mich hüten werde, mich über ein anderes Mitglied auszulassen. Eigentlich komme ich mit allen gut aus. Nur mit Chad habe ich meine Mühe.

Wir klatschen alle in die Hände, um den Erfolg des heutigen Tags auszudrücken. Jedes einzelne Augenpaar leuchtet vor Freude und Erleichterung, weil alles so reibungslos abgelaufen ist – wie wir es geplant haben. Wir haben schon viele Coups hinter uns, trotzdem kommt jedes Mal eine gewisse Anspannung auf und löst sich erst wieder, wenn alle heil und sicher zurück sind.

Hoffentlich strahlen auch meine Augen eine solche Begeisterung aus. Niemand soll erfahren, wie ich tatsächlich über das Ganze denke.

Das Auto ist zweifellos ein wahres Juwel. Es wirkt sportlich, mit aerodynamischen Linien und das Interieur besteht nur aus den allerbesten Materialien. Aber am besten ist, was es uns einbringen wird. Und dieser edle BMW wird jede Menge Geld abwerfen.

»Du warst super, Sue.« Perce klopft mir kumpelhaft auf die Schulter.

»Zuverlässig wie immer.« Das kommt von Greg.

»Lasst uns anstoßen.« Chad taucht mit Bier auf, für jeden eine Flasche.

Wir öffnen sie und trinken auf unseren Triumph. Danach wird das weitere Vorgehen besprochen, wobei die leeren Flaschen durch volle ausgetauscht werden. Ich höre mehr zu, als dass ich an der Diskussion teilnehme. Meinen Part habe ich erledigt. In den nächsten Tagen ist das Können von Greg und Chad gefragt. Sie werden das Auto umlackieren, die Fahrgestellnummer austauschen, vielleicht noch etwas am Motor herumschrauben. Keine Ahnung, was alles nötig ist, damit man den Wagen nicht mehr zurückverfolgen kann. Hauptsache, die beiden Mechaniker wissen, was zu tun ist. Mein Talent ist wieder erwünscht, wenn es um die Suche nach dem nächsten Objekt geht und darum, es zu knacken. Bei manchen Autos komme ich im Nullkommanichts in das System rein, bei anderen dauert es länger, bis ich sie gehackt habe, doch bis jetzt konnte ich noch jedes Fahrzeug, auf das wir es abgesehen haben, unter meine Kontrolle bringen.

Mein zweites Bier kippe ich in schnellen Zügen runter, um endlich nach Hause zu kommen. Ich bin erschöpft und fühle mich irgendwie ausgelaugt. Die letzten Wochen waren ziemlich anstrengend. Wir gehen immer auf Nummer sicher, ehe wir zum Schlag ansetzen. Dafür braucht es eine genaue Überwachung unseres Zielobjekts sowie exakte Vorbereitung des Coups. Deshalb musste ich viel Zeit mit den Jungs verbringen, was mir oft nicht leichtfällt. Sie sind nicht wirklich meine Freunde – einzig vielleicht Perce – und schon gar nicht meine Familie. Bei ihnen kann ich nicht ich sein, aber durch sie komme ich zu Geld.

Nun brauche ich Ruhe, Abgeschiedenheit und meinen kleinen Bruder. »Jungs, ich verziehe mich!«

»Jetzt schon?« Ike wirkt baff, weil ich meistens länger sitzen bleibe und mindestens ein Bier mehr trinken würde.

Aber heute ... »Ich bin müde.«

»Soll ich dich fahren?«

»Nein, ich bin mit dem Auto da.«

Als wir uns ein paar Schritte von den anderen entfernt haben, stoppt mich Ike. »Willst du heute Nacht nicht ausnahmsweise bei mir bleiben?« Ein kleines Grübchen neben seinem linken Mundwinkel kommt zum Vorschein, als er mich mit einem leichten Lächeln ansieht.

Ike mag mit seiner muskulösen Statur und seinen immer perfekt gestylten, schwarzen Haaren auf viele Frauen attraktiv wirken, doch wenn ich in seine Augen blicke, sehe ich nur eisige Kälte. Hinter seiner charmanten Fassade steckt etwas Dunkles, Gefährliches. Ich habe nur noch nicht herausgefunden, was es ist. »Das hatten wir doch schon.«

»Du bist wirklich eine harte Nuss.«

Oder einfach ein Feigling, füge ich stumm hinzu. »Wir hören uns.«

»Pass auf dich auf«, meint Ike und drückt mir einen Kuss auf die Stirn.

Seit über zwei Jahren versucht er, mich auf den Mund zu küssen, doch jedes Mal wehre ich ihn ab, sodass er mit seinen Lippen oberhalb meiner Augenbrauen landet.

»Du machst es mir echt schwer«, höre ich ihn noch sagen, ehe ich mich aus seinem Griff löse und die Halle durch einen Seiteneingang verlasse.

Glaub mir, nicht nur dir.

Draußen herrscht absolute Dunkelheit. In dieser abgeschiedenen Gegend gibt es keine Straßenbeleuchtung und auch keine Kameras. Weder am Tag noch in der Nacht wird dieser Ort überwacht, was der Grund ist, warum sich die Gang für dieses Stadtviertel entschieden hat. Wie lang die Jungs dieses Gebäude schon ihr Eigen nennen, weiß ich nicht. Ich bin vor dreiunddreißig Monaten zu ihnen gestoßen, da gab es diese Clique bereits. Damals war auch Dean einer von ihnen.

Manchmal vergesse ich, warum ich das hier mache und es erscheint mir in jenen Augenblicken nicht mal falsch zu sein, weil ich dann meiner Vergangenheit entfliehen kann. Doch meistens quält mich mein Gewissen, da ich Jayson jeden Tag aufs Neue belüge, so wie es schon Dean getan hat. Ich habe mir damals geschworen, nicht denselben Fehler zu machen. Und dennoch – es brauchte nur zwei Monate, um so zu werden wie er.

Ich schüttle den Kopf, wie um meine Gedanken abzuwerfen und schließe meinen Honda auf, den ich vor dem Gebäude geparkt habe, starte den Motor und mache mich auf den Heimweg. Während den nächsten fünfzig Minuten überlege ich mir eine gute Ausrede, damit ich Jayson meine lange Abwesenheit erklären kann. Dabei hoffe ich, dass er bereits schläft und ich dadurch unbemerkt in mein Schlafzimmer schleichen kann.

Das Haus ist dunkel, als ich in die Auffahrt einbiege. Nachdem ich geparkt habe, bleibe ich noch ein paar Minuten im Auto sitzen und betrachte das Haus, das schon mein ganzes Leben mein Heim ist. Es gibt Momente, in denen ich nichts lieber täte, als auszuziehen. Zu viele Gefühle, Erinnerungen und Eindrücke existieren hier, die mich ständig zu erdrücken versuchen. Doch dann tauchen die Gesichter meiner Eltern und das von Dean vor meinem inneren Auge auf – ich sehe, wie wir lachend über den Rasen springen, am Esstisch spielen oder uns alle auf die Couch kuscheln und zusammen einen Film ansehen. In solchen Augenblicken verfliegen all die Überlegungen, ein neues Zuhause zu suchen.

Ich steige aus und gehe ins Haus, lasse meine Tasche neben der Tür auf den Boden fallen. Müde schlurfe ich durch den Flur Richtung Wohnzimmer.

»Wo warst du?«, fragt Jayson und macht damit meine Hoffnung, dass er schon längst im Bett liegt, zunichte. Er sitzt auf dem Sofa und sieht mich missbilligend an.

»Ich musste Überstunden machen.« Das ist nicht mal gelogen.

»Schon wieder?«

»Du weißt doch, wie das ist«, sage ich vage.

»Nein, weiß ich nicht. Und ich glaube dir kein Wort. Überstunden, Treffen mit potenziellen Kunden im Ausland, längere Meetings, dichter Verkehr und all die anderen Entschuldigungen, die du von dir gibst, sind nichts weiter als Müll. Es ist echt zum Kotzen, dass du mich dermaßen an der Nase herumführen willst!« Jayson schüttelt den Kopf und geht in die Küche, vermutlich, um sich ein Glas Wasser zu holen. Er wirkt wütend und frustriert, und ich kann es ihm nicht mal verdenken.

Ich folge ihm. Er hat sich mit den Händen auf der Arbeitsfläche abgestützt und sieht durch das kleine Fenster oberhalb der Spüle in die Nacht hinaus. Seine Haltung ist gebeugt, als würde eine schwere Last auf seinen Schultern liegen. Er wirkt wie ein alter Mann. Dabei ist er gerade siebzehn geworden.

Verzweifelt suche ich nach Worten, doch statt ihm eine Erklärung zu geben oder ihn um Verzeihung zu bitten, bringe ich gerade noch seinen Namen heraus. »Jayson ...«

»Was?« Er dreht sich zu mir um. »Was willst du mir sonst noch vorgaukeln? Du bist keinen Deut besser als Dean«, schleudert er mir entgegen, bevor er nach oben rennt und die Tür seines Zimmers hinter sich ins Schloss wirft.

Mir bleibt der Mund offen stehen. Sein letzter Vorwurf trifft mich hart und unvorbereitet. Nur leider hat er verdammt noch mal recht.

Unser großer Bruder hat uns getäuscht und angelogen, was seinen Beruf anbelangt. Irgendwann fand ich heraus, was er tatsächlich machte. Ich sprach ihn niemals darauf an und versuchte auch nicht, ihn davon abzubringen. Ich hätte sowieso nichts ändern können. Allerdings glaubte ich, dass Jayson noch zu klein war, um etwas von Deans eigentlichem Leben mitzubekommen. Doch heute zeigte sich, dass ich mich geirrt habe – in beiderlei Hinsicht.

Ich gehe nach oben und stelle mich vor seine Tür. Überlege, ob ich anklopfen soll, entscheide mich dann jedoch für die feige Variante. »Es tut mir leid, Jayson«, flüstere ich vor seinem Zimmer und wende mich ab, um mich aufs Ohr zu legen.

Der nächste Morgen kommt viel zu schnell, aber als ich Jayson im Haus rumoren höre, steige ich aus dem Bett und mache mich auf die Suche nach ihm. Ich muss ihm einiges erklären.

Er steht in der Küche, an den alten runden Tisch gelehnt, und hält ein Glas Orangensaft in der Hand. Als er mich wahrnimmt, wendet er sofort den Blick ab.

Es tut mir weh, ihn so traurig und verletzt dastehen zu sehen. Ganz besonders, weil ich einen großen Teil dazu beigetragen habe. Erst haben uns unsere Eltern verlassen, dann Dean. Und ich habe nichts Besseres zu tun, als ihn zu enttäuschen.

»Jayson ... ich ...«

»Ich muss in die Schule.« Ohne mich anzusehen, geht er an mir vorbei.

»Jayson, bitte.«

Er hält inne, dreht sich allerdings nicht zu mir um. »Dachtest du wirklich, ich würde dir die Geschichte über den Job als Marketingagentin abnehmen?« Er lässt seinen Kopf hängen und schüttelt ihn. » Ich bin nicht blöd, Sue. Solange du nicht bereit bist, die Wahrheit zu sagen, brauchen wir uns nicht zu unterhalten.«

Verdutzt schaue ich aus dem Küchenfenster und sehe meinem Bruder nach, wie er das Haus verlässt und die Einfahrt hinuntergeht.

***

In den vergangenen drei Tagen versuchte ich mehrmals, an Jayson heranzukommen. Doch er hat immer gleich dichtgemacht und meine Bemühungen, mich mit ihm auszusprechen, sofort im Keim erstickt. Er verließ frühmorgens das Haus, um in die Schule zu gehen und ist erst am späten Nachmittag zurückgekommen. Sein Rückzug trifft mich. Aber kann ich ihm sein Verhalten verübeln?

Er hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass er erst wieder mit mir reden wird, wenn ich bereit bin, ihm die Wahrheit über meinen Job zu erzählen. Und dieser hat nichts mit einer großen Marketingagentur zu tun, wie ich es ihm seit fast drei Jahren weiszumachen versuche.

Zwar ist er mein kleiner Bruder, allerdings bestimmt er momentan, wie es bei uns abläuft. Ich hasse es, wenn wir streiten oder uns wie zwei Fremde anschweigen. Ich habe keine Ahnung, was oder wie viel er von meinem Job weiß, allerdings scheint es auszureichen, um mich in die Ecke zu drängen. Ich habe nur noch Jayson. Vielleicht ist es an der Zeit, Klarheit zu schaffen. Er ist schließlich kein Kind mehr.

Während ich das Haus auf Vordermann bringe, das Bad schrubbe, die Küche putze und den Einkauf wegräume, überlege ich mir, wie ich ihm, das, was ich tue, erklären kann. Dann warte ich ungeduldig auf meinen Bruder und wünsche mir, dass das Gespräch so ablaufen wird, wie ich es bereits Dutzende Male im Kopf durchgegangen bin. Es wird nicht leicht, ihm zu erklären, warum ich mich für diesen Weg entschieden habe. Aber damals, als das mit Dean passiert ist, war ich ein absolutes Wrack. Ich habe die Stipendien verloren, mein Studium geschmissen. Mich selbst verloren. Und dann, als ich keinen Ausweg mehr sah, tauchte plötzlich Ike auf. Es klingt vielleicht seltsam, aber er war es, der mir half, wieder auf die Beine zu kommen. Ich fing an, Autos zu hacken, um Geld zu verdienen. Ich konnte den großen Schuldenberg abbauen, den uns Dean hinterlassen hat und kann heute, ohne lange zu grübeln, die laufenden Rechnungen bezahlen. Manchmal gelingt es mir sogar, ein wenig Geld auf die Seite zu legen. Vor Jahren habe ich mich für diese Richtung entschieden, jetzt fällt es mir schwer, in eine andere abzubiegen.

»Jayson!«, rufe ich, als ich die Eingangstür höre.

»Was gibts?«, will er wissen und klingt genervt.

Ich gehe in den Flur und sehe ihn mit einem hübschen Mädchen auf der untersten Stufe der Treppe stehen.

Ist das seine Freundin?

In diesem Moment wird mir bewusst, wie wenig ich von seinem Leben mitbekomme, was mich unheimlich traurig stimmt. Ich bin viel zu sehr mit meinem Mist beschäftigt, als dass ich Zeit für ihn aufbringen könnte.

»Ich bin Sue, Jaysons Schwester«, stelle ich mich vor.

»Jill.«

Ich lächle sie kurz an und bitte sie stumm um Entschuldigung, weil ich mich für ein paar Minuten mit Jayson unterhalten möchte, womit ich bestimmt ihre Pläne für den Abend durcheinanderbringe. »Können wir reden?«, wende ich mich an Jayson.

»Muss das jetzt sein?«

»Ich habe schon viel zu lang gewartet.«

Wir sehen uns einen Augenblick an. Schlussendlich nickt er schwach. »Ich komme gleich.«

Sofort stiehlt sich ein Bild vor mein inneres Auge. Es zeigt Jayson, der seine Freundin die Treppe hinauf in sein Zimmer führt. Dann verändert sich das Bild und statt Jayson sehe ich Kane, der meine Hand nimmt. Noch immer schleichen sich Erinnerungen an ihn gnadenlos in mein Herz und lähmen mich, wie ein tödliches Gift, das von meinem Körper Besitz ergreift, bis ich kaum noch atmen kann. Ich klammere mich am Treppengeländer fest, um nicht den Halt zu verlieren, wobei einige Sekunden vergehen, bis ich meine widerspenstigen Gedanken unter Kontrolle habe.

Kaum bin ich in der Küche und habe mir ein Glas Wasser geholt, betritt Jayson den Raum.

»Schieß los.« Er verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich ernst an. Sein Gesicht ist voller Verachtung.

»Setz dich bitte.« Ich deute auf die vier Stühle, die rund um den Tisch verteilt stehen und nehme selbst Platz.

»Warum sollte ich?«

»Ich kann nicht reden, wenn ich ständig aufsehen muss.«

Anscheinend genügt ihm der Grund und er nimmt sich einen Stuhl.

»Es tut mir leid«, beginne ich, um ihm damit hoffentlich diese Wut zu nehmen, die er auf mich zu haben scheint.

»Warum sagst du das?«

»Weil es die Wahrheit ist.«

»Und was tut dir leid?« Er redet zwar leise, aber der Ton in seiner Stimme verrät mir, was er von mir hält. Was er von meiner Arbeit hält. »Du bist in der gleichen Gang wie Dean, stimmt’s?« Jayson beugt sich vor und sieht mir fest in die Augen, ehe er mir die nächste Äußerung mit nahezu verhasster Schärfe entgegenschleudert. »Du machst den gleichen Scheiß wie er damals.«

Wir beide haben gesehen, was mit Dean passiert ist. Wir haben ihn verloren, weil er mit dem, was er gemacht hat, nicht mehr Leben konnte. Ich glaube, Jayson versucht, seine Sorge zu überspielen, indem er seine Gefühle in Zorn verpackt. Trotzdem brauche ich eine Minute, um mich zu fassen. »Glaubst du mir, wenn ich sage, dass ich nicht vorhatte, in Deans Fußstapfen zu treten?«

»Aber du hast diesen Weg gewählt. Du ganz allein.«

Ich sollte nicht wütend werden, trotzdem machen mich seine Vorwürfe zornig und es enttäuscht mich, dass er dermaßen schlecht von mir denkt.

Noch vor drei Jahren hatte ich ein genaues Ziel vor Augen, doch meine Zukunftsträume wurden in einer einzigen Nacht vernichtet. Wie ein Streichholz ausgeblasen wird, so wurde alles, was ich mir wünschte, ausgelöscht.

»Was hätte ich denn deiner Meinung nach machen sollen?«

»Weiterstudieren.«

»Und wer hätte dann zum Henker für uns gesorgt? Wer würde sich jetzt um uns kümmern?« Ich schlage mit der flachen Hand auf den Tisch, bevor ich aufstehe und rastlos in der Küche umhergehe.

»Wir werden eine andere Lösung finden.«

»Du denkst immer, es wäre alles so einfach. Aber da täuschst du dich. Im Moment bin ich es, die unseren Lebensunterhalt verdient. Vielleicht solltest du dich daher etwas rücksichtsvoller verhalten. Letztendlich mache ich das alles für uns.«

»Wenn die Bullen dich schnappen, kannst du gar nichts mehr.« Betrübt sieht er auf die Tischplatte, die ihre besten Tage schon längst hinter sich hat.

Damit hat er absolut recht, dennoch erwidere ich ganz ruhig: »Sie werden mich nicht kriegen.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es einfach. Vertrau mir.«

»Ich möchte nicht, dass du so endest wie Dean.«

»Niemals«, stöhne ich verzweifelt auf und gehe vor ihm in die Hocke.

Ich kann sehr gut nachvollziehen, weshalb Jayson solche Ängste plagen. Schließlich ist es nicht ungefährlich, noch dazu verboten, was ich tue. Was, wenn mich doch eines Tages die Polizei kriegt? Was würde dann aus Jayson werden?

Meine Wut und mein Zorn sind wie verflogen, dafür stürmen Schmerz und Verzweiflung auf mich ein, als ich nun in sein Gesicht sehe. Ich lege meine Hände an Jaysons Wangen, streiche mit den Daumen die Tränen weg, die plötzlich über sein Gesicht laufen, und flüstere: »Was er gemacht hat ... Ich könnte dir das nie im Leben antun.«

Jayson legt die Arme um mich und drückt mich fest an sich. »Ich hab dich lieb, Schwesterherz.«

»Ich dich auch, Jayson.«

Etliche Minuten vergehen, bis wir uns wieder lösen.

»Erzählst du mir von Jill?«, frage ich ihn, nachdem wir einen Augenblick stillschweigend in der Küche saßen und sich unsere Gemüter wieder beruhigt haben. »Sie macht einen netten Eindruck.«

»Sie ist auch nett.«

»Geht sie in deine Klasse?«

»Nein, sie ist eine unter mir.«

Ich bin so unheimlich erleichtert, dass wir wie Bruder und Schwester wieder normal miteinander reden können. »Und seit wann läuft das zwischen euch?«

Er zuckt kurz mit den Schultern. »Seit etwa vier Monaten.«

Er hat noch nie ein Mädchen mit nach Hause gebracht, weshalb ich jetzt etwas überrascht bin, dass er scheinbar seit Wochen eine Beziehung hat. Ich nehme seine Hand und lächle ihn an. »Es gefällt mir, dass du jemanden gefunden hast.«

»Mir auch.«

Wenn er glücklich ist, warum klingt dann seine Stimme so zurückhaltend, ja fast besorgt? Sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass ihn irgendwas bedrückt, er aber nicht weiß, wie er es aussprechen soll.

»Was?«, fordere ich ihn auf.

»Vielleicht solltest du auch endlich nach vorn schauen und ihn loslassen.«

»Dean?«, frage ich bestürzt.

»Nein, Kane.«

I fight for you

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