Читать книгу 1918 - Wilhelm und Wilson - Magnus Dellwig - Страница 10
4 Ein Ball im Herbst
ОглавлениеDer Sommer 1917 in Berlin war ereignisreich. Kollege Erzberger brachte Anfang Juli seine Resolution in den Reichstag ein, mit der er beabsichtigte, eine öffentliche Diskussion über die pragmatischen Möglichkeiten zur Einleitung eines Verhandlungsfriedens mit der Entente in Gang zu setzen. Es ging hoch her! Matthias Erzberger verfolgte unbeirrt sein Ziel, die Regierung Bethmann-Hollweg über eine Resolution aus der Mitte des Reichtags gehörig unter Druck zu setzen. Stürzen wollte er den Kanzler ja eigentlich nicht, sondern eher ihn zwingen, zwischen den zunehmend weit auseinander fallenden Positionen der Parlamentsmehrheit auf der einen, der OHL und der Alldeutschen Imperialisten auf der anderen Seite nach Monaten des Zauderns endlich sich zu entscheiden. Bethmann hatte es schon viel zu lange versäumt, Farbe zu bekennen.
Denn am 6. April, ein Tag vor der Osterbotschaft Wilhelms II., hatten die Vereinigten Staaten dem Deutschen Reich den Krieg erklärt. Dazu wäre es kaum gekommen, hätte das Reich nicht am 1. Februar den 1916 eingestellten uneingeschränkten U-Boot-Krieg wieder aufgenommen. Ich sage es heute frei heraus. Auch ich, Gustav Stresemann, war damals ein unbedingter Befürworter dieser Strategie. Wie viele in Deutschland war ich doch so zuversichtlich, dass England kriegswirtschaftlich zusammenbrechen würde, falls es uns gelänge, die Zufuhr von Rohstoffen und amerikanischen Fertigwaren über den Atlantik zu unterbinden. Wie viele schloss auch ich nicht aus, dass die USA als hauptsächlich betroffene neutrale Macht vielleicht gegen die Monarchien in Berlin und Wien später einmal in den Krieg eintreten würden. Schließlich stand die Nation unter der Leitung eines von der missionarischen Sendung zur weltweiten Ausbreitung der Demokratie erfüllten Präsidenten. Und als es dann am 6. April tatsächlich geschah, da beruhigte ich mich wie viele andere mit der trügerischen Gewissheit, es werde Jahre dauern, bis die USA in nennenswertem Umfang Truppen mobilisieren, ausbilden und nach Frankreich schicken könnten. Zu lange würde das auf jeden fall dauern, um noch Einfluss auf den Kriegsausgang im Westen nehmen zu können. Mein Gott, wie hatte ich damals den Parolen anderer leichtfertig glauben geschenkt! Mein Gott, wie hatte ich mich doch geirrt, wenn ich all mein heutiges Wissen um den Verlauf des Jahres 1918 hinzunehme!
Erzberger setzte mit seinem Textentwurf für eine Friedensresolution des Deutschen Reichstags vor allem auf Eines: Bethman-Hollweg hatte bei einer Konferenz mit dem Kaiser und der OHL am 23. April 1917 in Bad-Kreuznach die Pläne Ludendorffs kritisiert. Diese beinhalteten weiterhin umfassende direkte Annexionen in Frankreich sowie aus dem ehemaligen Zarenreich und dann die Einverleibung ganz Belgiens in das Reich. Das war über Kreise der Heeresleitung an die Presse und in die Öffentlichkeit gelangt. Ganz Deutschland spekulierte so seit Mai, wie der Konflikt wohl eskalieren werde. Gerade weil sämtliche Reichstagsfraktionen in Machtfragen ein Übergewicht beim Militär erblickten, gerade weil wir im Parlament den Kaiser als zunehmend entscheidungsschwach wahrnahmen, musste etwas passieren, das weit über die bisher öffentlich wahrgenommenen politischen Debatten hinauswies. Zentrum, Sozialdemokraten und Fortschrittler wollten der OHL mit Hindenburg und Ludendorff an der Spitze durch eine breite Mehrheit für einen Verhandlungsfrieden einen kräftigen Dämpfer verpassen. Der Kaiser sollte erkennen, dass die Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit nicht mehr länger bereit war, für umfassende Kriegsziele millionenfaches Hungern und zigtausendfaches Sterben auf weiterhin unabsehbare Zeit in Kauf zu nehmen.
Doch es kam anders: Die am 6. Juli eingebrachte Resolution forderte einen Frieden ohne Eroberungen, da keine Aussicht mehr auf den militärischen Sieg bestehe und das deutsche Volk nach dem Frieden verlange. Die Resolution erhielt nach zweifacher Lesung am 19. Juli die gewünschte breite Mehrheit. Allerdings stimmten meine Nationalliberalen dagegen. Es blieb bei der Zustimmung der Parlamentsmehrheit der drei sogenannten demokratischen Parteien. Statt den schwachen Reichskanzler Bethmann unter einem schwächer werdenden Kaiser zu stärken, oder aber den Kaiser zur Berufung eines energischen Nachfolgers mit Friedensambitionen zu veranlassen, wurde Bethmann-Hollweg nach acht Jahren Kanzlerschaft entlassen. Allein die sich abzeichnende Parlamentsmehrheit für die Resolution bewirkte die Forderung Hindenburgs und Ludendorffs nach Entlassung des Reichskanzlers am 11. Juli. All dies bewog den Kanzler schließlich zu seinem Rücktrittsgesuch vom 13. Juli. Unter dem Einfluss der OHL nahm der Kaiser an. Bethmanns Nachfolge wurde schon am 14. Juli Georg Michaelis. Der galt als vorsichtiger Beamter und gerüchteweise als von Gnaden Hindenburgs und Ludendorffs in das neue Amt eingesetzt.
Deutschland gab sich von nun an und fortdauernd der Illusion hin, ein „Weiter so!“ im Sinne des Septemberprogramms Bethmann-Hollwegs von 1914 werde irgendwann schon zum Siege führen. Aber wie dorthin gelangen? Ich selbst teilte diesbezüglich gewisse Hoffnungen der Spitzenmilitärs, die früher oder später auf den Zusammenbruch der Russen setzten. In Petrograd war am 21. Juli Fürst Lwow zurückgetreten und endlich vom starken Mann der Regierung, Kriegsminister Fürst Kerenski, ersetzt worden. Nun musste sich zeigen, ob es der Regierung gelingen würde, die Kontrolle über die Armee zurückzuerlangen. Falls nicht, waren zwei Entwicklungen möglich: die Auflösung der Front und der baldige deutsche Sieg im Osten, dann aber auch der Sieg des Revolutionärs Lenin im Inneren über die republikanische, liberale Regierung! Beim Gedanken daran wurde mir ganz anders! Ich dachte im August 1917 manches Mal an Goethes Faust. Würde es uns gelingen, die Geister, die wir mit dem plombierten Wagon gerufen und in ihm nach Petersburg geschickt hatten, wieder zu bändigen, geschweige denn wieder los zu werden? Und dann kam der Monat September.
Der Tag von Sedan! Ich persönlich empfinde ihn als den höchsten nationalen Gedenktag des Deutschen Reiches. In Ehrerbietung vor dem Sieg der deutschen Waffen in der Entscheidungsschlacht des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 wird nicht nur der Gefangennahme Kaiser Napoleons III. und der Einschließung großer Teile seiner Armee gedacht. Mehr noch begehen wir Preußen, jedoch alle Deutschen einmütig mit uns, die Ablösung Frankreichs als größter Macht Kontinentaleuropas durch das neu gegründete Deutsche Reich. Immerhin hatte die Suprematie der Grande Nation 1648 mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges begonnen und über 200 Jahre gewährt. An diesem 2. September 1917 hielt Seine Majestät vor ausgewählten Mitgliedern von Reichstag, Regierung und Heeresleitung, von diplomatischem Korps und nationaler wie internationaler Presse eine nun wahrlich nationale Rede. Wilhelm II. rühmte die Tapferkeit und die Kampfkraft unserer Truppen. Er dankte allen gesellschaftlichen Gruppen für den Burgfrieden und bezeichnete den Zusammenhalt der deutschen Gesellschaft als unerreicht, wenn wir uns mit den Gegnern verglichen. Daher, so seine Schlussfolgerung, sei das Reich unbesiegbar trotz einer Welt voller Feinde. Amerika erwähnte Wilhelm nur mit einem lapidaren Satz:
„Die größte Landmacht der Welt zeigt Respekt vor den großen Leistungen des amerikanischen Volkes, insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiete.“
Mit anderen Worten: Das Militär gehöre schließlich nicht zu den Stärken der USA und flöße uns daher keine Angst ein. Seine Majestät fuhr mit unvermindert prägnanter Rhetorik fort. Deutschland sei trotz zahlreicher Opfer in genau drei Jahren Krieg zum ehrenvollen Frieden für alle Krieg führenden Parteien bereit. Es müsse ein Frieden sein, der die Sicherheit des Reiches in Europa gewährleiste. Ins Detail ging er nicht. Alle Gäste, die Orientierung in Fragen der Kriegsziele oder des Wahlrechts in Preußen erwartet hatten, blieben enttäuscht zurück.
Anschließend hatte der Kaiser zum Ball anlässlich des Sedan-Tages geladen. Das Berliner Stadtschloss war festlich in schwarz-weiß-rot geschmückt. Die Ehrengarde hielten Offiziere des Kürassier-Regiments Kronprinz von Preußen. Hunderte Gäste aus dem gesellschaftlichen Leben von Hauptstadt und Reich kamen zusammen. Für mich war es eine helle Freude, nach nunmehr fast zwei Monaten der auch reisebedingt langen Unterbrechung unserer regelmäßigen Zusammenkünfte die Freunde Walther Rathenau und Albert Ballin wiederzusehen. Albert war mit seinem Sohn Thorsten angereist. Die Ehe der Ballins war kinderlos geblieben. Auf die Adoption von Mariannes und Alberts Tochter Irmgard 1893 folgte 1896 die Adoption Thorstens, ebenso wie Irmgard ein Kind aus einem verarmten Zweig der großen Verwandtschaft von Mariannes Familie Rauert.
Der junge Mann, frisch beförderter Oberleutnant der Artillerie und von daher mit der Gunst von einer Woche Erholungsurlaub belohnt, genoss den anstehenden Ball ganz besonders. Die vielen eleganten Menschen, darunter Offiziere aller Waffengattungen in ihren Paradeuniformen, ein Orchester, das Walzer und ein weites Spektrum an Tanzmusik präsentierte und dann selbstverständlich die festlich in langen Ballkleidern sich präsentierenden Damen des Hofes versetzten Thorsten Ballin in Begeisterung.
Seine Majestät hielt eine kurze Ansprache und eröffnete den Ball. Dabei betonte er die Stärke der deutschen Waffen, die Tradition preußisch-deutscher Siege in den Waffengängen von Friedrich II. bis Sedan. Disziplin und Mut des deutschen Landsers, Gehorsam und Befehlsgewalt des deutschen Offiziers würden von keiner Armee der Welt erreicht. Deshalb sei ihm nicht bange vor den Prüfungen, die Deutschland bis zum endgültigen Siege über sämtliche seiner Feinde noch bevorstünden. Und dann kamen die Sätze, die mich aufhorchen ließen:
„Der Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika in den Krieg gegen uns beweist mir, zu welchen Handlungen der Hörigkeit gegenüber den Massen eine Demokratie sich zuweilen hinreißen lässt. Daraus, meine sehr verehrten Damen und Herren, muss ich kraft meiner Verantwortung vor Gott und dem deutschen Volke zwei Lehren ziehen und konsequent umsetzen:
Erstens werde ich wie Ostern benannt die Beteiligung der gesamten Bevölkerung an der Meinungsbildung im preußischen Abgeordnetenhaus stärken. Doch dies werde ich aus tiefster Überzeugung dann tun, wenn die Auswirkungen der Härten dieses Krieges auf das Gefühlsleben unserer Nation abgeklungen sein werden.
Zweitens schmälert die Hinzufügung Amerikas in die Reihe unserer Feinde keineswegs meine Siegeszuversicht, denn ich setze darauf, dass die bewährte Leitung unseres Heeres innerhalb kürzester Zeit in der Lage sein wird, unserem geprüften Westheere von Osten Entsatz zu verschaffen.”
Während Generalfeldmarschall von Hindenburg und Oberst Bauer dem Ball beiwohnten, hatte derweil Generalleutnant Ludendorff die Befehlsgewalt in der Obersten Heeresleitung in Spa inne. Der ebenso selbstbewusst wie behäbig wirkende ältere Herr von Hindenburg verneigte sich bei des Kaisers letzten Worten deutlich sichtbar in dessen Richtung. Die Gesellschaft nahm mit einem Raunen zur Kenntnis, dass der Generalstabschef den Auftrag seines Monarchen nicht nur verstanden hatte, sondern offenkundig zugleich bereitwillig die Absicht verfolgte, den Auftrag auszuführen.
Nach der Rede des Kaisers eröffneten dieser selbst samt Gemahlin sowie der Kronprinz mit seiner Gattin den Ball zu einem beschwingten Walzer von Richard Strauß. Insbesondere die jüngeren Offiziere verloren keine Zeit, um die jungen Damen zum Tanz aufzufordern. Oberleutnant Ballin zögerte noch, doch beim zweiten Aufspiel des Orchesters löste er sich von der kleinen Gruppe, die er bisher mit zwei weiteren jungen Offizieren, seinem Vater und Walther Rathenau gebildet hatte. Schon zuvor hatte er sein Auge auf eine kleine schwarzhaarige Dame in leuchtend gelbem Ballkleid geworfen, die mit weiteren Damen des Hofes vor dem Eröffnungstanz um die Kaiserin gestanden hatte. - Albert Ballin hat mir später davon erzählt. Ich selbst war zur gleichen Zeit mit tief schürfenden Gesprächen beschäftigt. Doch den selbstbewussten, jungen, forschen Thorsten Ballin sehe ich jetzt förmlich vor mir.
Oberleutnant Ballin fordert die junge Hofdame im langen, leuchtend gelben Ballkleid zum Tanz auf und schwebt daraufhin beschwingt über das Parkett. Anscheinend ist er in diesem glücklichen Moment frei von allen Eindrücken, die den Alltag des Frontoffiziers in den zurückliegenden Monaten ausgemacht haben mochten. Thorsten Ballin liegt dabei ein freudiges Schmunzeln auf den Lippen. Dafür hat er zwei Gründe: Recht so, denkt er sich, es war richtig, seinen alten Herren von Hamburg aus auf dieser Reise nach Berlin zu begleiten. Denn der Kopf wird frei und ich werde daran erinnert, wie schön das Leben im Frieden wieder einmal sein wird. Dann aber spürt er beim Blick in die großen braunen Augen seiner Tanzpartnerin eine wohlige Wärme. Nach dem Tanz bleibt das Tanzpaar am Rande der Tanzfläche stehen. Thorsten Ballin erkundigt sich nach ihrem Weg in den Hofstaat der Kaiserin. Die junge Dame ist nicht nur hübsch, sie spricht für eine junge Frau aus adeligem Hause bemerkenswert unbeschwert über sich und fragt Thorsten sogar danach, wie hart er den Krieg empfindet. Prinzessin Helena ist die Tochter des Königs von Griechenland und als solche die jüngste Cousine von Kronprinz Wilhelm von Preußen. Seit gut zwei Wochen zu Gast in Berlin am Hofe der Hollenzollern hat Wilhelms Gemahlin Cecilie aus dem Hause von Mecklenburg-Schwerin die gerade einundzwanzigjährige Verwandte unter ihre Fittiche genommen. Ein wenig langweilig drohte das Berliner Hofleben unter den Bedingungen des Kriegs so langsam zu werden. Da kam Helena der Ball des Kaisers gerade recht. Der junge Offizier, der sie da eben zum Tanz aufgefordert hat, ist ihr sehr sympathisch. Er vermittelt einen etwas unerfahrenen Eindruck mit höfischen Festlichkeiten. Doch eben das macht ihn interessant. Der Name Ballin sagt ihr nichts, doch sie wundert sich beinahe, dass der junge Offizier aus bürgerlichem Hause am kaiserlichen Hof Zugang hat. Das beantwortet Oberleutnant Ballin ihr freimütig mit den guten Beziehungen seines Vaters zur Reichsregierung. Helena insistiert da nicht, sondern nimmt sich vor, nach diesem Abend ein wenig zu recherchieren. Statt dessen rutscht ihr eine Frage heraus, für die sie sich sogleich am liebsten auf die Zunge gebissen hätte:
„Herr Oberleutnant, sie sind sehr ernst heute Abend. Dabei feiern wir doch so einen schönen Ball. Mag es vielleicht daran liegen, dass sie an der Front schon zu viele Männer haben sterben sehen?”
Thorsten Ballin sieht Helena völlig überrascht an. Sein Erstaunen rührt indes nicht daher, dass er peinlich berührt wäre oder sich scheuen würde, auf eine Frage nach seinen Kriegserfahrungen zu antworten. Es ist mehr die völlige Überraschung darüber, dass eine junge Dame des Hochadels so unbefangen mit den schmerzlichen Seiten des Kriegs umgeht und dies sogar an einem solchen Abend, an dem die beste Berliner Gesellschaft doch deshalb zusammen gekommen ist, um unbeschwert zu feiern und gerade den Krieg für einen Abend einmal hinter sich zu lassen.
„Liebe Prinzessin Helena, es ist unbestreitbar ein Vorteil der Artillerie, dass man nicht im Schützengraben und nicht in vorderster Front steht. Sicher kommt es vor, dass die feindliche Artillerie aus vielen Kilometern Entfernung auch einmal versucht, unsere Stellungen unter Feuer zu nehmen, aber das ist selten. Ich musste glücklicherweise bisher in knapp einem Jahr Fronteinsatz nur wenige Kameraden sterben sehen.”
„Lieber Oberleutnant Ballin, nicht Prinzessin Helena. Bitte sagen sie nur Helena zu mir. Das wäre mir sehr viel lieber.”
„Sehr gern, liebes Fräulein Helena. Sie würden mir nun einen Gefallen damit erweisen, den Krieg für kurze Zeit aus ihren Gedanken zu verbannen und mir von ihrer schönen griechischen Heimat zu erzählen.”
Helena lacht und beginnt eine für Thorsten Ballin spritzig vorgetragene Geschichte über ihre Kindheit am Athener Hof, über Musik und Handarbeit und vor allem das Erlernen von Sprachen. Sie schwärmt von den Stränden Attikas und der Ägäis und wünscht sich, dass Oberleutnant Ballin sie dort einmal besuchen möge. Plötzlich stockt ihre Erzählung und sie blickt sehr ernst. Noch bevor Oberleutnant Ballin Gelegenheit bekommt, nach der Ursache zu fragen, antworte sie selbst.
„Ich bin aber auch traurig, wenn ich an Griechenland denke. Der Grund meiner Abreise waren die Wirren zu Hause, denn der Krieg lässt meine Heimat ja leider auch nicht verschont. Im Juni, das wissen sie sicherlich, musste mein Papa abdanken, weil er nicht bereit war, dem Druck der britischen Besatzer nachzugeben und gegen Österreich, Deutschland und die Osmanen in den Krieg einzutreten. Ich habe hautnah miterlebt, welche Gewissensnöte Papa Konstantin durchlebt hat. Er konnte nicht gegen unsere Familie in Berlin zu Felde ziehen. Griechenland hat ja auch gar keinen Grund, keine Ziele, keine verletzten Interessen, um das zu tun.”
„Und dann hat er seinen Thron ihrem Bruder überlassen.”
„Ja genau, aber nicht einfach so. Papa hat von den Briten die feste Zusage, das Ehrenwort der britischen Krone verlangt, dass sein Thronverzicht nicht das Ende unserer Dynastie bedeuten würde, sondern dass mein gut zwei Jahre älterer Bruder Alexander ihm nachfolgen dürfe. Das hat er geschafft und zugleich ist er nach der Abdankung am 12. Juni in eine tiefe Zurückgezogenheit verfallen. Ich hoffe und bete, dass er nicht daran zerbricht.”
Aus Prinzessin Helenas linkem Augenwinkel rollt eine einzelne Träne. Thorsten Ballin ist betroffen. Er reicht ihr wortlos ein Taschentuch. Am liebsten würde er sie sofort in den Arm nehmen und trösten. Doch das geht am Hofe des Kaisers natürlich nicht! Also fällt ihm nur eines ein, um Helena wieder auf andere Gedanken zu bringen. Thorsten Ballin fordert sie zu einem zweiten Tanz auf, besorgt anschließend zwei Schalen Sekt und setzt die Unterhaltung mit Helena fort.
Die beiden jungen Leute gehen ungezwungen und beinahe schon vertraut miteinander um. Junge Damen des Hofes beobachten sie aus der Ferne, von intensivem Tuscheln begleitet. Helena bemerkt das und weist Oberleutnant Ballin darauf hin. Doch statt verschreckt den jungen Mann zu verabschieden und zu ihren Begleiterinnen aus den zurückliegenden Tagen am Hofe zu eilen, amüsiert sich die Prinzessin, winkt verschmitzt hinüber und schenkt ihre Aufmerksamkeit anschließend erneut dem jungen Artillerieoffizier aus bürgerlichem Hause. Thorsten Ballin ist beeindruckt von Helena, die sich scheinbar wenig daraus macht, dass ihre neuen Freundinnen aus Berlin sie misstrauisch beäugen. Dies steigert Thorstens Interesse an, vor allem aber seine Sympathie für Helena. Trotz ihres offenkundigen Vergnügens, das sie aneinander finden, beschließen Thorsten und Helena nach einem dritten Tanz, sich einer Gruppe junger Hofdamen und Offiziere anzuschließen, die im kleinen Empfangssaal neben dem Tanzparkett eine Menschentraube in heiterem Gespräch bilden. Thorsten Ballin weiß bereits, dass er diesen Ball nicht verlassen wird, ohne Prinzessin Helena von Griechenland bedeutet zu haben, wie viel Freude ihm die Bekanntschaft gemacht hat und dass er sich freuen würde, sie wiedersehen zu dürfen. Schließlich weile sein Vater aus geschäftlichen Gründen des Öfteren in der Reichshauptstadt. Hoffentlich könne er ihn manches Mal begleiten, wenn der Heeresdienst ihm auch in Zukunft nochmals Fronturlaub ermöglichen werde.
Zur gleichen Zeit habe ich mit Albert Ballin und Walther Rathenau am Rande des Tanzsaales zusammen gestanden, bis wir uns im Nachbarsaal eine kleine Sitzgruppe suchten und dort unser Gespräch über die zunehmende Inanspruchnahme der deutschen Kriegswirtschaft durch die Folgen des millionenfachen Fronteinsatzes der erwerbstätigen männlichen Bevölkerung vertieften. Doch wir drei bleiben nicht lange allein. Der Kronprinz betritt den Saal gefolgt von Oberst Bauer und Hugo Stinnes. Als er mich erblickt, kommt er mit freudigem Gesichtsausdruck zu uns herüber. Walther raunt mir zu, am liebsten würde er uns nun verlassen. So wenig Neigung verspüre er zu einer Diskussion mit dem Herrn Kommerzienrat von der Ruhr über die unabdingbare Notwendigkeit der Niederringung der französischen Kohlewirtschaft. Wir erheben uns und begrüßen die Ankömmlinge. Für sechs Personen wäre ohnehin kein Sitzplatz an diesem Tisch gewesen. Doch in der gegenüberliegenden Ecke des kleinen Saales steht eine Sitzgruppe mit zwei Sofas und zwei Sesseln, die uns Platz bietet. Wilhelm geleitet uns dorthin und ruft mit lauter Stimme eine Bedienung herbei, die unsere Bestellung aufnimmt. Ganz ohne Zweifel agiert er hier wie der Hausherr. Schon der Ton seiner Stimme signalisiert mir: Jede Unterredung, die heute noch folgen mag, wird ganz anders verlaufen als im Mai hier in seinem Büro im selben Hause. Der Kronprinz befindet sich hier in der Öffentlichkeit, ganz abgesehen davon, dass die Anwesenheit von Hugo Stinnes nicht ohne Wirkung bleiben dürfte.
Der Zechenbaron aus Mülheim ist übrigens Mitglied der Partei, deren Reichstagsfraktion zu führen inzwischen meine Aufgabe geworden ist, nachdem mein väterlicher Freund Ernst Bassermann im Juli verstarb. So ist es jetzt an mir, auf Stinnes offen zuzugehen und ihn in unser Gespräch einzubeziehen. Hugo Stinnes strahlt an diesem Abend noch größeres Selbstbewusstsein aus als sonst. Ich kann mir nur einen Reim darauf machen: Die Entlassung von Bethmann-Hollwegs als Reichskanzler vor knapp zwei Monaten schreibt er sich gemeinsam mit seinen Freunden Hugenberg und Co. auf die Fahne. Dass er dabei in engstem Schulterschluss mit der OHL handelte, muss den Triumph in seiner Wahrnehmung nur noch steigern. Die Industriellen von der Ruhr haben schließlich seit dem letzten Jahr so vorbehaltlos wie keine andere Wirtschaftsgruppe Hindenburg und Ludendorff in ihrem verschärften Kurs zur Mobilisierung aller Kräfte unterstützt. Das war zugleich gepaart mit einem signifikanten Verzicht auf Kompromissbereitschaft gegenüber unseren Gegnern im Feld. Hugo Stinnes begrüßt mich außerordentlich freundlich. Als Fraktionsvorsitzender scheine ich auch für ihn trotz mancher Differenzen in der Sache ein respektabler Gesprächspartner zu sein. Etwas anders fällt die Begrüßung meiner Freunde Walther und Albert aus. Völlig distanziert bezeichnet er sie als die Herren des Weltmarktes. Nun bliebe nur noch abzuwarten, ob sie auch noch zu den Verfechtern von Kompromissen mit der Sozialdemokratie avancierten. Dass wir alle drei dazu tendierten, sei immerhin seine feste Überzeugung. Es ist der Kronprinz, dem es gelingt zu verhindern, dass unser Gespräch sogleich unter einem ungünstigen Stern beginnt.
„Aber, aber, mein lieber Stinnes, ich habe schon so manches Hühnchen mit Herrn Doktor Stresemann im kleinsten Kreise gerupft. Und ich kann Ihnen bestätigen: Seine Auffassungen mögen manches Mal zwischen unkonventionell und mutig schwanken, dennoch ist und bleibt er einer der verlässlichsten vaterländisch gesinnten Politiker unseres Landes. Deshalb möchte ich sie alle an diesem schönen festlichen Abend herzlich bitten, nicht den politischen Streit zu suchen, sondern sich der Annehmlichkeiten des höfischen Lebens mitten im Kriege zu erfreuen.”
„Kaiserliche Hoheit, wie kommen Sie bloß auf die Idee, zwischen so vaterländisch gesinnungstreuen Nationalliberalen wie Herrn Doktor Stresemann und mich passe auch nur ein Blatt? Wir stehen unverbrüchlich zur totalen Mobilisierung unseres Heeres und unserer Rüstung durch das beherzte Eingreifen der Herren Exzellenzen Hindenburg und Ludendorff. Und wir tun dies für ein großes gemeinsames Ziel in diesem wahrlich großen Kriege: für die Erringung der Vorherrschaft Deutschlands über den europäischen Kontinent einschließlich seiner Schwerindustrie.”
„Wenn sich Ihre Skepsis, verehrter Herr Kommerzienrat, nicht gegen Ihren Parteifreund Stresemann richtet, dann werden ja wohl Herr Doktor Rathenau und ich die unsicheren Kantonisten sein, zu denen sie sich hier schweren Herzens gesellt haben.” Der Kronprinz schlägt sich mit beiden Händen auf die Schenkel und lacht laut auf.
„Herrlich, meine Herren, das nenne ich einen humorvollen, offenen Schlagabtausch unter gestandenen deutschen Männern! Aber auch Sie, lieber Herr Ballin, werden kaum bezweifeln, dass Kommerzienrat Stinnes und mit ihm die gesamte führende Gruppe der Männer von der Ruhr mit großer Weitsicht und völlig zu Recht die nachhaltige Schwächung der französischen Schwerindustrie anstreben, um nach dem Kriege auf Dauer Macht, Wohlstand und Arbeit für Deutschland zu sichern. Ich verstehe übrigens auch gar nicht, warum sich Männer der Wirtschaft seit Monaten darüber streiten, ob nun der Mitteleuropäische Zollverein und freie Märkte das Allheilmittel für die Nachkriegszeit bereithalten oder aber die Angliederung Belgiens und des Erzbeckens von Longwy / Briey an das Reich. Machen wir es uns doch nicht unnötig schwer, meine Herren! Im Friedensvertrag werden wir beides durchsetzen!”
Wilhelm lächelt daraufhin voller Zufriedenheit über seinen eigenen Humor, um sogleich Oberst Bauer fest in die Augen zu blicken.
„Oder ist unser glorreiches Herr etwa nicht dazu in der Lage, einen solchen Frieden zu erkämpfen, lieber Oberst Bauer?”
Bauer kennt seine kaiserliche Hoheit selbstverständlich viel zu lange und zu gut, um über diesen Schwenk überrascht sein zu können. Im Gegenteil strahlt er Ruhe, Gelassenheit, und Selbstbewusstsein aus, nippt am soeben servierten Kognak und lässt sich hinreißend viel Zeit mit seiner Antwort.
„Meine Herren, Hoheit, sie lassen mir viel zu viel der Ehre angedeihen, dass ich nun für die Oberste Heeresleitung sprechen soll. Doch wir dürfen wohl den Aufwand tatsächlich scheuen, zur Beantwortung dieser Frage Herrn Generalfeldmarschall von Hindenburg aus dem großen Ballsaal zu uns herüber zu holen.”
Wie im Mai bin ich fasziniert von der angenehmen Schlagfertigkeit des Obristen. Ich amüsiere mich mit einem kurzen Kichern und die übrigen Mitglieder unserer Tischrunde tun es mir gleich.
„Also will ich mein Bestes geben, um Ihnen zu antworten, kaiserliche Hoheit. Das deutsche Heer ist heute das beste der Welt. Im Osten siegen wir über einen zahlenmäßig überlegenen Gegner und rücken immer weiter vor. Im Westen halten wir einem sowohl zahlen- auch als ausrüstungsmäßig überlegenen Feind seit fast drei Jahren mutig, diszipliniert und erfolgreich stand. Somit ist eure Zuversicht, kaiserliche Hoheit, vollständig gerechtfertigt. Doch wenn ich in die fragenden Gesichter der Herren Ballin, Rathenau und Kommerzienrat Stinnes blicke, so lese ich dort die Worte: Standhalten ist ja gut und schön. Aber wie wollen sie gewinnen, Bauer? Auch auf diese Frage hat die dritte OHL eine überzeugende Antwort, so überzeugend, dass wir an unseren als unverbrüchlich richtig und notwendig erkannten Kriegszielen gänzlich und ohne Abstriche festhalten sollten. Excellenz Ludendorff und seine Mannen in der OHL sind sogar davon überzeugt, das Reich müsse in Verantwortung vor Gott, der Nation und der Geschichte all seine Kriegsziele vollumfänglich durchsetzen!”
Oberst Bauers große, sogar theatralische Worte haben uns andere ein wenig eingeschüchtert, und zudem unsere Spannung gesteigert, mit welcher Konklusion er jetzt aufwarten werde. Heißt die Lösung wohl wieder U-Boot-Krieg oder vielleicht doch inzwischen eher Russland? Mit diesem Gedanken sehe ich zu Walther Rathenau, der neben mir im Sessel sitzt. Walther lächelt mich an, beugt sich leicht nach vorn und flüstert kaum hörbar.
„Jetzt kommt wieder England.“
Ich presse die Lippen leicht aufeinander und wiege ebenfalls fast unmerklich den Kopf. Ich meine Oberst Bauer inzwischen so gut beurteilen zu können, dass ich ihm mehr zutraue als bloß die Standardantwort seiner beiden obersten Vorgesetzen Hindenburg und Ludendorff aus den zurückliegenden zwölf Monaten zu repetieren.
„Als das Jahr 1917 begann, setzten wir in der Obersten Heeresleitung unsere gesamte Zuversicht in die verheerende Wirkung unserer U-Boot-Waffe auf England. Experten aus Wirtschaft und Seehandel prophezeiten uns, England werde den Verlust kriegswichtiger Importe, von Rohstoffen und amerikanischen Halbzeugen nicht lange verkraften. Nach spätesten sechs Monaten werde die britische Kriegswirtschaft zusammenbrechen. Nun, meine Herren, diese Prognose ist nicht eingetreten. Was sollen wir nun tun? Sollen wir lamentieren und sagen, dieser oder jener Professor für Volkswirtschaftslehre in Berlin, München oder Heidelberg trage die alleinige Verantwortung?”
Bauer blickt langsam von Kopf zu Kopf in unserer Runde. Er scheint befriedigt darüber, nicht unterbrochen worden zu sein.
„Und dasselbe gilt für den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten. Wie viele unserer Experten im diplomatischen Korps sicherten uns zu, Wilson und sein Land werde immer hehrere, hochfliegende moralische Vorstellungen von einer gerechten Beendigung des Krieges entwickeln, aber trotz aller Sympathie für die Tommys draußen bleiben. Doch was passiert? Die USA treten in den Krieg ein und die erste US-Division ist bereits an der Marne in die gegnerische Front eingereiht. Und jetzt, sollen die Herren Hindenburg und Ludendorff den Kopf des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt fordern, nur weil seine Männer sich geirrt haben? Auch das hülfe uns nicht weiter! Nein, nein, kaiserliche Hoheit, meine Herren der deutschen Wirtschaft. Wir sehen nach vorne, und dann erblicken wir Chancen, ja, die Aussichten sind günstig wie nie! Warum ist das so? Weil das vaterländische Hilfsdienstgesetz greift, meine Herren. In den Fabriken herrscht Ruhe und Disziplin, weil niemand mehr von den älteren Arbeitern an die Front möchte. Und dann das Wichtigste: In Russland nimmt das Chaos seinen Lauf. Unser Freund Lenin mischt die dortigen Revolutionäre auf und predigt den Soldaten: Kehrt zurück auf eure Felder, statt den Krieg der Imperialisten und Kapitalisten auf beiden Seiten zu führen! Generalquartiermeister Ludendorff wird sich immer sicherer, dass in Russland spätestens Weihnachten die Front keine geschlossene Abwehrlinie mehr darstellt. In 1918 werden wir in Russland endgültig siegen. Dann können wir zuerst für den dortigen Kriegsschauplatz Kriegsziele formulieren, wie wir sie uns vorstellen, von Finnland über Polen vielleicht gar bis zur Ukraine. Wenn aber der Frieden mit Russland kommt, werden dort eine bis zwei Millionen Landser frei. Die werden wir, die OHL, dann nach Westen verlegen. Meine Herren, das sind kampferprobte und siegreiche deutsche Soldaten. Pah! Demgegenüber sind die Amerikaner und die Engländer ein nichts! Und wenn wir dann im Westen angreifen werden, bricht Frankreich zusammen und wir gewinnen den Krieg endgültig. - Das, kaiserliche Hoheit, ist der Plan, und er wird funktionieren!”
Oberst Bauer schwenkt mit einem Lächeln um die Lippen sein Kognakglas in die Runde, trinkt und lehnt sich wie in Zeitlupe zurück. Walther Rathenau, unter uns wohl der beste Kenner der Verhältnisse in unserer Industrie, blickt skeptisch drein, hält sich aber mit einem Wortbeitrag zurück. Ich habe mir zuvor vorgenommen, keinesfalls als erster zu sprechen. Albert Ballin, ein Fan des Kaisers wie des Kronprinzen, sieht diesen unverwandt an und erhofft sich eine Aussage. Kommerzienrat Stinnes dagegen lehnt entspannt und zufrieden im Sofa, pafft an seiner Zigarre, schmunzelt und blickt durch den ausgeatmeten Rauch schräg gegen die hohe Decke des Salons, als Wilhelm spricht.
„Phänomenal, mein lieber Oberst Bauer. Wohl der Armee, die Männer wie den Generalfeldmarschall, Generalleutnant Ludendorff und selbstverständlich auch sie an ihrer Spitze weiß! Sie haben eine wahrlich große Strategie. Und sie verfolgen diese Strategie konsequent mit allen zu Gebote stehenden Mitteln. Da ist das Hilfsdienstgesetz im Inneren, da war der plombierte Wagon für die Revolutionäre um diesen Lenin und da ist zum dritten die Verlegung von vielleicht an die einhundert Divisionen aus dem Osten nach Frankreich, um endlich auf Paris zu marschieren und die Front an der Marne zu zerreißen!
Mein lieber Doktor Stresemann, angesichts dieser Konsequenz und Genialität unserer Truppenführer, meinen sie nicht auch, dass wir da auf keines unserer vitalen Kriegsziele für die Gestaltung Europas verzichten sollten? Vor allem nicht auf Land im Westen, auf Belgien und die Rohstoffbasis der französischen Eisenindustrie? Sie brauchen jetzt gar nichts zu sagen. Ich sehe schon, dass sie sich mit Herrn Stinnes da völlig einig sind.
So, meine Herren, auch wenn es mir heute Abend nicht noch ein zweites Mal gelingen wird, eine so anregende Gesellschaft wie die ihre aufzutun, habe ich doch noch die eine oder andere Pflicht als Quasi-Gastgeber zu erfüllen. Und bevor ich mir einen Rüffel meines wehrten Herrn Papa einhandele, kehre ich nun doch lieber in den Ballsaal zurück und lege nochmals eine beschwingte Sohle aufs Parkett. Bitte entschuldigen sie mich, oder aber noch besser, begleiten sie mich gleich in den Nachbarsalon und stürzen sie sich erneut in die heiteren Gespräche der Ballgesellschaft! Denn nicht ganz Berlin will heute etwas vom Krieg und dem angestrebten Weg zu seinem Ende wissen.”
Wilhelm strahlt uns unbeschwert der Reihe nach an, erhebt sich und lässt mit ausgebreiteten Armen eine weite Geste folgen, um uns allesamt mit in den Ballsaal zurückzugeleiten. Dort bietet sich uns wieder das herrliche Bild eines hell erleuchteten Saales mit fröhlichen Menschen in festlichen Gardeuniformen oder langen Ballkleidern. Ich lasse jeden Gedanken an eine Vertiefung unseres Gespräches mit dem Kronprinzen und Oberst Bauer im weiteren Verlaufe dieses Abends fallen. Mein Blick wandert versonnen durch den Raum bis er an einer Gruppe junger Offiziere und fröhlicher Hofdamen haften bleibt. An deren Rand unterhält sich Oberleutnant Ballin mit einer zierlichen schwarzhaarigen Dame im gelben Kleid. Dann aber wende ich mich Albert und Walther zu mit einer Bemerkung über ein recht belangloses Thema, nämlich wer aus der Berliner Presse womöglich eine Einladung zu diesem Fest erhalten haben mag.
Nachdem sich Helena von Griechenland und Oberleutnant der Artillerie Ballin zu Gesprächen innerhalb der Gruppe junger Leute voneinander entfernt haben, bittet die Prinzessin den Oberleutnant eine halbe Stunde darauf erneut um einen Tanz. Diese Aufforderung der Dame war zur damaligen Zeit in der Berliner Hofgesellschaft - vielleicht im Gegensatz zum zwangloseren Athen und wohl auch noch mehr als heute 1929 - derart außergewöhnlich, dass die umherstehenden jungen Damen des Hofes die Köpfe zusammen steckten und erneut lauthals tuschelten. Helena erkennt erst jetzt, dass sie wohl eine jener Konventionen missachtet hat, die in Berlin eine starre Gültigkeit besitzen. Zu Hause in Griechenland ist es zwar auch nicht unbedingt üblich, dass beim Ball eine Dame einen Herren auffordert. Doch das gilt eigentlich nur dann, wenn sich die Herrschaften noch nicht kennen. Doch so empfindet sie ihre neue Bekanntschaft zum Oberleutnant der Artillerie aus Hamburg nach nicht einmal zwei Stunden schon nicht mehr. Merkwürdig, stellt Helena für sich fest, Thorsten Ballin, dieser etwas schüchterne Großbürger, dem der Krieg und sein kleines Kommando zugleich eine gehörige Portion Selbstbewusstsein verliehen haben mögen, ist ihr nicht nur sympathisch. Er ist ihr sogar nah!
Auch Thorsten Ballin freut sich über diese gar nicht einmal so kleine Bekundung von Sympathie seitens seiner Herzensdame dieses Abends. Erneut stellt er für sich das bemerkenswerte Selbstbewusstsein Helenas fest und ist sich inzwischen sicher, dass diese junge Frau über einen besonderen Charakter, über eine erfrischende Offenheit trotz ihrer höfischen Erziehung verfügt. Thorsten Ballin weiß bei dem soeben aufgerufenen Tanz, wie gerne er sie nach diesem Abend wiedersehen würde. Er nimmt sich vor, ihr eine Einladung nach Hamburg auszusprechen, wenngleich das nun keineswegs üblich ist und wenngleich er natürlich nicht weiß, wann er selbst in der nächsten Zeit überhaupt in seiner Heimatstadt und nicht bei seinem Artillerie-Regiment weilen wird. Doch vorerst sind seine Gedanken abgelenkt. Nach dem Tanz gesellen sich Helena und er erneut zu der kleinen Gruppe junger Leute, der sie eben bereits angehörten. Zwei junge Männer, ebenso wie Oberleutnant Ballin Offiziere in Gardeuniform, beglückwünschen ihn zu seiner guten Tanzpartnerin. Schnell kommt man ins Gespräch über das jeweils eigene Regiment und die Heimatstadt. Thorsten Ballin überlässt Prinzessin Helena erneut und unbeschwert den Damen des Hofes, bis sich die jungen Damen und Herren zu einer größeren, gemeinsamen Gesprächsrunde zusammenfinden.
Als kurz darauf der Kronprinz aus dem Nachbarsalon kommend den Ballsaal betritt, zieht dies Thorsten Ballins Aufmerksamkeit auf sich. Ursache ist die kleine Gruppe von Männern, die ihn begleiten. Sein Vater ist dabei, dessen Freund Stresemann und zwei prominente Herren der deutschen Wirtschaft, der Kohlenindustrielle Stinnes und der Präsident der AEG Rathenau. Haben sie wohl über die weiteren Aussichten des Krieges gesprochen, über die Steigerung der Rüstung oder gar über den neuen Feind Amerika? Thorsten Ballin nimmt sich fest vor, seinen Vater auf der Rückfahrt nach Hamburg danach zu fragen. Jetzt fürs Erste aber will er sich eine Strategie ausdenken, Prinzessin Helena sowohl seinen Wunsch nach einem Wiedersehen als auch eine Kontaktmöglichkeit zu übermitteln, bevor der Abend zu Ende geht. Inzwischen haben sich seine beiden Gesprächspartner aus dem Staub gemacht, um eine neue Tanzpartnerin aufzufordern. Das gibt Thorsten Ballin die Gelegenheit, wieder zu Helena aufzuschließen.
„Ist das nicht faszinierend und ein wenig unwirklich, Herr Oberleutnant. Vor wenigen Tagen noch standen sie im Schlachtengewitter der Westfront. Und heute Abend dürfen sie ein Fest mit der kaiserlichen Familie und mit allen Annehmlichkeiten, wie sie uns sonst nur der Frieden zu bieten vermag, feiern.”
„Tatsächlich, es ist faszinierend. Und auch ich empfinde diesen Ball als etwas unwirklich. Kommt man von der Front zurück in die Heimat, dann bekommt man Schwierigkeiten mit jeder Form der Normalität im Alltag. Für mich jedenfalls ist nicht dieser Ball die Normalität, sondern mit meinen Kameraden in Wind und Wetter an unseren Geschützen zu stehen. Ich habe aber, damit sie das nicht falsch verstehen, jedes Verständnis dafür, wenn eine junge königliche Dame vom Hofe zwar an den Krieg das eine oder andere Mal denkt, aber als ihre Welt dann doch eher solch schöne Bälle der kaiserlichen Familie empfindet.”
Helena lächelt Oberleutnant Ballin bei dessen Worten an, als habe sie auf so etwas nur gewartet.
„Ganz so bin ich aber doch gar nicht, Herr Oberleutnant Ballin. Ich verschließe nicht die Augen vor dem Leiden an der Front, vor der Furcht der Frauen und Kinder daheim, ob die geliebten Männer gesund zurückkehren mögen. Ich sehe sehr wohl auch die harte Wirklichkeit für das normale Volk.”
„Wenn das so ist, Prinzessin, wünsche ich mir von ihnen einen Besuch bei mir in Hamburg. Dann könnten wir uns die sehr unterschiedlichen Wohnviertel meiner Heimatstadt erwandern und ein Gespür dafür entwickeln, wie sich das Leben der einfachen Familien durch den Krieg verändert hat. Sehr gerne würde ich sie in meiner Heimat Hamburg begrüßen und genügend Zeit haben, ihnen die Stadt zu zeigen.”
„Vielen herzlichen Dank für Ihre Einladung, Herr Oberleutnant. Grundsätzlich nehme ich mit Freuden an. Doch ich kann noch nicht absehen, ob meine kaiserliche Herrin es für mich als schicklich erachtet, zu ihnen nach Hamburg zu reisen.”
„Oh, da machen sie sich mal keine zu großen Sorgen. Mein Vater ist mit dem Kronprinzen und sogar mit dem Kaiser persönlich recht gut bekannt, ich sehe daher gute Chancen, sie einmal nur für kurze Zeit der Obhut ihrer kaiserlichen Hoheit zu entziehen.”
Helena lacht und nickt.
„Ja, dann bleibe ich sehr gespannt darauf, wie ihre Einladung ausfällt, mein lieber Herr Oberleutnant Ballin. Falls sie Erfolg haben sollten, dürfen sie mir gerne ihr schönes Hamburg zeigen.”
Diese Antwort ist mehr als Thorsten Ballin für heute zu hoffen gewagt hat. Er ist mit sich und Helena durchaus zufrieden und bringt sogar die Gelassenheit auf, fortan seiner Herzensdame wieder von der Seite zu weichen. Für den weiteren Abend wechseln Helena und Thorsten sowie die übrigen jungen Leute ihrer Gruppe das Thema und wenden sich so banalen Dingen zu wie dem Tanz, dem Essen oder gar so großen Dingen wie dem Studium und der Arbeit oder auch dem Gedanken an eine - stets standesgemäße und großartig gefeierte - Eheschließung samt Familiengründung nach diesem Kriege.
Zur gleichen Zeit an jenem Abend, es war bereits eine Stunde vor Mitternacht, geriet Albert Ballin in eine Unterredung zwischen zwei Parteifreunden. Hugo Stinnes und ich tauschten uns gerade über die Leistungen des heute Abend abwesenden Generalquartiermeisters aus. Albert Ballin stellte, wie er mir kurz darauf gestand, fasziniert fest, wie ruhig und selbstbewusst sein beinahe zwanzig Jahre jüngerer, seit der Übernahme des Fraktionsvorsitzes im Juli überaus einflussreicher Freund, wieder einmal agierte. Ihm persönlich war Stinnes arrogantes Auftreten, sein zur Schau getragener Anspruch auf die unbedingte Führungsrolle der Ruhrindustrie innerhalb der deutschen Wirtschaft, suspekt, unsympathisch, ja mehr als das. Ballin mied instinktiv das Gespräch im kleinen Kreise mit einem Mann, dem der Ruf vorauseilte, er kaufe jede Steinkohlenzeche auf, wenn sich nur eine Gelegenheit dazu biete. Ballin nahm Stinnes übrigens als einen Bruder im Geiste von Alfred Hugenberg wahr, der zweiten unbestrittenen Führungsfigur der Ruhrindustrie. Der Vorstandsvorsitzende von Krupp war wichtigster Financier sowohl des Alldeutschen Verbandes als auch der Nationalliberalen Partei. Trotz ihrer wirtschaftlichen Erfolge mit der HAPAG und der AEG konnten er, Ballin, und unser gemeinsamer Freund Walther Rathenau da keinesfalls an Einfluss mithalten. So spürte Albert Ballin seit der Berufung der dritten OHL ein wachsendes Unbehagen. Die Falken von der Ruhr mit ihren manches Mal überhand nehmenden Forderungen nach Land und deutscher Macht im Westen wie im Osten gewannen zuletzt zu viel Einfluss auf das politische Leben, auf Organisationen, die der militärischen wie der zivilen Reichsleitung nahe standen. Hinzu trat offenbar zu allem Überdruss die große Nähe in der Sache zwischen den Ruhrindustriellen und Erich Ludendorff. Angesichts der augenscheinlichen Behäbigkeit des Generalfeldmarschalls war der Quartiermeister bereits damals im September 1917 sicherlich die entscheidende Figur des Heeres. Die Übereinstimmung jener Herren darin, den Arbeitern sowohl im Betrieb als auch in Preußen nicht mehr Mitsprache einzuräumen, der feste Wille, dass der Krieg innenpolitisch nicht als Katalysator für Reformen wirken möge, vollzog Albert Ballin persönlich nicht nach. Seine monarchische Gesinnung, seine vaterländische Haltung hielten ihn nicht davon ab, die Zukunft Deutschlands gerade auch durch Reformen im Inneren zu sichern.
„Wir an der Ruhr sind sehr froh darüber, mit welcher Ernsthaftigkeit seine Exzellenz, der Generalquartiermeister, unsere nationalen Interessen in der Reichsleitung, gegenüber dem Reichskanzler und auch dem Kaiser vertritt. Zum Kronprinzen soll er, wie man so hört, ebenfalls beste Drähte unterhalten. Da können wir Nationalliberalen doch wohl augenblicklich recht zufrieden sein, nicht wahr, verehrter Herr Doktor Stresemann?
„In der Tat, ich bin, was die Kommunikation mit der Reichsleitung anbelangt, derzeit recht gut gestimmt. Ich persönlich stelle ebenso fest, dass die maßgeblichen Herren das Gespräch mit dem Fraktionsvorsitzenden durchaus suchen. Besonders wichtig ist mir aber, dass wir uns als Partei und als gesamte Nation noch mehr als bisher mit der Bestimmung dessen befassen, was denn nun die unverzichtbaren nationalen Interessen sind, die uns in den Frieden führen müssen.”
„Unverzichtbar, das ist, mit Verlaub gesagt, das falsche Wort, das falsche Maß, Herr Doktor Stresemann. Es geht doch nicht um das, was wir als Mindestmaß festlegen. Es geht doch wohl darum, was wir wollen, um Europa in Zukunft zu beherrschen. Der natürliche Vorsprung der deutschen Industrie gegenüber unseren Nachbarn in West und Ost muss durch den Frieden auf unabsehbare Zeit gefestigt werden. Da wollen wir doch nicht zu klein denken!”
„Verehrter Herr Kommerzienrat Stinnes, da haben sie vollkommen Recht und mich womöglich nur ein klein wenig missverstanden. Selbstverständlich wird das Deutsche Reich nur dann einem Friedensschluss zustimmen, wenn dieser die Lebensgrundlagen unserer Nation festigt und ausbaut. Wir sind das größte Volk Europas und unsere Industrie ist nach derjenigen der Vereinigten Staaten die größte und modernste der Welt. Das gibt uns das Recht, für die Zukunft Märkte zu erstreben, die den Wohlstand von 70, 80, irgendwann einmal 100 Millionen Bürgern unseres Reiches sicher stellen. So weit herrscht ganz ohne Frage Einigkeit zwischen allen maßgeblichen Herren der Nationalliberalen Partei, und allen Männen in der Wirtschaft, die uns unterstützen. Worüber wir aber vielleicht noch eindringlicher reden müssen, sind die Gegebenheiten, die abzuwägenden Eventualitäten, verehrter Herr Kommerzienrat, unter denen der Feind sich an den Verhandlungstisch mit uns setzen wird.”
„Mein lieber Doktor Stresemann, ihre Vorsicht und Weitsicht in allen Ehren. Sie sind Politiker und nicht Wirtschaftsführer, deshalb steht es ihnen vielleicht zu, derartige Überlegungen anzustellen. Ich sehe das hingegen - übrigens in völliger Übereinstimmung mit meinen Freunden Alfred Hugenberg und Albert Vögler als den Sprechern der Nordwestdeutschen Eisen- und Stahlindustrie - dann doch eher so wie Herr Generalleutnant Ludendorff. Bei meinem letzten Besuch im Großen Hauptquartier in Spa eröffnete er uns, Longwy und Briey seien bald, sehr bald deutsch. Das Hilfsdienstgesetz greife und es erhöhe sich die Produktion an Munition und Waffen. Vor allem aber gelte dies nicht für die Franzosen. Und die Engländer litten unter unserer U-Boot-Blockade. In dem Moment, in dem wir zig Divisionen aus dem Osten abziehen könnten, weil Russland zusammenbreche, sei auch im Westen der Krieg entschieden. Sie sehen, lieber Doktor Stresemann, ihre Sorgen um den Frieden sind nun wirklich unbegründet. Wir werden bekommen, was wir verlangen. Mehr als das, wir werden bekommen, was unser Volk für seine große Zukunft so dringend benötigt. Achten sie als unser Fraktionsvorsitzender eher einmal darauf, dass die Reichsregierung Michaelis nicht genau so zaudert wie dieser Bethmann-Hollweg. Es war unentschuldbar, dass der Reichskanzler a.D. ständig auf die restlose Durchsetzung der berechtigten Ansprüche Deutschlands einzig aus falscher Rücksicht auf die sogenannte Stimmung unter den europäischen Völkern gegenüber dem siegreichen Reiche verzichtete.”
Albert Ballin verspürte offenbar wenig Lust, gegen Stinnes Überheblichkeit und zur Schau getragene Zuversicht weiter anzurennen. Ein wenig hilflos sah er mich an. Das war ein Fehler! Denn Kommerzienrat Stinnes nahm dies sogleich als Aufforderung, mich mit der Frage zu überziehen, ob er und Ludendorff denn nicht die fraglos richtigen Schlüsse aus der Weltlage zögen. Inzwischen hatte sich Albert gefasst und setzte zu einem eindrucksvollen Statement an.
„Herr Kommerzienrat, ich schätze seine Exzellenz, Herrn Generalleutnant Ludendorff über alle Maßen. Seitdem der Generalfeldmarschall und er an der Spitze der OHL stehen, gibt es wieder eine Richtung und ein Ziel in diesem Land. Die Männer der Wirtschaft und der Politik und die Millionen Arbeiter und Soldaten wissen nun, wofür wir kämpfen, wofür wir die Zähne zusammenbeißen und jeden Tag hart arbeiten, wofür die Hausfrau den Gürtel enger schnallt und mit Rüben und Kartoffeln den Tisch deckt. Erst steigern wir die Produktion, so dass unsere Landser gefüllte Munitionsdepots haben. Dann greifen wir zum richtigen Zeitpunkt und mit der überlegenen Strategie einen Feind an, der schwächer wird.
Und dann, was passiert aber dann, mein verehrter Herr Stinnes?
Werden unsere glorreichen Truppen dann Paris erobert haben, in der Bretagne und an den Alpen stehen? Mit Verlaub, ich glaube das nicht. Wir können einen Achtungserfolg erringen, vielleicht Verdun nehmen und die Marne überschreiten. Der Feind würde dann einsehen, dass er uns in Frankreich niemals wird besiegen können. Die Entente wird dann wohl bereit sein, Frieden mit uns zu schließen, ohne deutsches Land aus dem Deutschen Reiche herausschneiden zu wollen. Aber die Entente wird uns dann noch lange nicht all das geben, was sie von der Ruhr in Lothringen und Belgien fordern. Sie sehen, ich bin kein Defätist, Herr Kommerzienrat. Ich bin Realist, und stelle mir deshalb fortwährend die Frage, wie wir aus diesem Kriege wieder herauskommen. Ich suche dabei nach neuen Wegen, um Deutschlands unbestrittenen Vorrang, unsere Suprematie in Europa zu wahren und dem Feind den Frieden ebenfalls schmackhaft zu machen. Ich möchte sie herzlich bitten, über meine Ansicht einmal in Ruhe nachzudenken und diese meine Worte einmal mit an die Ruhr zu nehmen und mit ihren Freunden zu erörtern.”
„Nun dann, Herr Ballin, nehmen sie aus dieser Runde nicht den Eindruck mit, ich gäbe ihnen unumwunden Recht. Ich bin sehr wohl davon überzeugt, dass die französische Armee noch zusammenbrechen und von uns bis vor die Alpen getrieben werden wird! Ich nehme indes ihre Worte dennoch mit zu den Herren Hugenberg, Vögler, Reusch und Thyssen. Denn wir an der Ruhr müssen schließlich auch wissen, wie sie vom Handel und von der Exportwirtschaft denken, und anschließend ihre Stimme gegenüber der Reichsleitung erheben. Wir werden uns schon unsere Gedanken darüber machen, welche Schlüsse wir daraus zu ziehen haben.”
Hugo Stinnes verabschiedete sich nun mit einem Lächeln von Albert Ballin und mir, um sich einer Gruppe um den Kronprinzen in einer anderen Region des Ballsaales zuzuwenden. Mir ging spontan der Gedanke durch den Kopf: Hoffentlich lässt sich seine kaiserliche Hoheit von diesen säbelrasselnden Alldeutschen, ob in Uniform in Spa oder im eleganten Anzug und als Herren über zehntausende von Arbeitern in den Zechen und Eisenhütten an der Ruhr, bloß nicht zu sehr einnehmen. Je schwächer der Kaiser wirkt, um so mehr hören die Ludendorffs, die Michaelis oder eben auch die Hugenbergs auf Kronprinz Wilhelm. Ich muss sehr darauf achten, dass mein Kontakt zu seiner kaiserlichen Hoheit nicht abreißt. Das wäre fatal, nicht nur für den Einfluss der Nationalliberalen Fraktion auf die Geschehnisse im Reich. Es wäre vielleicht noch fataler für die Chancen, zum richtigen Zeitpunkt mit den richtigen Männern und vor allem mit dem richtigen Programm den Frieden zu gewinnen.
Ich kam nicht umhin, Albert etwas Sorgen beladen anzuschauen.
„War ich zu forsch, Gustav? Habe ich gar etwas Falsches gesagt?”
„Aber nein, lieber Albert! Du hast ja so Recht! Nur geht es mir so, dass ich Stinnes letzte Sätze mehr als Drohung denn als Anerkennung für deine Position verstehe. Er stimmt dir und mir nicht zu. Deshalb wird er mit seinen Freunden in der Ruhrlade darüber sprechen, wie er unseren Einfluss auf Ludendorff, den Kanzler und den Kronprinzen vermindern kann. Ich sage es dir, lieber Albert. Die Zeiten werden nicht einfacher für Leute wie dich, Walther oder mich, für realistisch denkende und zugleich national empfindende Leute eben, die versuchen, den Krieg zu einem guten Ende zu führen.”