Читать книгу OHNE SCHULD - DIE GANZE GESCHICHTE - Maike Maja Nowak - Страница 10

2 Unschuld

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Ungläubig betrachtet Mascha den Hund. Sie möchte den Vater umarmen, doch sie weiß, dass er Berührungen nicht mag. Deshalb ruft sie mit strahlenden Augen: »Danke, Papa, ich freue mich so sehr!« Der Vater nickt und wendet sich ab.

»Du warst lange weg«, sagt die Mutter und sieht ihn fragend an.

»Ja, ja. Es ist etwas dazwischengekommen.« Der Vater entfernt sich mit abweisender Miene.

»Darf ich in mein Zimmer gehen?« Mascha drückt den Hund fest an ihre Brust. Sie schaut die Mutter erwartungsfroh an, die lächelnd ihre Tochter anblickt. »Freust du dich?«

Mascha hat einen Kloß im Hals und räuspert sich. »Mama, das werde ich euch nie vergessen.« Sie stürmt in ihr Zimmer.

Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hat, schießt eine Flut an Tränen aus ihren Augen, als hätte sich eine Schleuse geöffnet. Das Gefühl, jetzt einen Gefährten zu haben, überwältigt sie. Instinktiv wiegt sie den kleinen Hund in ihren Armen.

»Du bist jetzt mein Freund«, bringt sie zwischen zwei Schluchzern hervor.

Der Hund liegt regungslos wie ein Steiftier auf dem Rücken und sieht sie benommen an.

Sie verstärkt das Schaukeln. »Und ich werde dich niemals anschreien oder hauen. Das verspreche ich dir«, bekräftigt sie in einem fast feierlichen Tonfall, der den Hund zu erreichen scheint, denn er hebt seinen Blick und sieht sie aufmerksam an.

Als ihre Blicke sich begegnen, spürt Mascha ein freudiges Ziehen in ihrem Herzen. Es ist schmerzhaft und zugleich schön. »Tinkapur, so nenne ich dich.« Der Einfall überrascht sie, wie viele ihrer Ideen. »TIN-KA-PUR …«, sie lauscht dem Klang des Wortes hinterher und nickt. »Das ist ein schöner Name, nicht wahr?«

Sie schaut auf den Hund, und er beginnt mit den Beinen zu strampeln.

Mascha setzt ihn auf den Boden und beobachtet ihn gespannt, den Oberkörper nach vorn gebeugt. Auf noch wackeligen Pfoten tapst der Welpe umher und schnüffelt an Möbelbeinen, am Teppich und an Maschas Spielsachen, die auf dem Boden liegen. Sein Blick fällt auf einen hinuntergefallenen Bleistift. Vorsichtig stupst er ihn mit der Nase an und macht einen erschrockenen Hopser zur Seite, als dieser sich bewegt.

Dann entdeckt er ein blaues Band, das über dem Rand des Papierkorbes hängt. Er muss sich auf die Hinterbeine stellen und mit den Vorderpfoten am Korb abstützen, um heranzukommen. Als er das Band zu fassen bekommt, schüttelt er es so kräftig, dass seine Schlappohren fliegen.

Mascha hält sich den Bauch vor Lachen. Die rotbraune Zeichnung um die Augen des Hundes erinnert sie an eine Räubermaske, die sie einmal zum Fasching trug, auch wenn die schwarz gewesen war. Die Schlappohren des Hundes sind von der gleichen kastanienbraunen Farbe, und auf seinem Kopf steht ein wenig Flaum nach oben wie zartes Gefieder. Es ist weiß, wie auch der Rest des Hundes. Am schönsten findet Mascha jedoch seine Nase. Sie sieht aus wie ein Herz. Obwohl Mascha bei genauerer Betrachtung feststellt, dass der Haut an der Nasenwurzel nur ein wenig schwarze Farbe fehlt, bleibt sie bei ihrem Eindruck.

Sie kann nicht aufhören zu lächeln, während sie den Hund betrachtet, und ihre Augen glänzen in stiller Freude.

Jetzt streift der Blick des Welpen Maschas grüne Hauslatschen, und übergangslos lässt er das Band fallen. Mit einem unerwartet großen Satz springt er nach vorn und taucht mit seinem Kopf in die Öffnung eines Schuhs. Der Schuh gibt seinen Kopf nicht wieder frei, und Mascha hört das aufgeregte Fiepen des Hundes dumpf hinter der Dämmung des Filzes.

Sie eilt ihm zu Hilfe und befreit ihn, und darauf schüttelt sich der Welpe und wedelt freudig mit der Rute, die dabei einem weißen zarten Flügel gleicht, denn das Fell hängt von ihr herunter wie ein Federschweif.

»Tinkapur, du bist so schön!« Mascha klatscht in die Hände, und ihre Augen strahlen.

»Mama! Ich habe den besten Namen der Welt für meinen Hund!« Das Mädchen kommt in die Küche gerannt. Die dunkelhaarige, schlanke Frau sieht vom Abwasch auf und lächelt gelöst. So hat sie Mascha schon lange nicht mehr erlebt. Bevor sie nach dem Namen fragen kann, schmettert ihr das Kind triumphierend seinen Einfall entgegen: »Sie heißt Tinkapur!!!«

Die Augen der Mutter vergrößern sich zu einem ungläubigen Staunen. »Tinkapur? Was soll denn das für ein Name sein, Mascha? So nennt man doch keinen Hund. Niemand tut das!« Sie runzelt die Stirn und spürt Unmut wie einen vagen Schatten in sich aufsteigen.

Mascha weicht instinktiv einen Schritt zurück, um sich in Sicherheit zu bringen. »Nenn die Hündin doch Tinka, das ist ein hübscher Name«, schlägt die Mutter vor, und Mascha bemerkt, wie sich ihre Stirnfalten wieder glätten bei dieser Idee.

»Niemals, mein Hund heißt TINKAPUR!« Mascha stampft mit dem Fuß auf und betont: »In Großbuch-staben!« Dann verschränkt sie die Arme.

Die Mutter sieht sie mit zusammengekniffenen Augen und gerümpfter Nase an. »Du hast immer Ideen …« Sie lässt offen, was sie damit meint, doch man spürt den Tadel darin. »Also, da diskutiere ich gar nicht. Der Hund heißt entweder Tinka, oder du gibst ihm einen anderen vernünftigen Namen.«

Mascha spürt, wie etwas in ihrem Hals sich bedrohlich eng zusammenzieht. »Das ist mein Hund! Ihr habt ihn mir geschenkt. Dann darf ich auch den Namen aussuchen!«, presst sie fast schreiend heraus. Um einem erneuten Widerspruch zuvorzukommen, dreht sich Mascha um und läuft schnell in ihr Zimmer.

In der Küche zieht die Mutter die Hände aus dem Spülbecken und lässt die Arme sinken. Sie merkt nicht, wie das Wasser langsam von ihren Händen auf das graue Linoleum tropft. Sie versucht den Zorn zurückzuhalten, der in ihr aufsteigt.

Kann das Kind nicht EINMAL auf mich hören, wenn ich ihm sage, dass etwas unsinnig ist, denkt sie verärgert. Warum muss es immer weiter auf seinen Vorstellungen beharren?

Das ist so zermürbend und kräftezehrend.

Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, noch einmal ein Kind durchzusetzen gegen einen Mann, der keine Kinder will und sie damit allein lässt. Sie hatte fest daran geglaubt, Werner würde seine Meinung ändern, wenn es erst einmal da ist. Aber wie schon bei ihrem verstorbenen Jungen war es nicht so gewesen.

Sie weiß nicht, was er gegen das Kind hat. Sie braucht es jedenfalls unbedingt. Mit Mascha fühlt sie sich nicht mehr so verloren und leer. Das Kind hat ihr Leben mit seinem Leben erfüllt. Und wenn sie ihm nicht ständig die Flausen austreiben müsste, damit es sich nicht so unangenehm anfühlte … So schön war es gewesen im ersten Jahr mit Mascha. Das hatte sie genossen, auch wenn sie das Baby tagsüber in eine Pflegestelle geben musste, um zu arbeiten. Am Abend hatte es mit seinen kleinen Händen in ihr Gesicht gepatscht und gelacht, wenn sie es in die Speckfalte im Nacken küsste.

Erst als Mascha zu krabbeln und zu laufen begann, hatten die Schwierigkeiten angefangen. Ständig hatte sie ihr etwas verbieten müssen, und selten hatte das Mädchen dann einfach getan, was man ihm sagte. Immer hatte es wissen wollen warum und weshalb und über jede Kleinigkeit diskutiert.

Nach einem Arbeitstag war sie oft müde, denn auch der Haushalt wartete noch auf sie. Das Kind verlangte ihr viel ab. Sie war froh gewesen, als es sich dann immer mehr mit sich selbst zu beschäftigen begann und stundenlang in seinem Zimmer verschwunden blieb. Dennoch empfindet sie seine immer wieder auftauchenden seltsamen Einfälle oft als beängstigend.

Da war zum Beispiel die Sache mit den Indianerfiguren, die sie auch nach Jahren noch beschäftigte. Am liebsten spielte das Kind mit diesen Gummifiguren, und als es drei Jahre alt war, wurde sie einmal von lauten, wehklagenden Schreien aufgeschreckt, die aus seinem Zimmer kamen. Sie hatte erschrocken die Tür aufgerissen und Mascha mit gespreizten Beinen auf dem Boden liegend vorgefunden. Das Mädchen hielt eine Indianerfigur über sich, die sie ihr kurz zuvor geschenkt hatte, und brüllte laut.

Auf ihre entsetzte Frage, was sie da tue, war Mascha verstummt, hatte sie erstaunt angeblickt und geantwortet: »Ich bringe den Indianer zur Welt, sonst kann er doch nicht leben.«

Solcher Art Einfälle erschreckten sie. Warum konnte ihr Kind nicht so sein wie Carola, die Tochter ihrer Freundin. Sie war einfach ein nettes Kind und tat, was man ihm sagte. »Tinkapur, in Großbuchstaben.« Sie stößt empört die Luft aus, während sie die Worte ihres Kindes wiederholt. »O Mann, das ist doch vollkommen verrückt!«

»Tinkapuuuuuur!«, hört sie Mascha in ihrer Vorstellung auf der Straße rufen.

Und Mascha hat nicht nur eine laute Stimme, sie stellt auch mit ihrem Körper stets ausdrucksvoll dar, was sie erzählt. Oft genug hatte sie sie ermahnt: »Sprich doch leiser. Fuchtel nicht so mit den Armen herum! Alle schauen bereits her!« Doch das Mädchen änderte sich einfach nicht. Und jetzt noch dieser dumme Name.

Die Mutter hasst es, aufzufallen. Jegliche Blicke verunsichern sie. Oft ist ihr bereits übel, wenn sie das Haus verlässt und zur Straßenbahn geht. Wird sie von jemandem länger angesehen, macht ihr das ein flaues Gefühl im Magen, und alles in ihr verkrampft sich. Schon die Vorstellung, durch den Namen des Hundes Aufsehen zu erregen, lässt Panik in ihr aufsteigen.

Sie stürmt in das Zimmer ihres Kindes.

»Du kannst hier nicht machen, was du willst! Der Hund bekommt einen normalen Namen, das sag ich dir!«

Mascha reißt erschrocken die Augen auf und lässt überrascht das Band fallen, das sie gerade spielerisch vor der Schnauze des Hundes über den Boden gezogen hat. »Ich möchte aber über meinen Hund bestimmen«, sagt sie trotzig.

»Das werden wir ja sehen, Fräulein!« Die Stimme der Mutter kippt über. Ihre erhobene Hand bleibt in der Luft hängen.

Es ist nicht der angstvoll flackernde Blick des Mädchens, der sie vom Zuschlagen abhält. Es ist der Blick des Hundes, der sie mit großen Augen direkt ansieht.

In ihnen liegt ein Ausdruck von Unschuld, der etwas in ihr berührt, das ebenfalls unschuldig ist.

OHNE SCHULD - DIE GANZE GESCHICHTE

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