Читать книгу OHNE SCHULD - DIE GANZE GESCHICHTE - Maike Maja Nowak - Страница 11

3 Trauer

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»Abendessen!« Mascha freut sich wie jeden Tag über diesen Ruf der Mutter. Alle kommen dann zusammen. Auch der Vater. Wenn die Mutter eine Kerze oder ein paar Blümchen auf den Tisch stellt, fühlt sich Mascha so kostbar wie ihr großer Bruder. Mutter bringt ihm oft Blumen und eine Kerze auf den Friedhof. Doch darüber darf man nicht sprechen. Die Worte »Sterben«, »Tod« und »Grab« sind Eisworte, wie Mascha sie nennt, denn das Gesicht der Mutter friert ein, wenn sie eines davon verwendet.

Gerne würde sie noch einmal mit der Mutter zusammen auf den Friedhof gehen. Als Richard vor sieben Jahren in einer Kiste in die Erde hinabgelassen wurde, konnte Mascha ihn dort gar nicht spüren. Im Gegenteil. In der Kapelle aufgebahrt hatte er ausgesehen wie eine Porzellanpuppe und nicht mehr wie ihr Bruder, mit dem sie so gerne gespielt hatte und an den gekuschelt sie jede Nacht eingeschlafen war. Dafür spürt sie ihn jetzt unter ihrem Lieblingsbaum, der Trauerweide, am Fluss.

Unter dem wogenden langen Blättermantel ist es oft so, als fülle sich die Luft mit etwas, das sich anfühlt wie ihr Bruder, nur eben ohne Körper.

Mascha beobachtet, wie die Mutter eine kleine weiße Kerze auf dem Abendbrottisch anzündet. »Setz den Hund auf den Boden, wenn wir essen, er ist keine Puppe«, hört sie die Stimme des Vaters hinter sich sagen. Sie klingt eigentlich nicht tadelnd, eher wie eine sachliche Zurechtweisung.

Mascha dreht sich zu ihm um, und die Dankbarkeit über ihren neuen Gefährten zaubert ein warmes Leuchten in ihre Augen. »Papa, sie heißt Tinkapur!«, ruft sie enthusiastisch, während sie den Hund auf dem Küchenboden absetzt. Doch die verschlossene Miene des Vaters öffnet sich nicht.

Der Welpe beginnt neugierig die Umgebung zu untersuchen. Alle Blicke folgen ihm, und das Klackern seiner Krallen auf dem Linolium ist für kurze Zeit das einzige Geräusch im Raum.

Plötzlich senkt er das Hinterteil und setzt ein Pfützchen auf den Boden. Dann schüttelt er sich.

»Schnell, einen Lappen!«, ruft die Mutter Mascha hastig zu. Sie wirft einen besorgten Seitenblick auf den Vater.

Noch bevor Mascha den Lappen ergreifen kann, hat der Vater den Hund im Nackenfell gegriffen und seine Schnauze in die Pfütze gestoßen. »Das passiert, wenn du in die Wohnung machst! Merke es dir!« Er sagt es mit strenger Stimme, und Mascha spürt seine Empörung und dahinter eine Verärgerung, die sich jeden Moment noch mehr Luft machen könnte.

»Werner, sie ist doch noch ein Hundebaby und muss das erst lernen!«, ruft die Mutter beschwichtigend und sieht ihn dabei flehentlich an.

Das Gesicht des Vaters beginnt sich zu verschließen, und Mascha springt schnell auf ihn zu. Sie greift wieder mit beiden Händen nach der Hand des Vaters. »Papa, nicht böse sein. Tinkapur wird alles ganz brav machen, wenn sie es gelernt hat.« Sie drückt ihre Wange an den Handrücken des Vaters, doch er zieht die Hand zurück, als hätte er sich am Gesicht des Kindes verbrannt. Wie eine Fremde starrt er sie an und sagt fast tonlos: »Du bringst jetzt den Hund in dein Zimmer. Dort bleibt er, und du auch!«

Die Stimme des Vaters duldet keinen Widerspruch mehr. Mitunter empfindet ihn Mascha wie eine verwunschene Festung. Selbst wenn sich seine Zugbrücke einmal senkt, reicht es, dass sie diese betreten will, und schon schnappt sie wieder hoch.

Was mache ich denn falsch, denkt sie, während sie Tinkapur zurück in ihr Zimmer bringt. Wenn ich doch nur herausfinden könnte, wie ich mich verhalten müsste. Wie ich richtig für ihn wäre.

Eng drückt sie den kleinen Hund an ihre Brust und wirft sich rücklings auf ihr Bett. Es tut gut, das pochende Hundeherz zu spüren. Es erinnert sie daran, wie sie damals eng aneinander liegend ihre Traurigkeit mit ihrem Bruder teilen konnte.

Seit er fort ist, hat sie auch ihr eigenes Herz nicht mehr so stark schlagen gespürt. Jetzt ist dieses Gefühl wieder da.

»Tinkapur, du magst mich doch, nicht wahr?«

Der Hund sieht sie an, und Mascha hat das Gefühl, sein Blick könne ungehindert tief in sie hineinsehen.

»Du verstehst mich, stimmt’s?«

Tinkapur leckt ihr übers Kinn und legt seine Schnauze auf ihre Brust.

OHNE SCHULD - DIE GANZE GESCHICHTE

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