Читать книгу OHNE SCHULD - DIE GANZE GESCHICHTE - Maike Maja Nowak - Страница 12

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Ich werde zu spät kommen! Maschas Schritte werden schneller. Sie hat verschlafen. Die Brücke vor ihrem Haus liegt zwar schon hinter ihr, aber die Hauptstraße zur Schule ist noch lang. Wäre sie doch nur mit der Straßenbahn gefahren. Nun ist es zu spät.

Sie beginnt zu rennen.

Der Ranzen hopst im Takt ihrer Schritte an ihrem Rücken hoch und runter. Die Dinge darin machen: »Plom, Plürr, Krrr, Happ«, wenn sie auf dem Boden des Ranzens aufschlagen.

Ob sie in der Klasse von ihrem Hund erzählen soll? Sie ist sich unschlüssig, wie so oft, wenn sie etwas erzählen möchte. Nie weiß sie, ob es ihr Ärger einbringt oder nicht.

Gerade vor zwei Tagen hatten ihre Klassenkameraden sich über die Berufe ihrer Väter unterhalten.

Mascha hatte auf dem Schulhof am Rand der Gruppe gestanden und immer mehr Herzklopfen verspürt, weil ihr klar wurde, dass sie mit den Erzählungen der anderen nicht hätte mithalten können. Die Berufe waren immer bedeutsamer geworden und die Einzelheiten immer erstaunlicher. Als dann Sascha von den Rockkonzerten seines Vaters berichtet hatte, waren alle ganz still geworden, und einige hatten mit offenem Mund zugehört.

Die Gruppe wollte sich gerade auflösen, als Matthias auf einmal behauptet hatte, sein Vater wäre Pilot und hätte ihm einen Fallschirm geschenkt. »Du lügst, dann zeig uns den Fallschirm doch!« Sascha war drohend auf den Jungen zugegangen.

Matthias hatte die Arme ausgebreitet und mit einem Blick in die Ferne eine ausladende Kreisbewegung gemacht: »Der Fallschirm ist soooo groß und aus goldenem Stoff.«

Seine Übertreibung war so offensichtlich, dass Sascha ihm eine Ohrfeige gegeben und ausgerufen hatte: »Du Lügner!«

Matthias hatte sich verteidigt: »Ihr seid selber Lügner, ihr habt doch auch alle geschwindelt.«

Plötzlich waren sämtliche Kinder auf ihn losgegangen, und Matthias hatte es gerade noch geschafft fortzulaufen, bevor er Prügel bezog. Seitdem sprach niemand mehr mit ihm.

Unschlüssig wägt Mascha ab, ob die anderen es nun gleichfalls für eine Lüge halten würden, wenn sie erzählte, dass sie einen Hund geschenkt bekommen hatte. Schließlich war sie damit die Erste in der Klasse. Doch sie kommt zu keinem Ergebnis und atmet resigniert aus beim Laufen.

»Wuh! Wwwwwuh! Wuh!« Mascha stoppt am Garten des Dobermannes. Wie jeden Tag schnauzt er sie an, obwohl sie ihm seit einem Jahr ihr Pausenbrot gibt. Schnell zieht sie den Ranzen vom Rücken und holt ihre Brotbüchse heraus.

Der Hund starrt sie mit gelben Augen drohend an, und seine Ohren sind steil aufgerichtet wie zwei Ausrufezeichen. »Nun gib schon her!«, scheint er sagen zu wollen.

Manchmal vermutet sie, er könnte wissen, dass sie das Brot nur loswerden möchte, und ist ihr deshalb nicht dankbar.

Sie öffnet die silberne Brotbüchse, und die Stulle bricht sofort in drei Teile auseinander, als sie auf den Boden des Gartens fällt. Zwei dicke Scheiben Vollkornbrot und eine Scheibe Blutwurst. Ohne Butter.

Um das Schulbrot kümmert sich immer der Vater, damit die Mutter ihr keinen »Schmackes« mitgibt, wie er es nennt. »Man wird dick, wenn man so ein Zeug wie Misch- und Weißbrot isst«, sagt er. »Auch von Butter wird man fett, und von Salami und von Leberwurst. Sülzwurst, Blutwurst und Schabefleisch vom Rind sind mager. Davon bekommst du Muskeln und keinen Speck auf die Rippen!«, erklärt er gern.

Anfangs hatte Mascha angeführt: »Aber in meiner Klasse sind nur zwei Kinder dick, alle anderen sind dünn und essen solche Sachen jeden Tag. Sie essen sogar Kuchen, Schokolade und Kekse!« Doch der Vater hatte nur die Nase gerümpft und zurückgegeben: »Die Kinder in deiner Klasse werden schon noch dick. Du wirst es sehen. Und dicke Leute sind Weicheier und haben keine Disziplin. Willst du so jemand sein?«

Für Papa war damit das Thema erledigt gewesen, und seine Pausenbrote blieben weiterhin ohne Butter. Jedes Mal, wenn sie in der Schule ankam, wölbte es sich bereits an den Rändern nach außen, und Mascha bekam es nicht hinunter, selbst wenn sie Hunger hatte. Es war zu trocken, und Blutwurst wie Sülzwurst ekelten sie, denn das Gedärm darin sah aus wie lebendige Würmer.

Der Dobermann schlingt das Pausenbrot unbeeindruckt in sich hinein und schnauzt sie weiter an: » Wwwwwwwuh, Wuh! Wuh! – Los, da geht doch noch was!«

Seine kalten Augen glitzern sie ohne Dankbarkeit an.

Mascha streckt den Kopf nach vorn und sagt in auftrumpfendem Ton: »Ich habe jetzt auch einen Hund!« Heiße Freude durchfährt sie bei dem Gedanken an Tinkapur.

Der Dobermann legt sich auf die Wiese und gähnt.

Sie klemmt ihre Daumen unter die Riemen des Ranzens, damit er nicht mehr so auf- und abschlägt, und läuft hastig weiter.

Maschas Deutschlehrerin, Frau Weishaupt, schimpft nicht. Sie sieht nur verwundert auf, als Mascha mit verlegenem Gesichtsausdruck hereinhuscht.

Es ist still in der Klasse, und die Kinder sind konzentriert über ihre Schulhefte gebeugt. Flüsternd erklärt die Lehrerin Mascha die Aufgabe. »Schreibe ein Gedicht mit nur einer Strophe über einen Ort, an dem du dich wohlfühlst.« Aufmunternd lächelt sie dem Mädchen zu, denn sie weiß, wie gerne es schreibt.

Mascha blickt ihr erleichtert nach, als sie weitergeht. Die blonden Haare der Lehrerin sind heute wie ein kleines Nest auf dem Hinterkopf zusammengesteckt. Was für ein Glück ich doch habe, denkt sie. Ausgerechnet heute habe ich die erste Stunde bei meiner Lieblingslehrerin. Frau Weishaupt ermutigte sie oft, auch außerhalb der Schule Gedichte und Geschichten zu schreiben. »Du bist wirklich begabt«, sagte sie dann, und Mascha spürt an ihrem anerkennenden Tonfall, dass eine Begabung offenbar etwas Schönes und Besonderes ist. Deshalb zeigt sie Frau Weishaupt auch manchmal Texte, die sie zu Hause geschrieben hat, und sie kann gar nicht sagen, was sie mehr freut, das Lob der Lehrerin oder die Zeit, die sie sich für sie nimmt.

Mama hatte ihr bereits vor der Schule Lesen und Schreiben beigebracht, denn wenn Mascha früher vor dem Einschlafen nicht nur eine, sondern noch eine und noch eine Geschichte hören wollte, hatte Mama oft gestöhnt: »Mascha, ich bin Kindergärtnerin und habe heute schon so viele Geschichten erzählt. Nimm bitte etwas Rücksicht, ja?«

Mit vier Jahren hatte Mascha dann vorgeschlagen: »Erklär mir doch die Buchstaben, dann kann ich selbst lesen.« So war es gekommen, dass sie mit nicht einmal fünf Jahren bereits lesen konnte. Das Schreiben war dann wie von allein dazugekommen. Ihr erstes eigenes Gedicht hatte sie vor drei Jahren mit Sieben im Ferienlager geschrieben. Es hatte von Heimweh gehandelt und von einem langen Regentag.

Mascha besinnt sich auf ihre Aufgabe. Ein Gedicht über ihren Lieblingsort also … Sie konzentriert sich, sieht mit offenen Augen in die Luft und wartet. Ein Bild taucht auf. Es ist ihr Lieblingsbaum, die Trauerweide. Und ein weiteres Bild, Tinkapur. OK. Aber ist ein Hund ein Ort, wenn man sich mit ihm wohlfühlt? Hm, sie darf sich nicht verzetteln. Ob sie einfach zwei Gedichte schreibt? Das ist eine super Idee, freut sie sich.

Gespannt stellt sie ihr inneres Radar auf Empfang. Sie nennt das so, seit sie einen Film über die Flugüberwachung am Flughafen gesehen hat. Das Radar sendet ein Signal aus und empfängt dann die Echosignale von allen Objekten, die in seinem Umkreis sind. Mascha fühlt sich auch so, wenn sie an ein Thema denkt. Sie konzentriert sich dann darauf und übt sich in Geduld. Irgendwann tauchen die Einfälle auf, und ihr kommt es oft so vor, als würden sie nur darauf warten, dass man sie einfängt.

Jetzt denkt sie fest an ihren Lieblingsbaum und schreibt den Titel ihres Verses: »Mein Lieblingsort, der Baum.« Dann wartet sie. Es ist nicht so ein Warten wie auf den Bus, denn sie weiß gar nicht, auf welche Worte sie wartet. Sie vertraut einfach darauf, dass etwas Passendes zu ihr kommt. Manchmal erscheint ein Wort, das richtig scheint, doch sein Klang liegt ihr beim Lesen wie ein Stein im Weg. Stolpert sie darüber, wartet sie auf ein anderes. Umgekehrt gibt es auch Worte mit einem schönen Klang, die leider nicht passen. Maschas Lieblingswort ist zum Beispiel »nimmermehr«, und sie würde es am liebsten in jedem zweiten Satz verwenden, weil sie es so gern sagt. Aber wie komisch würde es klingen zu fragen: »Hast du schon nimmermehr gefrühstückt?«

»Mein Lieblingsort, der Baum«, flüstert sie die Überschrift noch einmal leise vor sich hin und spürt, wie sich ein Einfall nähert. Sie erkennt es daran, dass sich in ihrer Umgebung die Luft zu verändern scheint, auch wenn sie das niemandem so erzählen würde. »Du hast ein Funkeln in der Krone … weil deine Blätter … sich regen …«, nein, besser »bewegen«. Noch bevor die nächsten Worte kommen, wird Mascha heiß, und sie weiß aus Erfahrung, dass dann ein Treffer bevorsteht, also etwas, was sie richtig mag: »Ich möchte so ein Funkeln sein!« Sie ist begeistert, auch wenn sie noch gar nicht weiß, wie es damit weitergeht. Hm, was macht man am besten mit einem Funkeln? Sehr hell sein – langweilig. Tanzen? – Quatsch mit Soße.

Mascha spürt, wie sie den Faden verliert, weil sie nachdenkt. Deshalb fühlt sie hin, wie es ist zu funkeln. »Jaaaaa, das ist es. Ich kann es verschenken«, flüstert sie begeistert, und Hilde, ihre Banknachbarin, sieht verwundert herüber.

Mit Feuereifer schreibt Mascha auf:

Mein Lieblingsort, der Baum

Du hast ein Funkeln in der Krone,

weil deine Blätter sich bewegen.

Ich möchte so ein Funkeln sein

und es an alles weitergeben.

Das fühlt sich gut an, beschließt Mascha. Sie sieht auf und prüft, ob noch Zeit ist für einen zweiten Vers über Tinkapur, auch wenn sie kein Ort ist. Alle Kinder sind über ihre Hefte gebeugt, und Hilde nagt mit rotem Kopf angespannt an ihrem Stift. Ihr Blatt ist leer, bis auf einen Satz: »Mein Lieblingsort ist mein Bett.«

Als sie Maschas Blick bemerkt, schaut sie sie hilfesuchend an. Mascha zögert. Tinkapur oder Hilde?

In den Augen des Mädchens leuchtet Angst. Mascha schluckt und schließt für einen Moment die Augen. Sie weiß genau, wie es sich anfühlt, etwas nicht zu können wie die anderen. Hilde kann zum Beispiel gut sehen und braucht keine Brille wie Mascha. Deshalb wird sie auch nicht so oft gehänselt.

Mascha nimmt ein neues Blatt Papier, legt es etwas näher an Hilde heran und schreibt: »Mein Lieblingsort ist mein Bett. Simsalabim, in dir kommen Träume.« Sie wirft einen Seitenblick zu Hilde, um zu erfahren, wie diese den Anfang findet. Ihre blauen Augen werden groß, und sie lächelt. Gut, denkt Mascha und wartet erneut. Sie stellt sich fest vor, wie es sich anfühlt, Kleider zu tragen und so still und zaghaft wie Hilde zu sein.

Zack, schon kommen die restlichen Worte …

Simsalabim, in dir kommen Träume.

Mit ihnen fliege ich dann zum Mond.

Im Traum kann ich alles, weil in mir

nachts eine Zauberfee

Hier sieht Mascha zu ihrer Banknachbarin hinüber und lässt das letzte Wort weg, um es dem Mädchen zu schenken. Es ist ja sein Gedicht. Sie zeigt auf die leere Stelle und blickt Hilde fragend an; »wohnt« formen die Lippen des Mädchens, und seine Augen glänzen.

Das Pausenklingeln zerreißt diesen Moment. Alle Kinder geben am Lehrerpult ihre Arbeiten ab, und Maschas Gedicht verschwindet zwischen vierundzwanzig anderen Blättern.

Eigentlich weiß sie, was im Pausenhof passiert, wenn der beliebteste Junge aus ihrer Klasse auf sie zukommt. »Na Brillenschlange, Hässling!«, ruft Torsten und sieht sie herausfordernd, mit zusammengekniffenen Augen, an. Betont lässig streicht er sich durch das dichte, blonde Haar und wartet auf ihre Reaktion.

Sie entschließt sich wegzugehen und so zu tun, als hätte sie es nicht gehört. Etwas anderes fällt ihr nicht ein, um zu verbergen, wie die Scham ihren Kopf rot färbt.

»He, bist du auch noch eingebildet, oder was?!« Torsten stampft empört mit dem Fuß auf, weil das Mädchen ihn stehenlässt.

Mascha drückt ihr Kreuz durch und geht mit festem Schritt auf die andere Seite des Schulhofes.

Er sollte nicht denken, sie hätte Angst.

An die Schulhofmauer gelehnt, wartet sie. Doch Torsten ist ihr heute nicht gefolgt. Erleichtert atmet sie aus und tastet in Gedanken ihren Körper ab. Gab es denn außer der Brille noch etwas, was den Jungen an ihr so aufbrachte?

Sie ist schlankgewachsen und hat welliges, rotbraunes Haar, das ihrem Gesicht etwas Verwegenes gibt, wie Mama sagt. Die Sommersprossen und die kleinen, enganliegenden Ohren hat sie von ihrem Vater. Ihre Augen hinter den Brillengläsern schimmern grün und haben bernsteinfarbene Sprenkel wie die ihrer Mutter. Auch die kräftigen schlanken Hände und Füße der Mutter hat sie.

Was war nicht in Ordnung an ihr?

Wenn sie die Eltern fragte, schaute die Mutter sie kopfschüttelnd an und sagte fast immer: »Wieso, du bist doch ein ganz niedliches Mädchen.« Der Vater dagegen schaute verständnislos. Für ihn war es ganz einfach. Wenn man schlank war und muskulös, war man auch schön. Oder ist sie vielleicht nicht dünn genug?

Neulich hatte sie mit den Eltern ein Ballett im Fernsehen angesehen, und der Vater hatte gesagt: »Die Tänzerin links hat aber ganz schön dicke Stamper!« Seine Stimme hatte dabei denselben verächtlichen Tonfall gehabt wie der von Torsten, wenn er »Brillenschlange« sagte. Vielleicht ist sie ja auch noch nicht dünn genug? Mascha reibt sich den Kopf und atmet tief aus in Anbetracht von so vielen unbeantworteten Fragen.

»Wollen wir zusammen in die Klasse gehen?« Mascha dreht sich überrascht um und sieht Hilde, die seitlich hinter ihr steht und sie schüchtern ansieht.

Heiße Freude durchfährt Mascha, aber kurz darauf stellen sich Bedenken ein und sie senkt den Kopf. Vielleicht tue ich ihr ja nur leid? Papa sagt, nur Schwächlinge bedauert man. Und ich bin kein Schwächling. »Danke, ich komme klar!«, hört sie sich sagen und wendet sich hastig ab, um allein zurück in die Schule zu gehen.

Doch der betroffene Blick von Hilde bleibt an ihr kleben. Sie dreht sich nach dem Mädchen um und sieht Tränen in ihren Augen. Der Anblick ihrer Verletzung trifft Mascha so tief, dass sie zurückläuft und Hilde unbeholfen umarmt.

OHNE SCHULD - DIE GANZE GESCHICHTE

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