Читать книгу OHNE SCHULD - DIE GANZE GESCHICHTE - Maike Maja Nowak - Страница 9

1 Der Unfall

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Die zehnjährige Mascha blickt erwartungsvoll hinunter in den Treppenschacht. Jedes Mal, wenn sich die schwere Haustür des fünfgeschossigen Hauses öffnet, huscht ein Ausdruck von Hoffnung über ihr Gesicht. Stufe für Stufe nimmt sie aufmerksam die Eigenart der sich nähernden Schritte wahr. Immer mutloser lässt sie den Kopf hängen, weil es wieder nicht der Vater ist, auf den sie doch wartet mit dem Kostbarsten, was sie sich je gewünscht hat – einem kleinen Hund. Sie setzt sich ganz oben auf die Treppe und beobachtet ein paar tanzende Lichtstrahlen, die die helle Sommersonne durch das Fenster wirft.

Zur selben Zeit reckt ein Welpe seiner Mutter den gut gefüllten Bauch entgegen. Sie massiert ihn kräftig mit ihrer Zunge, und der junge Hund schmatzt zufrieden. Während seine Geschwister rotbraunes Fell haben, sind bei ihm nur die Ohren und eine Maske um die Augen von dieser Farbe. Sonst ist er schneeweiß.

Plötzlich hebt die Mutterhündin den Kopf und stellt alarmiert die Ohren auf. Fremde Schritte nähern sich. Sie erhebt sich und lauscht beunruhigt. Die Welpen drängen sich näher an sie heran und schauen nach oben zur Öffnung der Wurfkiste. Unwillkürlich stellen sich der Mutterhündin die Nackenhaare auf, als sich an der Seite der Frau, die sie kennt, ein fremder Mann nähert. Sie gibt einen leisen knurrenden Ton von sich, und ihr Körper vibriert.

»Molly, es ist alles gut. Einer deiner Racker findet jetzt vielleicht ein neues Zuhause.«

Die Hündin wedelt beim vertrauten Klang der Frauenstimme leicht mit der Rute und knurrt weiter den Mann an, der ihre Jungen betrachtet. Die Welpen beginnen unruhig zu fiepen und sich noch enger aneinander zu drängen.

»Hier ist unser Unfall«, sagt die Frau salopp.

Der Mann reagiert nicht und starrt eine Weile auf die Welpen. »Ich nehme die weiße Hündin, wenn sie lieb ist!« Seine Stimme klingt seltsam gereizt.

»Sie sind alle lieb und brauchen nur etwas Erziehung.« Die Frau betrachtet den Mann mit einem verwunderten Blick. »Sind Sie sicher, dass Sie einen Hund möchten?«

Seine Augen verengen sich, als würde er noch etwas abwägen, dann sagt er: »Ja, auf jeden Fall. Ich nehme sie!«

Im Auto legt der Mann die kleine Hündin auf den Beifahrersitz. Sie schrickt zusammen, als er den Motor startet, und drückt sich eng in die Sitzpolster. Der Welpe hat die Beine, soweit es ihm möglich ist, unter den Körper gezogen und seine Rute eingeklemmt. Er gleicht nun einer winzigen Kugel.

»Hast du Schiss?!« Der Mann sieht mit einem Seitenblick auf den Hund, der daraufhin seinen Kopf noch etwas tiefer duckt. »Tja, so ist das Leben! Schiss haben alle.« Er atmet geräuschvoll aus. »Aber wenn du hörst, wirst du auch keinen Ärger bekommen. Klar?«

Der Hund sieht ihn an und leckt sich beschwichtigend über das Maul.

Während der Mann seinen Blick wieder auf die Fahrbahn richtet, robbt der Hund ganz langsam näher an ihn heran.

Vorsichtig leckt er jetzt die Hand des Mannes, die gerade nach dem Schaltknüppel greift.

»Baaah!!! Lass das! Das ist eklig.« Der Mann fuchtelt mit dem Arm in der Luft, als wolle er die Berührung schnell wieder loswerden. »Du lässt mich in Ruhe! Ist das klar!« Er bekräftigt seine Aussage mit einem Wegwischen des Welpen vom Beifahrersitz in den Fußraum. »Du kümmerst dich um die Göre zu Hause. Das ist alles!«

Der Hund verkriecht sich in die dunkelste Ecke des Fußraums und fiept.

»Halt dein Maul! Ruhe! Das nervt!« Das Fiepen des Hundes wird lauter.

Der Mann bückt sich neben das Lenkrad, und seine Hand sucht nach dem Hund. »Willst du mich verarschen? Komm her!« Er schlägt wahllos in jede Richtung, weil er ihn nicht zu fassen bekommt. »Das kann doch wohl nicht wahr sein. Das fängt ja gut an.«

Er bremst, steigt aus dem Auto aus und läuft auf die andere Seite. Wut hat sein Gesicht rot gefärbt, als er die Tür aufreißt. Der Hund schlüpft an seiner Hand vorbei ins Freie und läuft mit weit aufgerissenen Augen vor ein Auto, das ihm gerade entgegenkommt.

Die Bremsen des Wagens quietschen, und es ist nicht auszumachen, ob der Hund stürzt, weil das Fahrzeug ihn getroffen hat oder weil er sich totstellt vor Angst.

Ein älterer Mann öffnet mit betroffenem Gesichtsausdruck die Wagentür und zieht sich daran nach oben. »Ich habe ihn nicht kommen sehen! Ist ihm etwas passiert?«

Seine Augen sind weit aufgerissen, und seine Stimme klingt besorgt. Er geht um das Auto herum und sieht mit hängenden Schultern auf den Hund hinunter.

Eine junge Frau kommt atemlos angerannt und lässt sich vor dem Hund auf die Knie fallen. »Hallo, mein Kleiner, was hast du?« Sie streicht dem Welpen vorsichtig über die Seite von der Schulter bis zur Flanke. Der Hund beginnt zu hecheln.

»Er lebt!« Sie atmet erleichtert aus. »Vielleicht sollten Sie so schnell wie möglich mit ihm zum Tierarzt fahren, er kann ja innere Verletzungen haben«, ruft sie dem Mann zu, aus dessen Auto sie den Hund hat springen sehen. Der Mann reagiert mit einem Achselzucken, und seine Miene wirkt abwesend.

In dem Moment springt der Welpe auf und schüttelt sich.

»Oooh …« Der ältere Fahrer, der so hart bremsen musste, weist freudig auf den Hund. »Es geht ihm gut!«

Die Augen der jungen Frau strahlen. »Ist alles in Ordnung, mein Schatz?« Sie bringt ihr Gesicht auf Augenhöhe des Hundes, und ihre Wange berührt dabei fast die Straße. Der Hund leckt ihr das Gesicht und wedelt mit der Rute. »Bist du süß, du kleine Maus. Dich würde ich am liebsten mitnehmen.« Der Hund drückt sich an ihre Beine.

Sie hebt ihn vom Boden hoch, und der ältere Fahrer tritt hinzu. Er klopft dem Welpen mit den Fingerspitzen anerkennend mehrfach auf den Rücken. Die junge Frau lächelt, denn es wirkt rührend unbeholfen, so als hätte er noch nicht oft in seinem Leben ein Tier berührt.

»Machen Sie sich keine Vorwürfe. Ich habe ja gesehen, dass Sie nichts dafür konnten. Er ist genau vor Ihr Auto gesprungen.«

Der ältere Herr blickt sie mit einem dankbaren Lächeln an und wendet sich dann an den Mann, dem der Hund gehört. »Brauchen Sie vielleicht einen Arzt? Vielleicht haben Sie einen Schock?« Mit besorgtem Blick betrachtet er den teilnahmslos wirkenden Mann, der ihn ohne jeden Ausdruck ansieht.

Abwehrend hebt dieser plötzlich die Hände und schüttelt den Kopf. Dann gibt er sich einen Ruck und geht entschlossen auf den Hund zu. Seine muskulöse, mächtige Statur bildet einen auffälligen Gegensatz zu dem winzigen Hund, den er der Frau aus dem Arm nimmt. Mit verschlossenem Gesichtsausdruck nickt er zum Abschied und murmelt knapp: »Danke.«

Dann steigt er in sein Auto und fährt davon.

OHNE SCHULD - DIE GANZE GESCHICHTE

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