Читать книгу OHNE SCHULD - DIE GANZE GESCHICHTE - Maike Maja Nowak - Страница 13

5 Bitte sei lieb

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Sonnenstrahlen fluten den Wald. Sie blinzeln überraschend hinter den Bäumen hervor und tanzen in den lichten Stellen des Unterholzes. Die Luft sieht aus wie mit goldenem Staub gefüllt.

Im Schatten ist es angenehm kühl in der Julihitze.

Immer wieder kommt Tinkapur auf sie zugelaufen und stupst sie mit ihrer kleinen herzförmigen Nase an die Hand. Es ist, als wolle sie Mascha zeigen, was sie gerade erlebt. Eine Eichel, ein Blatt, einen Ast, ein Stück Papier, einen Stein. Begeistert stöbert sie im Geruch einer Fährte und im Rest einer weggeworfenen Semmel. Eine Pfütze erkundet sie mit demselben begeisterten Ausdruck wie ein Grasbüschel oder die Höhle in einer Baumwurzel.

Mascha sieht in ihren glänzenden Augen alle Wunder, die sie gerade erlebt, und an ihren ausgelassenen Sprüngen die Freude.

Jetzt nimmt Tinkapur Anlauf und landet mit einem ungelenken Satz in einem Laubhaufen. Sie beißt in die aufgewirbelten, trockenen Blätter, die knistern wie ein kleines Feuer, und sieht Mascha auffordernd an: »Spring! Das macht Spaß!«

Mascha springt tief in den Haufen hinein und versinkt darin bis zu den Hüften. Lachend wirft sie ein paar Blätter in die Luft, die der Hund zu fangen versucht.

»Das ist ein Spaß!«, offenbaren seine strahlenden Augen.

»Jaaaaa!«, stimmt das Mädchen zu und reißt die Arme nach oben.

Beide genießen dieses einfache Vergnügen, bis Mascha sich rücklings auf die Blätter fallenlässt und zu den Baumkronen aufschaut. Wie schön es sich anfühlt, so ausgelassen zu sein, denkt sie.

»Wuwuwu, wuwuwu!« Das schrille Bellen des Hundes zerreißt die Stille. »Was ist denn?« Überrascht sieht sie auf.

Tinkapur fixiert einen Schäferhund, der sich mit einer Frau nähert, und reagiert nicht auf sie. Ihr Fell ist gesträubt, und Mascha klickt schnell die Leine an ihr Geschirr und zieht sie zu sich heran. »Tinkapur, hör auf!«

Der Hund springt in die Leine, und sein Bellen verstärkt sich. Die Frau und der Schäferhund bleiben stehen. »Was hat er denn? Warum ist er denn so aggressiv?« Die Frau fragt es nicht unfreundlich, doch in Mascha regt sich Protest.

»Mein Hund ist nicht aggressiv. Er ist nur jung. Vielleicht hat er ja Angst vor dem großen Hund?«

»Was hast du gesagt?« Die Frau ruft jetzt lauter, denn unter dem Bellen versteht sie nicht, was das Mädchen sagt.

Mascha kämpft mit den Tränen und schreit: »Vielleicht hat sie Angst vor dem großen Hund?!«

Die Frau zieht die Augenbrauen nach oben und deutet auf ihren Hund. »Meiner ist lieb, wie du siehst.« Sie betont das Wort »meiner«, und ihre Stimme klingt jetzt verstimmt.

Tinkapur wühlt mit den Pfoten Laub auf bei ihrem Versuch, näher an den Hund heranzukommen. Ihr Nackenfell ist gesträubt. »Sie kann doch trotzdem Angst haben?«, entgegnet das Mädchen mit betont fester Stimme, um ihre Unsicherheit zu verbergen.

»Wenn sie Angst hätte, wäre ihre Rute eingeklemmt und sie würde weglaufen wollen! Sie will meinen Hund aber angreifen! Ich hoffe, deine Eltern gehen mit ihm in eine Hundeschule! So jung, wie er ist, sollte das nicht noch schlimmer werden …«

Die Frau schüttelt mit dem Kopf, während sie sich entfernt.

Mascha ist bleich. Tinkapur bellt, bis der fremde Hund außer Sichtweite ist und schüttelt sich dann.

Erst jetzt spürt Mascha, wie schnell ihr Herz schlägt und dass ihre Beine zittern. »Tinkapur, warum hast du das getan?! So etwas macht man nicht! Du hast uns echt blamiert!«

Der Hund legt die Ohren an. Mascha hatte gehofft, alles würde fröhlicher werden, wenn sie einen Hund hätte, doch jetzt fühlt sie nur Ärger auf ihn. Sie fasst einen Stock ins Auge, um damit auf den Laubhaufen zu hauen, doch dann strömen Tränen aus ihr heraus, und sie hockt sich hin.

Der Hund legt den Kopf schief und wirbelt wedelnd mit seiner Rute ein paar Blätter auf. Mascha sieht ihn bang an. Ob er sie jetzt noch mag, obwohl sie ihn so angeschrien hat? Tinkapur leckt eifrig ihre nassen Wangen, und Mascha blickt ungläubig in das freundliche Hundegesicht. Wenn sie selbst angeschrien wurde, fühlte sie oft Ärger auf sich oder ihre Eltern. Doch in den Augen des Hundes kann sie keinen Ausdruck von Zorn entdecken, und das beschämt sie. Ihr fällt ihr Vorhaben ein, immer gut zu dem Hund zu sein, und sie fühlt Verzweiflung darüber, dass sie es nicht einhalten konnte.

»Tinkapur, bitte verzeih mir. Ich werde dich nicht mehr anschreien«, sagt sie leise und spürt dabei vage Zweifel in sich aufsteigen.

»Mama, kann ich mit Tinkapur in eine Hundeschule gehen, damit sie etwas lernt?« Die Mutter sieht vom Bügeln auf und fragt: »Warum denn? Dein Vater kann dir zeigen, wie das geht. Er hatte als Kind auch einen Hund. Aber wieso fragst du?« Sie beobachtet beunruhigt das Kind, das mit eingezogenem Kopf vor ihr steht. Skeptisch verzieht sie den Mund, denn ihr ist klar, dass sie den Ärger abbekommt, wenn etwas schiefläuft mit dem Hund. Schließlich hat sie Werner dazu überredet, ihn anzuschaffen. »Ist etwas passiert?«

Mascha spürt die Unruhe der Mutter und beißt sich auf die Lippen. «Nein, ich will sie nur erziehen. Dann frage ich also Papa.« Sie wendet sich ab, um ihn zu suchen.

»Pass aber auf, ob er gerade liest. Du weißt, dass er dann nicht gestört werden möchte!« Die Mutter wirft dem Kind einen besorgten Blick hinterher.

Leise drückt Mascha die Türklinke zur Wohnstube herunter und öffnet die Tür. Wenn die Eltern abends Fernsehen schauen, tut sie das oft. Sie haben sie bisher noch nie bemerkt. Mascha kann das TV-Programm in den Scheiben der Schrankwand sehen, die dem Fernseher und dem Sofa gegenübersteht. Wenn sie wahrnimmt, dass Mutter oder Vater sich auf der Couch bewegen, schrickt sie zusammen, läuft auf nackten Füßen zurück in ihr Zimmer und lauscht. Sicher würde es mehrere Tage Stubenarrest oder Schläge geben, würden sie Mascha erwischen.

Jetzt sieht sie in den Scheiben der Schrankwand ihren Vater auf dem Sofa liegen und lesen, ohne dass er sie bemerkt. Sein Anblick dort ist Mascha so vertraut, als wäre er mit dem Möbelstück verwachsen.

Sie will sich unbemerkt wieder zurückziehen, doch in diesem Moment schlüpft Tinkapur an ihr vorbei und läuft in das Wohnzimmer. Mascha beobachtet sie in der Scheibe und hält die Luft an. Der Hund steigt mit den Vorderbeinen am Sofa hoch und winselt leise.

»Wer hat die Tür aufgemacht?! Hund raus, Tür zu!«, herrscht die Stimme des Vaters.

»Komm, Tinkapur, komm her, schnell!«, ruft Mascha mit angstvoller Stimme. Der Hund verschwindet jedoch aus ihrem Blickfeld und taucht nach kurzem mit Vaters Latschen im Maul wieder auf. »Gib das sofort wieder her, sonst setzt es was!«

Mascha läuft, jede Vorsicht außer Acht lassend, in die Stube und versucht, dem Hund die Beute wieder abzunehmen. Doch Tinkapur weicht ihr geschickt aus und versteckt sich unter dem Sofa. Der Vater wendet, ohne das Buch sinken zu lassen, Mascha sein Gesicht zu. »Wenn du mit dem Köter nicht gleich verschwindest, passiert etwas. Ich will hier meine Ruhe haben, ist das klar!?«

»Entschuldige, Papa. Mama hat gesagt, du kannst mir zeigen, wie ich Tinkapur erziehen kann, weil du dich gut auskennst mit Hunden!«

Im Gesicht des Vaters leuchtet Überraschung auf über diese Anerkennung. Er zieht die Augenbrauen hoch, setzt sich auf und antwortet in fast gönnerhaftem Ton: »Also, als Erstes kannst du mal diesen Namen ändern. Darauf hört tatsächlich kein Hund. Und wenn du wissen willst, wie man ihm beibringt zu hören? Bitte!« Er erhebt sich, geht vor dem Sofa auf die Knie und sagt in barschem Tonfall: »Hierher. Dalli!«

Der Hund rührt sich nicht.

Mascha steht neben dem Vater und sieht, wie sein Gesicht auf einmal rot anläuft.

»Aber dalli, mein Freundchen. Ich sage es ein letztes Mal.«

Sein Tonfall ist angespannt. Mit dem rechten Arm greift er unter das Sofa und tastet mit der Hand nach dem Hund. Mascha hört das Trippeln der Hundepfoten, die hin und her laufen, um der Hand auszuweichen. Der Vater richtet sich mit zornigem Blick wieder auf und zieht die Stirn kraus. Plötzlich greift er nach seinem zweiten Hauslatschen. Dann bückt er sich so tief, bis er unter das Sofa sehen und die Position des Hundes prüfen kann. Er pfeffert den Schuh mit Schwung auf den Hund, und Tinkapur jault in einem hohen Schmerzlaut laut auf. Mascha zuckt zusammen. Mit panischem Blick rennt Tinkapur aus ihrer Deckung hervor und bringt sich zwischen Maschas Beinen in Sicherheit. Ihre Ohren liegen eng an, und ihr ganzer Körper ist zusammengeduckt.

»Siehst du, so erzieht man einen Hund, der nicht hören will. Und jetzt raus!«

Werners Laune ist nun restlos verdorben. Nicht einmal das Kind und der Hund haben Respekt vor seinen Bedürfnissen. Gerade heute empfindet er das als besonders frustrierend, denn er hat bereits einen schwarzen Tag hinter sich.

Wie immer hatte er am Morgen eine Gruppe Sportstudenten im Kraftsport trainiert. Bisher hatte er sich bei den jungen Männern gut mit seiner Unnahbarkeit durchgesetzt. Heute jedoch war etwas geschehen, was ihn an ihrem Respekt zweifeln ließ.

Jeder wusste, dass er keinen Alkohol trank und Menschen verachtete, die es taten. Schließlich verkündete er seine Ansicht dazu bei jeder Gelegenheit: »Wer Alkohol oder Zigaretten braucht und seinen Körper vernachlässigt, hat keine Disziplin. Das sind Menschen ohne Willen.« Er empfindet es als angemessen, bewundert zu werden, weil er nicht so ein Schlappschwanz ist.

Heute Morgen nun hatte er während des Trainings aus seiner Saftflasche trinken wollen, und der Geschmack von Bier war in seinen Mund gelaufen. Angewidert hatte er es auf den Boden gespuckt und sich schockiert umgesehen. Die Studenten hatten ihn grinsend und mit offenem Hohn beobachtet.

Fast tonlos hatte er hervorgepresst: »Wer war das?!« Niemand hatte ihm geantwortet. Er hatte mit Strafen bis hin zur Exmatrikulation gedroht, doch das hochmütige Grinsen auf den Gesichtern einiger Studenten war geblieben.

Und dann noch die widersinnige Reaktion seiner Frau, als er ihr zu Hause davon berichtet hatte. »Aber Werner, das war doch nur ein dummer Jungenstreich. Was regst du dich denn so auf?« »Dumm! Ja! Saudumm! Das ist zutreffend!«, hatte er wütend zurückgegeben und war hinter ein Buch auf das Sofa geflüchtet.

Hundert Ideen gehen ihm seitdem durch den Kopf, wie er sein Ansehen wiederherstellen könnte. Und dann noch dieser kleine Köter, der offenbar denkt, er kann machen, was er will.

Genervt atmet er laut aus.

Musste er denn immer erst auf den Tisch hauen, damit die anderen wussten, wie sie sich zu benehmen hatten?

Mascha sitzt am Küchentisch und hat den Kopf in die Hände gestützt. Ihre Mutter rührt Fertigpudding an. »Das ist eine tolle Sache, dass hier alles schon komplett ist«, sagt sie begeistert, als sie das Pulver mit der Milch vermengt.

Sie würzt nicht gern. Die unterschiedlichen Varianten, die bei der Zubereitung mit Gewürzen möglich waren, ängstigten sie. Niemand hatte ihr gezeigt, wie man solche Dinge ausprobiert. Ihrem Mann reichten Pfeffer und Salz, und seine genauen Vorstellungen vom Essen erleichtern sie. Sie waren gleichbleibend und änderten sich nicht. Obst und Gemüse, Vollkornbrot ohne Butter oder Margarine, magere Wurst, geschabtes Rindfleisch mit rohem Ei, Magerpudding, Magermilch, magerer Käse, Kartoffeln, Ei, Steak – nichts Kompliziertes also.

Sie liebt Vorgaben, an die sie sich halten kann. Überraschungen und Neues erfüllen sie eher mit Schrecken. Sie könnte dann Fehler machen und Ablehnung erfahren. Durch die strikte, gesunde Ernährung erlebt sie außerdem, wie Menschen sich im Freibad nach ihr und Werner umdrehen und ihre schlanken, durchtrainierten Körper bewundern.

Das gibt ihr bis zum nächsten Tag ein wenig Selbstvertrauen, und ihre innere Unruhe legt sich etwas.

Werner weiß nichts von ihren gelegentlichen Anfällen, in denen sie eine unbändige Lust auf Kuchen hat. Um sich nicht so schuldig zu fühlen, lässt sie Mascha daran teilhaben. Sie kauft dann einen Familienkuchen und isst ihn zusammen mit dem Kind am Küchenfenster, um Werners Heimkehr nicht zu verpassen. Mascha bringt die leere Folie in den Hof und wirft sie in die Mülltonne, damit Werner die Verpackung nicht findet. Sie sind ein eingespieltes Team bei dieser Übertretung der Essensregeln.

Oft jedoch springt ihr kurze Zeit später die Angst in den Nacken. Sie könnte zunehmen, und Werner würde es auf der Waage sehen. Dann zieht sie sich die Sportsachen an und läuft durch den Wald. Das Kind fährt mit dem Fahrrad nebenher, und zusammen gleichen sie die Tat wieder aus.

Der Pudding schlägt Blasen, und sie nimmt ihn vom Herd.

»Mama, darf ich bitte in eine Hundeschule gehen? Ich kann es javon meinem Taschengeld bezahlen.«

Die Mutter dreht sich zu dem Mädchen um und blickt es nachdenklich an. Vielleicht ist es doch keine so schlechte Idee. Sie müsste Werner nicht mit der Hundeerziehung belästigen, und das Kind wäre beschäftigt und hätte Spaß. »Ich rede heute Abend mit Papa darüber!«, sagt sie mit zuversichtlicher Stimme.

Mascha springt vom Tisch auf und umarmt die Mutter. Sie blickt auf den Hund, der zu ihren Füßen schläft, und denkt erleichtert: Jetzt wird alles gut, Tinkapur! Ich kann dich wieder ganz liebhaben, wenn ich keine Angst mehr haben muss, was du tust.

OHNE SCHULD - DIE GANZE GESCHICHTE

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