Читать книгу OHNE SCHULD - DIE GANZE GESCHICHTE - Maike Maja Nowak - Страница 14

6 Lügen

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Die Hundeschule liegt am Stadtrand in einem Waldstück. Vielfaches Hundegebell ist von weitem zu hören. Tinkapur reagiert darauf mit ohrenbetäubendem Gebell.

Mascha sieht bang zu ihrer Mutter. Die starrt überrascht auf den Hund und blickt sich dann peinlich berührt nach allen Seiten um. Sie nimmt Mascha die Leine aus der Hand und reißt den Hund zurück. »Hörst du auf! Still! Ruhe! Was soll denn das?!«

Tinkapurs Ohren wenden sich kurz nach hinten, doch an der Lautstärke ändert sich nichts. »Hörst du jetzt!? Was ist denn los? Aus!«, schreit die Mutter aufgebracht und sieht Mascha mit hochgezogenen Augenbrauen an. Mascha senkt betreten den Blick. Sie hat der Mutter verschwiegen, dass in den letzten Wochen alle Hundebegegnungen so verlaufen waren. Sie wusste, wie schnell die Mutter sich aufregte und was für Folgen es haben konnte, ihr Dinge mitzuteilen, die sie beunruhigten und ängstigten. Sie will den Hund auf jeden Fall behalten. »Mama, die Hundeschule wird uns helfen. Ich verspreche dir, dass ich gut lernen werde, und Tinkapur auch!«

Die Mutter verzieht ungehalten das Gesicht. »Du wirst auf keinen Fall Tinkapur sagen, sondern Tinka! Hast du das verstanden? Wir werden dort ohnehin schon Staub aufwirbeln, wenn Tinka sich so verhält.« Sie weist auf den bellenden Hund, der ruckartig in die Leine springt, um schneller voranzukommen.

Mascha spürt einen Stich im Herzen, schluckt aber die Widerrede hinunter. »Schau, da ist es.« Sie weist auf ein eingezäuntes Gelände, dem sie sich nähern. Auf einem Schild über dem Tor steht: Hundeschule Passion. Eine Frau sieht ihnen über den Zaun entgegen.

»Pfui, jetzt ist aber Ruhe«, presst die Mutter leise zwischen den Zähnen hervor. Mascha spürt die mühsam zurückgehaltene Wut der Mutter und zieht den Kopf zwischen die Schultern. Die Beobachterin am Zaun wird offenbar gerade angesprochen, denn sie wendet sich zustimmend nickend um. Die Mutter nutzt diesen Moment und bückt sich rasch zu dem Hund. Sie gibt ihm einen harten Klaps auf den Hintern. »Es reicht jetzt. Du blamierst mich hier vor allen.« Tinkapur jault überrascht auf und bellt ungebremst weiter.

»Na, da kommt ja ein kleiner Schreihals.« Die Frau, die sie beobachtet hat, kommt ihnen entgegen. Sie trägt ein rotkariertes Hemd und eine Weste, die wie die Hose aus derbem Stoff besteht mit auffallend vielen Taschen. Die Frau ist groß, dunkelhaarig, und ihr Blick ist einladend, als sie das Tor öffnet.

Ihre Freundlichkeit erleichtert nicht nur Mascha, auch ihre Mutter atmet hörbar auf. »Das kriegen wir schon hin, keine Angst!« Sie bückt sich zu Tinkapur hinunter, die inzwischen nur noch heiser fiept, und greift in eine prall gefüllte Tasche mit Futterstücken. Tatsächlich verstummt der Hund augenblicklich, als er den Duft von Wurst wahrnimmt. Die Frau gibt ihm ein Stück, und er schlingt es hinunter. Dann sieht er erwartungsvoll auf die Tasche. »Na, der Zwerg lernt ja schnell!« Die Frau lacht und spendiert noch ein Stück Wurst.

Mascha richtet sich hoffnungsvoll auf. Tinkapurs Aufmerksamkeit, die fast alles begleitet, was sie tut, macht sie stolz. Auch andere Menschen hat sie mit ihrer Pfiffigkeit schon eingenommen. Gestern, als Mascha mit ihr vor dem Fleischerladen wartete, waren immer wieder Passanten auf sie zugekommen, um den Hund zu streicheln. »Oooch, ist der süß.« »Wie alt ist er denn?« »Nein, wie entzückend!« »Der macht dir wohl viel Freude, was?« Tinkapur war auf jeden Umstehenden ausgelassen zugesprungen und hatte ihre lange, federgleiche Rute wie einen Propeller geschwungen.

Eine alte Dame mit Brille hatte sich zu Tinkapur hinuntergebeugt und in hohen Tönen ausgerufen: »Ja, was bist du denn für ein Feiner? Ja, du bist aber ein Guter!« Obwohl ihr Tonfall verlockend und einladend klang, hatte Tinkapur sie nur ruhig und aufmerksam gemustert. Die alte Dame war daraufhin noch etwas näher an sie herangekommen und holte gerade Luft, um den Hund erneut anzusprechen, da war Tinkapur nach vorn geschnellt und hatte der Frau die Brille von der Nase geschnappt.

Ob das unmittelbare Gelächter dem vorwitzigen Diebstahl des Hundes galt oder dem verdutzten Gesicht der alten Dame, konnte Mascha nicht ausmachen.

Im Junghundekurs sitzen alle Teilnehmer mit ihren Hunden im Kreis. Es ist ein warmer Tag im August, und drei Eichen spenden angenehmen Schatten. Mascha betrachtet die Hunde.

Tinkapur ist eine der Kleinsten unter den Junghunden. Alle sind zwischen vier und fünf Monate alt.

Verliebt lächelt Mascha einen kleinen weißen »Teddybär« mit Schlappohren und schwarzen Knopfaugen an. Er wird als Bichon Frisé vorgestellt. Dann fällt ihr Blick auf einen Dackel, der durch seine Stirnfalten kummervoll wirkt und immer wieder vorwurfsvoll auf einen Golden Retriever blickt, der näher an ihn heranzukommen versucht. Der viel größere Hund robbt jedes Mal, wenn sein Halter ihn zurückgezogen hat, wieder zu dem Dackel hin und bemüht sich, ihn mit seinen dicken Pfoten anzustupsen.

Mascha lacht, als sie einen kleinen Windhund erblickt, dessen riesige Stehohren sich in der Mitte lustig zueinander neigen. Er schaut mit genauso erstauntem Blick in die Runde wie Tina aus ihrer Klasse, wenn ein Lehrer sie etwas fragt. Ein junger Schäferhund hat sein linkes Ohr über dem Kopf liegen, und das rechte hängt als Schlappohr herab. Er erinnert Mascha an den Astronomielehrer, Herrn Heinrich, der immer ein wenig durcheinander wirkt. Ein hellbrauner Cocker Spaniel hat an den Ohren Locken und sieht aus wie ein Mädchen mit welligen Zöpfen. Aus dem Kopf einer Französischen Bulldogge scheinen Fledermausflügel als Ohren zu wachsen, und ihre Zunge ist beim Hecheln aufgerollt.

Die anderen Hunde sind Mischlinge, und Mascha findet besonders einen bunt Gescheckten schön, dessen langes Fell wild absteht. Er hat seine Vorderpfoten übereinandergelegt und sieht gelassen in die Ferne. Der Hund strahlt eine große Ruhe aus, die Mascha beeindruckt.

Tinkapur wird als Terrier Mix eingeschätzt. Sie steht mit durchgedrückten Beinen und steil aufgerichteter Rute in der Runde und fiept. Die Frau, zu der der Cocker Spaniel gehört, sieht Tinkapur mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ihr vorwurfsvoller Blick wandert weiter zu Maschas Mutter und bleibt dort haften. »Tinka, ruhig!«, ruft diese nervös und zieht den Hund näher zu sich heran. Der Zug verstärkt das Fiepen, und Tinkapur steigt zudem auf die Hinterbeine, um aufgeregt mit den Vorderpfoten in der Luft zu rudern. Alle Blicke richten sich auf sie, auf die Mutter und auf Mascha.

»Wir beginnen mit unseren Übungen«, fängt die Trainerin die Situation auf. »Das erste Signal, das euer Hund kennen muss, ist ›Schau!‹. Wenn ihr etwas von ihm wollt, braucht ihr seine Aufmerksamkeit. Die bekommt ihr, wenn er euch ansieht. Ihr könnt dazu am Anfang ein Futterstück zwischen Daumen und Zeigefinger klemmen, es dem Hund zeigen und es euch dann zwischen die Augen halten. Wenn der Hund dorthin blickt, sagt ihr ›Schau!‹ und gebt ihm das Stück. Ich demonstriere es euch einmal an dem kleinen, wilden Watz hier, dann wird er vielleicht ruhig.«

Sie lacht wie über einen gelungenen Scherz, und die Teilnehmer stimmen ein. Tinkapur versucht, der Frau entgegenzuspringen, und leckt sich dabei über das Maul.

»Sie erinnert sich an die Wurst«, kommentiert die Trainerin dieses Verhalten. »Das ist schon einmal gut.«

Sie übernimmt die Leine und geht mit dem Hund in die Mitte des Kreises. Während sie sich hinhockt, springt Tinkapur begeistert an ihr hoch, um an die Gürteltasche zu kommen. Die Trainerin schiebt sie mit Schwung zurück, bis der junge Hund von ihr wegbleibt. Dann holt sie langsam ein Futterstück aus der Tasche, dem der Blick des Hundes gebannt folgt. Als ihre Hand an der Stirn ankommt, ruft sie: »Schau!«, und gibt dem Hund das Leckerli.

Nach dem zehnten gelungenen Versuch, dem Tinkapur mit den Augen folgt, tippt sie sich nur noch mit den Fingern an die Stirn und sagt »Schau«, ohne ein Futterstück dazwischen zu halten. Tinkapur sieht hin und bekommt ein Futterstück aus der Tasche.

Mascha strahlt. Sie sieht zur Mutter hin und ist erleichtert. Auch auf deren Gesicht ist ein Lächeln zu sehen.

»Der Schreihals ist ja ein Schnelllerner!« Die Trainerin blickt erfreut auf und bringt Tinkapur zur Mutter zurück.

»Und für was mache ich das noch einmal genau?« Ein großer, dünner Mann, bei dem der Windhund sitzt, zieht fragend die Stirn in Falten.

»Das braucht ihr, wenn ihr dem Hund etwas sagen wollt und er euch gerade nicht anschaut«, antwortet die Trainerin. »Nach ein paar Malen könnt ihr den Finger dann weglassen, und er wird euch auch so ansehen, wenn ihr ›Schau‹ sagt. Weil die kleine Tinka hier so schnell war, kann ich ja mal ausprobieren, ob es bereits funktioniert. Dann seht ihr, worauf es hinausläuft.«

Erneut geht sie mit dem Hund in die Mitte des Kreises. Tinkapur setzt sich brav und erwartungsvoll hin. Die Trainerin tippt sich wie zuvor an die Stirn und gibt dem Hund Futter, wenn er hinsieht. Dann kündigt sie an: »Jetzt mache ich es einmal ohne den Fingerzeig, und wir werden sehen, ob sie mich ansieht.«

Die Trainerin wendet dem Hund ihr Gesicht wieder zu und sagt: »Schau!« Tinkapur jedoch sieht konzentriert auf deren herabhängende Hand und scheint zu warten. Als die Hand nicht nach oben wandert, springt sie auf und steigt am Bein der Trainerin hoch. Sie versucht, an die Hand zu stupsen, als wolle sie diese dazu bringen, sich zu bewegen. Doch es gelingt ihr nicht. Sie ist einfach zu klein und langt nicht heran.

Die Trainerin bleibt währenddessen ruhig stehen und wartet.

Tinkapur setzt sich hin und legt ratlos den Kopf schief. Sie wirkt überrascht und hat ihr Mäulchen leicht geöffnet. Einige Teilnehmer lachen gerührt. Abermals springt der Hund nach vorn und versucht, an die Hand der Frau zu stupsen.

Die Trainerin gibt dem Hund noch einmal Hilfe und führt ihre Hand nach oben. Tinkapur folgt ihr bis zur Stirn. »Fein!« lobt die Trainerin und sagt an die Menschen gerichtet: »Es war noch zu früh. Wenn euch das passiert, verwendet ihr das Fingerzeichen einfach so lange weiter, bis es auch ohne geht.«

»Aber verknüpft denn der Hund das Ganze wirklich mit Anschauen, jetzt hat er ja nur immer auf deine Hand gesehen?« Die Stimme des hereinrufenden Mannes klingt skeptisch. Zwischen seinen Beinen liegt der Golden Retriever und schläft. »Ja, er schaut euch später an, probiert es einfach aus. Das ist einfach eine Frage der Übung.«

»Toll hast du das gemacht!« Mascha streichelt Tinkapur und bekommt ein paar Hundeküsse an ihr Kinn, als sie sich hinunterbeugt.

Die anderen Teilnehmer beginnen mit der Übung, und Mascha beobachtet, wie die Teilnehmerin mit dem gescheckten ruhigen Hund diesen für die Wurst zu begeistern sucht. »Ja, das ist lecker. Hier …« Sie fuchtelt mit einem Futterstück vor seiner Nase herum, doch er wendet immer wieder entschieden den Kopf ab.

Dass er sich nicht einmal von Wurst verführen lässt, beeindruckt Mascha.

»Komisch, zu Hause frisst er Leckerli«, sagt die Halterin mit ratlosem Gesicht. Der Hund erhebt sich daraufhin wie auf ein Stichwort und dreht sich in Richtung Ausgang. Mascha betrachtet ihn nachdenklich mit halb offenem Mund.

Als ihre Mutter sie mit dem Ellenbogen anstößt, schrickt sie zusammen. »Träum nicht! Du musst jetzt auch anfangen.«

Mascha nickt und setzt sich auf ihrem Stuhl zurecht. Dann schnalzt sie mit der Zunge, wie sie es immer tut, um Tinkapurs Aufmerksamkeit zu gewinnen. Diese beobachtet gerade die Französische Bulldogge und fiept leise. Auf Maschas Schnalzen hin fährt Tinkapur herum und sieht sie fragend an. Dann folgt sie dem Weg des Futterstücks bis zur Stirn. »Schau.« Mascha belohnt sie …

Wie ging es jetzt weiter? Mascha blickt nach unten und überlegt. Die Mutter bemerkt es und sagt: »Du solltest als Nächstes nur die Finger an die Stirn legen ohne Leckerli. Frau Hartmann hat gesagt, das nennt man ›Futter ausschleichen‹.«

Tinkapur hat sich währenddessen wieder abgewandt, und Mascha schnalzt erneut, um ihre Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Der Hund sieht sie interessiert an und wartet.

»Aber Mama, was mache ich denn, wenn TINKAPU…«, sie unterbricht sich, »wenn Tinka mich immer schon anschaut, bevor ich ihr ›Schau‹ beibringen kann?«

Die Mutter hebt ratlos die Schultern. »Das musst du Frau Hartmann fragen.« Sie sagt nicht Beate wie die anderen, weil sie das »Duzen« in der Hundeschule nicht mag.

Mascha hebt die Hand. Die Trainerin unterstützt gerade das Ehepaar mit dem Dackel, der immer wieder mit einem Bichon Frisé neben sich raufen will. Mascha wartet auf Frau Hartmann und beobachtet in dieser Zeit die Frau mit dem Cocker Spaniel, die am Anfang so vorwurfsvoll auf Tinkapur gesehen hatte. »Aua! Das tut weh!«, moniert sie gerade das Schnappen des Cockers, der gierig nach dem Futter greift. Sie zieht die Hand mit dem Futter zurück, und der Cocker beginnt auffordernd zu bellen.

Die Frau sieht zu ihnen herüber, und Mascha registriert, wie ihre Mutter betont bedauernd die Augenbrauen hebt und einen spitzen Mund macht. Die Frau schaut daraufhin gereizt weg und hört auf zu üben.

Jetzt bemerkt die Trainerin Maschas erhobene Hand und kommt heran. »Na, wie kann ich dir helfen?« Sie stellt sich breitbeinig vor das Mädchen und sieht sie erwartungsvoll an.

»Was kann ich denn machen, wenn sie mich immer schon ansieht, bevor ich ›Schau‹ sage?« Tinkapur beschäftigt sich gerade mit einem winzigen Stöckchen, und Mascha schnalzt leise mit der Zunge, um das Problem zu illustrieren. Der Hund fährt zu ihr herum und sieht sie abwartend an.

»Nun, du könntest sie kurz ablenken. Wenn du zum Beispiel mit dem Fuß aufstampfst, wird sie dorthin sehen. Dann kannst du die Hand an die Stirn halten und ›Schau‹ sagen«, empfiehlt die Trainerin.

»Aber sie sieht mich doch gerade auch so an«, wirft Mascha ein.

»Ja, aber nur, weil du geschnalzt hast.« Die Trainerin bekräftigt ihre Aussage mit einem leichten Kopfnicken.

Mascha verinnerlicht das Gesagte. »Und wenn ich nun einfach immer nur schnalze und kein ›Schau‹ sage? Dann sieht sie mich ja auch an!«

»Ich verstehe dich nicht«, mischt sich die Mutter ein. »Frau Hartmann hat doch genau erklärt, wie es gemacht wird. Warum sagst du denn nicht ›Schau‹, wie es alle tun, und zeigst mit dem Finger an die Stirn?!« Ihre Stimme klingt vorwurfsvoll und verärgert.

Ohne die beiden Frauen anzusehen, verteidigt sich Mascha. »Aber ich glaube, bei ›Schau‹ sieht Tinkapur nur auf die Finger, und wenn ich schnalze, sieht sie mich wirklich an!« Mascha schlägt sich mit der Hand vor den Mund. Jetzt hatte sie den verbotenen Namen doch gesagt.

Die Trainerin reagiert aber nicht darauf, sie antwortet: »Wenn du alle Grundkommandos mit dem Hund sauber ausführen kannst, kannst du improvisieren. Jetzt wäre das so, als wenn du Klavier spielen lernst und gleich mit dem Improvisieren anfängst. Auf diese Weise lernst du nie Klavier spielen. Zuerst musst du die Regeln erlernen, und dann kannst du frei verfahren.«

Während die Frau spricht, starrt Mascha auf den Boden. Die Trainerin redet genau wie ihre Mutter. Als Mascha vor einem Jahr Melodien auf einer Gitarre zu spielen begann, hatte diese sie mit ähnlichen Worten zum Unterricht geschickt. »So ein Herumgeklimpere bringt nichts. Du musst erst einmal lernen, wie man das Instrument bedient und wie man Noten spielt.«

Ihre Gitarrenlehrerin, Frau Huber, hatte sie gemocht, denn sie war eine freundliche Frau, die ihr mitunter aufmunternd durchs Haar gefahren war. Mascha hatte sich schon immer Tage vor dem Unterricht auf diese Zuwendung gefreut. Doch so sehr sie sich auch bemüht hatte, es war ihr nicht gelungen, die Noten auf das Instrument zu übertragen. Sie konnte nicht gleichzeitig Noten denken und Töne fühlen. Das brachte sie nicht zusammen. Um die Zuwendung ihrer Gitarrenlehrerin nicht zu verlieren, hatte sie Frau Huber gebeten, ihr jedes Übungsstück erst einmal vorzuspielen. Dann hatte Mascha das Notenblatt vor sich hingelegt und so getan, als wenn sie von ihm abspielte. Als die Übungsstücke schwieriger wurden, war es ihr nicht mehr gelungen, nach Gehör auswendig zu spielen. Und nachdem Frau Huber Maschas erstes eigenes Musikstück in Notenschrift übersetzt hatte, war es für Mascha auf dem Papier verschwunden. Sie hätte es von dort nicht mehr abspielen können.

Es war ihr sehr schwergefallen, nicht mehr zu Frau Huber zu gehen, doch noch viel schlimmer wäre es gewesen, der Schwindel wäre herausgekommen und Frau Huber hätte sie nicht mehr gemocht. Seitdem konnte sie auch nicht mehr Gitarre spielen, denn dazu hätte sie die Mutter wieder zum Notenlernen geschickt. Wie hätte Mascha aber erklären können, dass sie Noten nicht fühlen und deshalb auch nicht verstehen konnte? Andere konnten es doch auch? Voller Scham hatte sie behauptet, sie hätte keine Lust mehr auf die Gitarre.

Sie hatte die Hoffnung gehabt, in Abwesenheit der Eltern darauf spielen zu können. Aber die Mutter hatte das Instrument kurze Zeit später verkauft.

Mascha hatte lange gebraucht, um ihr Verlangen, Musik zu erfinden, nicht mehr zu spüren. Doch jetzt muss sie die Tränen herunterschlucken, wenn sie daran denkt, und sie schämt sich für all diese Lügen.

»Verstehst du das Beispiel mit dem Klavier? Erst das Handwerkszeug, dann kannst du improvisieren. So ist es auch mit den Grundkommandos in der Hundeschule.«

Frau Hartmann beugt sich zu dem Mädchen hinunter, das niedergeschlagen wirkt.

»Ja, ich habe es verstanden.« Mascha schreckt hoch und spürt einen Kloß im Hals bei dieser erneuten Lüge.

OHNE SCHULD - DIE GANZE GESCHICHTE

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