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Sonntag

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Am Sonntagmorgen war die Unruhe, die sich Petersens bemächtigt hatte, kaum zu bändigen. Er musste irgendetwas tun. Er checkte den Dienst-PC. Da war eine neue Mail aus Wilhelmshaven, der Polizeianwärter würde erst Montag mit dem Mittagsschiff kommen. Den Polizeianwärter hatte er bei der ganzen Aufregung völlig vergessen. Gut, dass sich das verschoben hatte. Heute konnte er das nicht gebrauchen. Er studierte den Schiffsfahrplan und entschloss sich dann, kurzfristig zum Bahnhof zu gehen, um zu sehen, ob Brigitte Dunker im Zug war. Es gab zwei Ankünfte innerhalb einer Stunde. Im ersten Zug waren kaum Fahrgäste, so dass es für ihn sofort ersichtlich war, dass keine Brigitte Dunker da war. Er musste jetzt 50 Minuten überbrücken. Er grüßte den Bahnhofsvorstand kurz, wollte aber keine Unterhaltung eingehen. Es wäre sonst zu offensichtlich gewesen, dass er zur Beobachtung auf dem Bahnsteig war. Als er wieder beim alten Leuchtturm vorbei kam, war die Eingangstür geöffnet. Er entschloss sich dem kleinen Heimatmuseum einen kurzen Besuch abzustatten.

„Oha, welch hoher Besuch“, begrüßte ihn ein älterer, weißhaariger Mann im Eingang.

„Moin, ich bin Lars Petersen, ich bin ja neu hier und wollt mich mal über die Geschichte Wangerooges informieren."

Petersen bezahlte seinen Eintritt und machte einen kleinen Rundgang. Das war alles sehr liebevoll aufgebaut. Es wurde über die Siedlungsgeschichte der Insel informiert. Ein Modell der Inselbahn fuhr im Kreis herum. Die Folgen der Sturmflut 1962 waren in beeindruckenden Fotos dargestellt. Der Deich zum Wattenmeer war augenscheinlich gebrochen und das Wasser war in den Dorfgroden, das war das Gebiet hinter dem Bahnhof, gelaufen. Petersen beschloss, den Besuch noch einmal zu wiederholen, bemerkte aber, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Er klönte noch einen Moment mit dem alten Herrn vom Eingang, verabschiedete sich dann aber schnell wieder in Richtung Bahnhof. Das Pfeifen der Lokomotive bei der Fahrt durch den Deichschart war schon zu hören. Er musste sich beeilen. Wieder entstiegen dem Zug nur wenige Fahrgäste. Einige der Handwerker von der letzten Woche waren auch wieder dabei. Auf ihren Gesichtern waren die Spuren des Alkohols deutlich zu sehen. Petersen musste grinsen. Brigitte Dunker war nicht im Zug. Jetzt hatte er noch zwei Stunden Zeit bis der letzte Flieger durch war.

Im Revier angekommen, rief er Uwe Timmsen, den Schulleiter, an. Auch er hatte keine neuen Informationen zum Aufenthaltsort von Brigitte Dunker. Petersen informierte ihn über die verabredete Vorgehensweise. Timmsen war sofort bereit, um Viertel nach Vier in die Peterstraße zu kommen. Man spürte ihm die Erleichterung an, dass nun endlich etwas passieren würde.

Sollte er nun beim Flugplatz anrufen? Die Gefahr war, dass man ihm aus Datenschutzgründen keine Auskunft über die ankommenden Gäste geben würde. Er nahm das Dienstfahrrad und fuhr durch die Siedlerstraße zum Flugplatz. Vielleicht war es im persönlichen Gespräch besser möglich, etwas rauszubekommen. Hinter dem Schalter saß eine Frau, geschätzt Anfang Vierzig, mit langen mittelblonden Haaren. Sie las in ihrem E-Book.

„Moin, ich brauch eine Auskunft, ob die Frau Dunker heute mit dem Flieger angekommen ist?“ sprach Petersen die Frau direkt an.

„Moin, eigentlich darf ich Ihnen darüber keine Auskunft geben, das wissen Sie?“ belehrte sie Petersen.

„Entschuldigung, dass ich mich nicht vorgestellt habe, ich bin der neue Polizist. Aber wir machen uns Sorgen um Frau Dunker. Sie ist am Freitag nicht in der Schule gewesen. Können wir das nicht auf dem kurzen Dienstweg machen?“

„Sie können ruhig Ute zu mir sagen, auf der Insel ist das so üblich“, sagte sie augenzwinkernd und mit einem freundlichen Lächeln.

„Gerne, ich bin Lars Petersen. Das mit dem Brüderschaft trinken holen wir dann aber nach oder?“

„Machen wir, versprochen und nun zur Sache. Ich schau mal eben die Fluglisten durch." Mit einem bemerkenswerten Hüftschwung setzte sie sich an den PC.

„Für heute hat sie nicht gebucht und Freitag war sie auch nicht auf der Liste. Übrigens fliegt die Frau Dunker außerordentlich selten, aus Umweltschutzgründen."

Beide fingen an zu lachen. Petersen bedankte sich und schwang sich auf sein Fahrrad in Richtung Peterstraße.

In der Peterstraße angekommen, orientierte er sich an den Hausnummern. Nr. 22 war ein grau verputztes Haus. Der mittlere Teil war weiß gestrichen und am rechten Hausende hatte man einen Anbau errichtet, der nicht gestrichen war. An einem Teil des Hauses rankte Efeu bis zur Dachkante hoch. Einen Vorgarten gab es nicht, stattdessen war ein gepflasterter Vorplatz angelegt worden, auf dem Kübel mit verwelkten Blumenresten standen. Petersen stellte sein Fahrrad ab und kontrollierte das Klingelschild. Es war nur ein Schild angebracht, auf dem der Name Dunker stand. Die Gardinen waren nicht zugezogen. Mit zusammen gekniffenen Augen versuchte er durch die Fenster etwas zu erkennen, vergeblich. Die Dämmerung hatte eingesetzt, von außen war wirklich nichts zu machen. Er wurde durch ein Motorengeräusch aufgeschreckt. Wangerooge war autofrei und die Fahrzeuge, die hier verkehrten, waren in der Regel E-Karren. Ein roter Landrover, der aus der Nähe betrachtet sich als Feuer-wehrfahrzeug entpuppte, näherte sich langsam. Das Fahrzeug hielt an und Harm Gerdes und ein weiterer Feuerwehrmann, es musste der Tischler sein, entstiegen dem Fahrzeug. Beide Männer hatten ihre Feuerwehrarbeitsanzüge an. Natürlich war auch Petersen in Uniform. Sie hatten das so abgesprochen, um den offiziellen Charakter ihrer Aktion zu betonen. Jetzt gesellte sich auch Schulleiter Timmsen zu ihnen. Nach der Begrüßung stellten sie fest, dass keiner über neue Informationen verfügte. Petersen berichtete über seine Überprüfungen am Bahnhof und Flugplatz. Der zweite Feuerwehrmann, der sich als Focko Hanken vorstellte, nahm seinen Werkzeugkoffer aus dem Feuerwehrfahrzeug.

Die erste Eingangstür war offen. Hier lagen die Zeitungen unter dem Briefkasten, so wie es Schulleiter Timmsen beschrieben hatte.

„Das Schloss dürfte kein Problem sein. Soll ich anfangen?“ fragte Focko Hanken.

Petersen und Harm Gerdes nickten. Das Schloss war in der Tat kein aufwendiges Sicherheitsschloss, auch Petersen erkannte dies sofort. Die Außenschrauben wurden mit dem Akkuschrauber aufgeschraubt und mit einer Zange drehte Focko Hanken den Schließzylinder heraus. Die Tür stand offen. Petersen zog seine Gummihandschuhe, die er mitgebracht hatte, über und öffnete die Tür.

„Ich gehe erst einmal allein rein, um zu klären, ob es sich um einen Tatort handelt. Wenn es dafür Anzeichen gibt, muss ich sowieso die Spurensicherung holen“, erklärte er den anderen.

Er schaltete das Licht ein und ging langsam in den Flur. Sein Herz schlug schneller. Er hatte zwar so was schon häufiger gemacht, vor allem, wenn es um Drogentote ging, aber hier hatte er die alleinige Verantwortung.

Das Wohnzimmer machte einen aufgeräumten Eindruck. Flachbildfernseher mit HiFi-Anlage, ein relativ großes Regal mit CDs und ein weißes IKEA-Sofa der Marke Klippan. Das kannte er aus seiner früheren Bremer Wohnung. An der Wand hing ein Selbstportrait von Paula Becker-Modersohn, der bekannten Worpsweder Malerin. Das angrenzende Arbeits-zimmer war mit Bücherregalen der IKEA-Marke Billy vollgestopft. Petersen musste sich jetzt zwingen, nicht das Bücherregal zu inspizieren. Er wusste, dass man dadurch relativ viel über einen Menschen erfahren konnte, aber darum ging es im Moment nicht, noch nicht. Auf dem Schreibtisch lagen Schulbücher und einige Heftkladden. Hier war nichts Auffälliges für Petersen zu finden.

Er öffnete das nächste Zimmer, das Schlafzimmer. Hier lagen einige Kleidungsstücke, eine Jeans, ein Pullover und ein schwarzes T-Shirt auf dem breiten Futonbett. Auch die Suche in Bad und Küche blieb erfolglos, von Brigitte Dunker keine Spur. Er ging wieder in den Flur zurück, wo die anderen mit gespannten Gesichtern auf ihn warteten:

„Nichts, keine Spur von Frau Dunker. Herr Timmsen, bitte gehen Sie noch einmal durch. Sie kennen Frau Dunker ja näher, aber bitte nichts anfassen." Petersen war ziemlich ratlos. Zu den Feuerwehrleuten gewandt, fragte er:

„Kriegt ihr die Tür wieder zu?“

„Na, klar“, antwortete Focko Hanken.

„Ich muss das morgen Wilhelmshaven melden, da wir hier ja keine Bereitschaftspolizei haben, die bei einer Suche nach Vermissten eingesetzt werden kann. Harm, wie viele Leute würdest du im Ernstfall für eine Suche bereitstellen können?“

Nach kurzem Überlegen schätzte dieser:

„Ungefähr 30 Leute, einige sind auf dem Festland oder in Urlaub. Wie stellst du dir das vor, Lars?“

„Lass uns morgen darüber reden, wenn ich mit Wilhelmshaven gesprochen habe."

„Okay, du weißt, wie du mich erreichen kannst“, antwortete Harm.

Timmsen kam in diesem Moment wieder aus der Wohnung. „Ich kann nichts Auffälliges erkennen“, berichtete er. „Herr Timmsen, ich brauch wahrscheinlich die Hilfe Ihrer Kollegen. Ich melde mich morgen bei Ihnen."

„Natürlich, ich organisiere das“, willigte Timmsen ein.

Focko Hanken hatte die Tür wieder verriegelt. Allen war irgendwie der Ernst der Lage anzumerken. Mit mulmigem Gefühl verabschiedete man sich. Der rote Landrover drehte und fuhr zurück ins alte Feuerwehrhaus. Das neue war ja erst im Rohbau fertig und sollte Ende des Jahres eingeweiht werden. Petersen erinnerte sich an die spielenden Kinder auf der Mauer. Er schwang sich aufs Fahrrad und radelte zurück ins Revier. Einen kurzen Bericht würde er schreiben müssen, er war davon wenig begeistert, aber die Sache war für ihn zu heiß, einen Fehler konnte er sich in keinem Fall erlauben. Plötzlich stand Frieda Siebelts vor der Tür und brachte Bettwäsche für den Polizeianwärter, der morgen kommen sollte. Wieder hatte Petersen diese Personalie verdrängt. Frieda blickte Petersen sorgenvoll an:

„Was war denn los? Ich habe dich mit Harm Gerdes in der Peterstraße gesehen?“

„Ich brauchte seinen Rat wegen eines Einbruchverdachts“, log Petersen. Er wollte jetzt keinen Klatsch haben. Er merkte wohl, dass Frieda nicht ganz zufrieden war mit seiner Antwort, aber er würde ihr das später erklären. Sie verabschiedete sich mit den Worten:

„Und denk morgen an den Anwärter!“

Petersen genoss die Ruhe im Revier. Dieser Tag hatte ihn gestresst und alles rief nach einem Bier. Der Magister hatte Ruhetag. Wohin jetzt? Wenn schon Frieda den Auflauf in der Peterstraße gesehen hatte, war die Gefahr groß, dass andere Insulaner ihn darauf ansprechen würden. Also nichts mit Kneipe, Bier zu Hause und „Tatort“ gucken.

Schatten über Wangerooge

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