Читать книгу Schatten über Wangerooge - Malte Goosmann - Страница 5

Sonnabend

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Am nächsten Morgen kam Petersen nur schwer aus dem Bett. Da er noch zwei Stunden offiziell Dienst hatte, streifte er seine Uniform über. Er entschloss sich frische Brötchen bei der Inselbäckerei Kunst zu holen.

Die freundliche Bedienung hinter dem Tresen lachte ihn an:

„Da kommt ja unser Insel-Clapton.“

Petersen, noch nicht ganz wach, wurde leicht verlegen: „Wer hat da denn wieder geplaudert?“ fragte er.

„Wir sind eben ein kleines Dorf, da bleibt nichts unbemerkt“, kicherte die junge Frau.

Zwar musste er auf dem Rückweg über diese Begebenheit grinsen, aber sie zeigte ihm auch, wie stark man hier unter Beobachtung stand.

Kaum im Revier angekommen, klingelte sein Diensthandy: „Polizei Wangerooge, Petersen“, meldete er sich.

„Bahnhof Wangerooge, moin, wir haben Graffiti auf drei Waggons der Inselbahn. Könnt ihr mal kommen?“

„Bin in einer Viertelstunde da“, antwortete Petersen.

Er musste wieder an Frieda Siebelts Worte vom ersten Abend denken, ein 24 Stunden Job. Er schmierte sich schnell zwei Brötchen, trank einen Pott Tee, nahm sich die digitale Dienstkamera und ging zum Bahnhof. Vor dem alten Leuchtturm sammelte sich eine Hochzeitsgesellschaft. Sie warteten augenscheinlich auf das Brautpaar, dass sich oben im Leuchtturm trauen lies. Diese Art der Trauung war immer beliebter geworden, in Bremen zum Beispiel konnte man sich auf einem Segelschiff trauen lassen. Auf dem Bahnhof angekommen, nahm er Kontakt zum Bahnhofsvorsteher auf. Dieser zeigte ihm die drei Waggons, die direkt auf dem Gleis am Bahnsteig standen. Petersen nahm die Anzeige auf, fotografierte die Tags (individuelle Graffitizeichen) und machte sich wieder auf den Rückweg. Im „Störtebeker“ wurde sauber gemacht. Die Jever-Kisten stapelten sich vor der Eingangstür. Er studierte das Schild mit den Öffnungszeiten. Erst ab 17 Uhr war die Kneipe geöffnet? Die Bundeliga begann aber schon um 15:30 Uhr. Ich werde es einfach versuchen, dachte Petersen und ging zurück ins Revier. Er trug den Graffiti-Vorfall ins Reviertagebuch ein, schickte die Bilddatei mit den Tags nach Wilhelmshaven.

Ohne Uniform, aber mit einem Werder-Schal bekleidet, ging er gegen 15:15 Uhr los, um zu sehen, was nun im „Störtebeker“ auf ihn wartete. Etwas komisch war ihm schon zumute. Die Außenbeleuchtung der Kneipe war nicht eingeschaltet, auch das Schild „open“ war nicht rot beleuchtet. Er sah aber vier Personen an der Theke sitzen. Mit etwas gemischten Gefühlen öffnete er die Kneipentür.

„Geschlossene Gesellschaft! Hier wird nur Werder gezeigt“, donnerte es ihm entgegen.

„Du wirst doch wohl unseren neuen Sheriff rein lassen“, tönte es von der Theke. Petersen erkannte den Mann. Es war der Bahnbeamte von heute Morgen. Petersen und der Magister fixierten sich jetzt. Es entstand eine kurze Pause. In beiden Gesichtern konnte man eine gewisse Ratlosigkeit beobachten. Der Magister unterbrach das Schweigen:

„Gut okay, komm rein. Du hast ja auch den richtigen Schal um.“

Petersen setzte sich auf den freien Hocker neben den Bahnhofsvorstand. Er bestellte ein kleines Bier. Und nun stand es fest. Der Magister war der, den er aus Bremen kannte. Ein groß gewachsener Mann, ungefähr 1,90 m, mit großer schwarzer Brille und Kurzhaarfrisur. Man sah diesem Mann an, dass er gelebt hatte und das nicht zu wenig. Er trug eine verwaschene Jeans, die eigentlich mal in die Wäsche gehörte, darüber ein gelb schwarz geringeltes T-Shirt, das sehr stark an die Biene Maja erinnerte und nicht sehr vorteilhaft im Bauchbereich wirkte. Fieberhaft arbeitete es in Petersens Kopf. Sollte er hier quasi öffentlich bekennen, dass er diesen Mann kannte und einiges über ihn wusste. Auf der anderen Seite konnte auch der Magister, eine ganze Menge über ihn berichten. Er entschied sich nichts zu sagen und augenscheinlich hatte der Magister die gleiche Entscheidung getroffen.

Petersen musterte die Kneipe, während der Fernseher, der sich im Flaschenregal für die harten Getränke befand, angeschaltet wurde. An der Decke hingen Fischernetze, Aalreusen und ein Sack mit Kronkorken von unzähligen Bierflaschen. An den Wänden waren maritime Bilder angebracht und in den Ecken auf der Empore waren zwei große Gallionsfiguren mit sehr üppiger Oberweite aufgestellt. Am Eingang vor dem Tresen hing ein grünes Jever-Fahrrad unter der Decke. Über dem Tresen waren Bilder, wahrscheinlich von Stammgästen, zu sehen. Und es fehlte natürlich nicht das Schild mit dem Auszug aus der mittelalterlichen Chronik: „Magister Wygbold een mester an den seven kunsten." Daneben hing ein großes Ölbild, auf dem der Kopf von Klaus Störtebeker dargestellt war. Unter dem Bild standen die Worte “Claus Stürz den Becher.“

Dieses Bild tauchte zum ersten Mal im 17. Jhrdt. auf und es war höchst umstritten, ob hier tatsächlich das Konterfei von Klaus Störtebeker dargestellt wurde. Petersen hatte mal gelesen, dass es sich eher um die Darstellung des Kunz von Rosen, Hofnarr von Kaiser Maximilian, handele. Er hatte einmal in einer Bremer Kneipe, in der der Magister bediente, ihn mit dieser Erkenntnis aus einem Buch über Störtebeker konfrontiert. Der Magister fühlte sich provoziert und hielt wiederum Petersen einen Vortrag über die wahre Geschichte des Klaus Störtebeker. Das Leben dieses berühmtesten deutschen Seeräubers faszinierte beide.

„Was tippst du denn Sheriff?“ schreckte ihn der Bahnhofsvorsteher aus seinen Gedanken auf.

„2:1 für Werder“, antwortete Petersen.

Jetzt mischte sich der Magister ein: „Wenn du mit tippen willst, zwei Euro auf den Tisch. Du kannst auch noch die anderen Spiele tippen, die da auf den ausgehängten Listen stehen."

Unter den aufgeführten Begegnungen standen die getippten Ergebnisse, da hinter standen Namen wie z. B. Schwede, Jens Strandwärter oder andere Spitznamen. Petersen trug seine Tipps ein und zeichnete diese mit „Sheriff“ ab.

„Humor scheinst du ja zu haben“, lachte der Mann von der Bahn, auch die anderen vier Thekengäste lächelten Petersen freundlich an, selbst der Magister konnte sein Grinsen nicht verbergen. Das Eis schien gebrochen. Petersen zahlte seinen Wetteinsatz. Im Fernsehen lief das übliche Vorgeplänkel mit Robin Dutt, der nun auch mehr in die Kritik geriet. Er appellierte an die Geduld der Fans beim Neuaufbau der Mannschaft. Die Mannschaften betraten das Spielfeld. Von nun an konzentrierte sich die gesamte Thekenbesatzung auf das Spiel. Man ereiferte sich, schimpfte auf den Schiedsrichter, titulierte einige Spieler als Nullnummern und Fehleinkäufe, die noch Klaus Allofs zu verantworten hatte. Nach 80 Minuten torloser Magerkost wurde die Runde durch ein Tor für Werder erlöst. Dieses 1:0 hatte auch bis zum Schluss noch Bestand. Petersen hatte zwei Ergebnisse im Tippspiel richtig getippt. Er erhielt 18 € ausgezahlt und gab eine Runde davon aus, was bei der Thekenbesatzung sehr gut ankam. In diesem Moment klingelte sein Diensthandy. Onno, der Bereitschaft hatte, war dran:

“Lars, wir haben eine Schlägerei im „Korb“ oben. Ich krieg die Kerle allein nicht gebändigt. Wo bist du?“

„Ich bin beim Magister, ich komme rauf.“ Zu seinen neuen Tresen-Freunden gewandt, sagte er: „Es gibt Ärger im „Korb“, ich muss mal eben Onno helfen.“

„Na, ja, das wundert mich nicht, was da alles so rumhängt“,schaltete sich der Mann von der Bahn ein. Petersen zahlte und eilte zügig zur Strandpromenade.

Vor der Kneipe auf der Promenade hatte sich ein Knäuel von Menschen gebildet. Jeweils drei hielten einen Kontrahenten fest und in der Mitte befand sich Onno mit hochrotem Kopf. Onno schilderte, dass beide sich wohl beim Fußballspiel derart in Rage geredet hatten, dass die Fäuste flogen. Weder Wirt noch Mitgästen sei es gelungen, die beiden zu bändigen. Petersen schnappte sich den ersten mit gekonntem Polizeigriff und herrschte ihn an: „Mitkommen!" Onno und der Wirt des Strandkorbs, der mittlerweile herbeigerufen wurde, nahmen den anderen mit.

Um kein Aufsehen in der Zedeliusstraße zu erwecken, gingen sie einen Umweg zur Polizeistation. Zum ersten Mal sah Petersen die drei Zellen im Erdgeschoss der Station. Sie sperrten die beiden Streithähne jeweils getrennt ein, bedankten sich bei dem Wirt und gingen dann in ihr Dienstzimmer. Onno schrieb ein kurzes Protokoll über den Vorfall.

„Was machen wir jetzt?“ fragte Petersen Onno.

„Wir warten jetzt erst einmal. Dann versuchen wir zu schlichten. Meistens geht so was ohne Anzeige aus. Ich kenn den einen. Das ist nicht das erste Mal, dass der beim Fußball Ärger macht. Der ist HSV-Fan und wenn der nur Werder Bremen hört, rastet der aus, aber nüchtern ist der ganz umgänglich“, antwortete Onno.

Nach ca. einer Stunde gingen Onno und Petersen in jeweils eine Zelle, redeten ruhig und sachlich auf die Männer ein. Danach wurden beide Kontrahenten ins Dienstzimmer gesetzt. Der eine saß dem anderen gegenüber.

„So Männer, habt ihr euch beruhigt oder steht noch etwas zwischen euch? Dann raus damit." Beide schüttelten mit dem Kopf. „Auf eine Anzeige können wir wohl verzichten? Kommt sowieso nichts bei raus. Ihr gebt euch jetzt die Hand und geht schön nach Hause. Wenn ihr zu Hause seid, ruft ihr hier an und wehe unterwegs passiert was! In einer Viertelstunde läutet hier das Telefon und wenn nicht, dann suchen wir euch, und wir werden euch finden. Raus mit euch!“

Petersen war begeistert mit welcher Souveränität Onno diesen Vorfall händelte.

„Hast du mal ´ne Mediatorenausbildung gemacht?“ fragte er.

„Wat is dat denn?“ raunzte Onno.

„So was machen in Bremen die Kontaktpolizisten, auf deutsch Streitschlichtung.“

„Ich brauch das hier nicht“, konterte Onno, „meine Fortbildungen sind zwanzig Jahre Dienst auf Wangerooge, Fußball, Alkohol und die langen Novemberabende."

In diesem Moment läutete das Telefon. Der erste meldete sich bei Onno und nur eine Minute später rief auch der andere Streithahn an. Onno grinste:

„Gode Nacht Lars!"

„Nacht Onno.“

Eigentlich hatte Petersen das dringende Bedürfnis, noch ein Bier trinken zu gehen. Aber sein gesunder Menschenverstand riet ihm von diesem Vorhaben ab. Er ging nach oben in seine Wohnung, stöpselte die Gitarre ein, diesmal mit Kopfhörer, und spielte mindestens viermal hintereinander Rockin‘ all over the World.

Schatten über Wangerooge

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