Читать книгу Mutter aller Schweine - Malu Halasa - Страница 11

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»In was für eine Schlangengrube hast du uns nur gestürzt!« Mutter Fadhma beschimpft das Foto an der Wohnzimmerwand. »Wo du uns doch behüten solltest!«

Feinnervig wie eine Wünschelrute würde sie jegliche Veränderung im Raum spüren, von Temperatur über Atmosphäre bis zu den Lichtverhältnissen. Doch alles bleibt genau, wie es ist, ein klares Zeichen, dass Al Dschid sie überhaupt nicht beachtet. Sein Bild strahlt nur die ganz eigene Eitelkeit arabischer Männer aus. Mit seinem sorgsam arrangierten Kopfputz aus Kefije und Agal wirkt er wie ein beduinischer Stammesfürst.

»Selbst schuld bin ich.« Jetzt richtet sich ihr Groll nach innen. Sie hat ihn immer verwöhnt. Sein bodenlanger Dschellaba-Mantel ist gestärkt und unnachgiebig wie sein Stolz; damit er so wird, hatte sie jede Faser einzeln gebügelt. Als der Auslöser gedrückt wurde, beugte sich Al Dschid vor, den linken Zeigefinger anklagend ausgestreckt, auf halbem Wege eingefangen zwischen Stirnrunzeln und durchdringendem Starren. Auf dem Bild wie im echten Leben ganz der klassische Patriarch.

»Du hast immer gesagt, dass du all deine Kinder liebst. Aber nur ihre große Menge hast du geliebt!«, raunzt sie wieder das Porträt an. »Und sobald sie das Land verlassen hatten, haben sie uns vergessen, auch da hast du dich geirrt.«

Al Dschid hatte ihr versichert, viele Kinder seien besser als nur ein paar; er bezeichnete sie oft als seine Versicherung. In Erinnerung an diese Worte klatscht sie laut und schnell, eine Geste, mit der sie ihren Ehemann, sich selbst und all ihre Anstrengungen quasi gleich aus der Welt schafft. Wenn sie nicht einmal auf die eigenen Söhne zählen können, müssen sie wohl etwas falsch gemacht haben. Zu viele ihrer Kinder sind ausgewandert; wäre die Mehrzahl von ihnen zu Hause geblieben, Al Dschid und Fadhma wären geschützt und sicher gewesen. Eine schmerzhafte Leere breitet sich in ihrem Brustkorb aus. Sie braucht von dem Mann auf dem Bild unbedingt Zuspruch, lediglich ein winziges Zeichen, doch er starrt nur vor sich hin.

Sie seufzt frustriert. Entweder hat ihr Ehemann seine Pflichten vernachlässigt oder es ist ihm einfach egal, wie seinem Sohn. Als Familienoberhaupt müsste Hussein Samira unter Kontrolle haben. Doch unter der Knute dieser grässlichen Ehefrau hat er die Fähigkeit zu klarem Denken eingebüßt. Und nun wird wegen seiner Probleme eine schlimme Situation noch schlimmer. Nicht als Einziger in der Familie hat er die Kunst perfektioniert, alles zu sehen und gleichzeitig so zu tun, als wüsste er von nichts. Auch Fadhma hat gesehen, wie er spätabends ins Haus torkelt, und am nächsten Morgen die Niederlage in seinem Atem gerochen, schal und faulig. Trotz ihres eigenen Unglücks wird ihr das Herz weich. Bei genauerem Hinsehen ist Nadschlas Sohn kein gänzlich schlechter Mann. Nur schwach und leicht zu beeinflussen ist er. Wie bei allen Kindern ist Fadhma bereit, gegenüber Husseins Fehlern und Exzessen Nachsicht zu zeigen, doch für den Mann, der verantwortlich ist für Husseins Korrumpierung, gilt das keinesfalls. Hinter Husseins Kümmernissen lauert die Spukgestalt ihres heimtückischen Bruders. Windig und gierig war Abu Satar schon immer, doch dass er ihre Familie zerstören würde, hätte sie nie erwartet. Ihr Hass auf ihn fährt ihr wie ein Messer quer durch die Rippen.

Als seine ältere Schwester akzeptierte Fadhma sein Verhalten bedingungslos, solange sie noch unter einem Dach lebten. Am Tag der Beerdigung ihres Vaters sagte Abu Satar, dass Fadhma von nun an im Haus bleiben würde. Keine Familienehre sei schützenswert, wenn sich Frauen frei in der weiten Welt herumtrieben. Da sie bei niemandem hätte Einspruch einlegen können, gab sie widerwillig nach.

Da es alles, was sie nur brauchen konnte, im Geschäft ihres Bruders gab, wurde sie praktisch zu seiner Gefangenen. Nur Abu Satars Geschäftspartner kamen ins Haus, und nach einer Weile bemühte sich im Dorf niemand mehr, nach Fadhma zu fragen. Wenn Abu Satars Ehefrau sie kleinmachte, versprach Fadhma, sich mehr anzustrengen. Sie war die Hauptleidtragende der Witze seiner Kinder und lachte dabei am lautesten. Einmal hörte sie, wie ihr Bruder mit einem Geschäftsfreund über die Bestimmung der Frau sprach. Sie dienten zum Kochen und Putzen, sagte er, dann leiser: und noch zu einer einzigen anderen Sache. Bei seinem Compagnon sorgte das für tosendes Gelächter. Fadhmas Selbstwertgefühl war so weit gesunken, dass sie sich nicht mehr sicher war, ob sie überhaupt anderer Meinung war. Sie wusste, was sie von ihm und seiner Familie erwarten konnte. Ihr Leben war völlig eingeschränkt, aber zumindest kümmerte man sich um sie. Mit der Zeit fügte sie sich einem Schicksal, das sie als unverrückbar wahrnahm.

Nach Nadschlas Tod brachte Al Dschids Heiratsantrag das Gleichgewicht durcheinander; der Antrag gähnte wie ein Abgrund vor ihr. Nach jahrelanger Tristesse empfand Fadhma Glück als etwas für all jene, die nie im Weg waren. Die Möglichkeit von etwas Unbekanntem machte Fadhma Angst. Es gab keine Garantie, dass sie gut behandelt werden würde. Am schlimmsten war, dass sie wusste, dies war ihre letzte Chance. Falls sich die Ehe als eine Enttäuschung herausstellen sollte, bezweifelte sie, ob sie das überleben würde. Sie versuchte, ihre Ängste mit ihrem Bruder zu besprechen, der ihr sagte: »Ich habe meine Pflicht getan. Tu du nun deine.«

Mit jedem Tag wurde sie aufgewühlter. Nadschla hatte Al Dschid sechs gesunde Söhne geboren, einen nach dem anderen. Sooft Fadhma die Kleinen von ihrem Versteck hinter dem Vorhang im Geschäftsraum flüchtig zu sehen bekam, traten ihr Tränen in die Augen; nie würde sie ihre tote Mutter ersetzen können, ihre geliebte Schwester. Fadhma sank tiefer in die Depression. Selbst mit der Ehe durfte sie nur auf die Krümel von einem anderen Tisch hoffen. Saft- und kraftlos hing sie im Haus ihres Bruders herum und war mit der Welt uneins.

Eines Tages kam eine Truppe Clowns in ausgeblichenen Harlekinkostümen ins Dorf marschiert und bewarb ihre einzige und alleinige Aufführung mit dem nasalen Plärren einer Zurna-Flöte. Das ganze Dorf war hingerissen. Abu Satar, der in seinem Leben noch keinen Tag Urlaub genommen hatte, schloss das Geschäft und versammelte seine Familie. Als sie losgingen, ließ seine Ehefrau Fadhma nicht aus der Haustür treten und schloss hinter sich ab, ohne sich auch nur zu verabschieden.

Fadhma hatte sich an diese Art kleinlicher Grausamkeit gewöhnt, doch nun, da sie allein im Haus war, beleuchtete diese Gemeinheit das gesamte Ausmaß ihrer Misere. Früher hätte Fadhma ihr Schicksal akzeptiert und wäre auf das Dach gestiegen, wo die Kräuter für das Satar trockneten. In der Arbeit mit den Blättern und Blüten des Thymians, von dem die alten Griechen glaubten, dass er innere Stärke und Mut anrege, hatte sie schon immer Trost gefunden. Doch nicht einmal ein Kräuterrezept mit den Zaubereigenschaften des Hanfes hätte ihren jetzigen Seelenkummer heilen können. Sie fürchtete sich davor, ihr vertrautes Leben aufzugeben, egal wie sehr man sie malträtierte. Gleichzeitig machte die Aussicht auf ein besseres Leben, egal wie schwach, ihre gegenwärtige Situation unerträglich. Ihr Geist drehte sich wie ein Mühlrad.

Sobald ihr Bruder und seine Familie außer Sichtweite waren, richtete sie ihr Kopftuch und kletterte kurzerhand aus einem Hinterfenster. Der Pfad vor ihr führte aus dem Dorf hinaus, hinein in eine ununterbrochene hügelige Weite voller Gestein und Sand. Am Horizont schwoll der Himmel an wie ein tintig blaugraues Hämatom. Ein Sturm näherte sich rasch. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin sie ging, noch kümmerte es sie. Zum ersten Mal war sie vollkommen allein in der Welt, verantwortlich für sich selbst.

Ein sintflutartiger Regen setzte ein. Die sofortige Bedrohung durch Blitzüberschwemmungen ließ sie schneller gehen. Als sie durch eine Lücke zwischen ein paar Felsbrocken schlüpfte, wäre sie fast gegen ein schwarzes beit al-sha’r gelaufen, ein aus Tierhaar gewebtes Beduinenzelt. Nicht gewillt, denselben Weg zurückzugehen, sich aber auch des Weges nach vorne unsicher, blieb sie neben einem feuchten, qualmenden Lagerfeuer stehen, bis auf die Haut durchnässt, frierend und keuchend.

Fadhma kannte die alten Geschichten. An manche Orte ging man nicht, an manche Menschen trat man nie heran. Bestimmte Frauen verfügten über genügend Macht, um ein ganzes Leben zu verfluchen und es in unfruchtbare Einsamkeit zu verwandeln. Fadhma machte sich keine großen Gedanken darum, weshalb sie noch nicht verheiratet war, wenngleich ihre Schwägerin sie in einem fort warnte, nicht auf der verkehrten Seite des Bettes zu schlafen oder im Licht des Vollmondes. Fadhma wusste, dass raue Gesichtszüge bei einem Mann ganz anders aussahen als bei einer Frau, lehnte Aberglauben ab und glaubte lieber, dass es Gottes Wille war, dem sie nur gehorchen konnte. Der Sturm erreichte seinen Höhepunkt. Die Regentropfen, jeder von der Größe und dem Gewicht eines kleinen Steines, waren eine physikalische Kraft, die sie weiter antrieben.

Verstohlen schaute Fadhma in das Zelt und sah, als sie sich an das Halbdunkel gewöhnt hatte, ein Zuhause ganz wie im Dorf, mit Kissen, Wasserkrügen, einer Truhe und einem Gewehr. Sie hatte Gerüchte gehört über die Wahrsagerinnenschwestern, die hier lebten. Sie erledigten die Jobs, an die sich sonst niemand traute: Abtreibungen, Exorzismen und Séancen. Sie konnten das Unsichtbare sichtbar machen und die Gegenwart verändern. Unter ihrer Anleitung konnte ein Mädchen mit Erfahrung in der Hochzeitsnacht bluten wie eine Jungfrau oder eine alte Frau eine Vagina bekommen, die fleischig war wie eine überreife Feige. Für die beiden Schwestern, die völlig außerhalb der Gesellschaft lebten, war Fadhma nur ein weiteres albernes Dorfmädchen, das Glück nicht von Pech unterscheiden konnte.

Fadhma ging in das Zelt und erwartete, dass jemand erscheinen müsse. Als niemand auftauchte, setzte sie sich, spähte in die dunklen Ecken und platzte schließlich mit ihren innersten Ängsten heraus: »Ich soll einen Mann heiraten, der gut sein soll. Aber meine Schwester, seine erste Ehefrau, liegt schon in ihrem Grab. Sollte ich nicht lieber bleiben, wo ich bin?«

Auf dem Teppich neben sich schob sie Steinchen und Knöchelchen zu einem kleinen Haufen zusammen, untersuchte jedes genau, fuhr mit den Fingern über die schartigen Oberflächen und spürte ihr Gewicht und ihre Formen. Dann schüttelte Fadhma sie wie Würfel und warf. Klappernd fielen sie zu Boden, hörbar gegen den Lärm des Windes und Regens vor dem Zelt.

Aus einem Winkel betrachtet schienen die Steinchen und Knochen ein Fragezeichen zu bilden, aus einem anderen einen gestrichelten Gebirgszug in der Gestalt einer hochschwangeren Frau. Es war nicht die Antwort, die Fadhma erwartet hätte, aber es war die, die sie verdiente. Als sie aus dem Fenster geklettert war, war die Entscheidung gefallen. Sie würde zu ihm gehen, weil sie es wollte, und ihn verlassen, falls die Dinge eine schlechte Wendung nehmen sollten, ein Akt, der die unwiderrufliche Entehrung ihrer Familie und mit Sicherheit ihren eigenen Tod bewirken würde. Zumindest würde sie vielleicht ein Leben leben, das wirklich ihr eigenes wäre, und jegliche Macht, die sie darüber hätte, würde besser sein als das ihr aufgezwungene Dasein. Fadhma staunte, wie Angelegenheiten des Herzens innerhalb eines Augenblickes entschieden werden konnten.

Nach einer kleinen Familienfeier und einer priesterlichen Segnung in der Kirche des Mosaiks zog Fadhma mit ihrer einen Kiste Hab und Gut aus Abu Satars Haus aus und in Al Dschids krumme Lehmziegelhütte ein. Um die sechs Söhne ihrer Schwester kümmerte sie sich aus Pflichtgefühl. Den Mysterien der Sexualität begegnete sie mit derselben Geisteshaltung. Als sie ihren Ehemann zum ersten Mal nackt sah, sagte sie, er erinnere sie an einen stolzierenden Hahn, und Al Dschid gefiel ihre Unerfahrenheit. Sie hatte keinen Begriff von Vergnügen, aber sie war nicht zu alt zum Lernen. Spätabends, wenn sie nebeneinander lagen, fragte sie sich, ob auch Nadschla so völlige Freude erlebt hatte.

Sie besaßen nicht viel, doch Fadhma fühlte sich begehrt und benötigt. Aber ein Aspekt am Verhalten ihres Ehemanns verblüffte sie. Er war am stolzesten und aufmerksamsten, wenn sie der Frau in der Form des Gebirgszuges glich – immer schwanger. Bald hatte sie sich um ihre eigenen sieben Kinder zu kümmern, zusätzlich zu den sechs Söhnen ihrer Schwester. Nach der Geburt so vieler Kinder schien es seltsam, dass die Leute aus dem Dorf mehr von Al Dschids Zeit in Anspruch nahmen als seine eigene wachsende Familie.

Kam jemand an die Tür – egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit –, stand er zu Diensten und erwartete von seiner Frau dieselbe Aufmerksamkeit. Nach der Leere ihres Lebens im Haus ihres Bruders war der unablässige Strom an Besuchern anfangs anstrengend. Unaufhörlich musste sie bereitstehen, um Tee zu machen. So hielt sie ihr Kopftuch stets parat und die Wasserkrüge gefüllt. Die Leute schienen immer dann vorbeizukommen, wenn die Familie gerade essen wollte, was hieß, dass ihr Ehemann und die männlichen Gäste zuerst aßen. Sie und die Kinder begnügten sich mit den Resten, in der Regel nicht viel. Die Jahre des Hungers hinterließen Spuren. Die Söhne ihrer Schwester stritten sich um das bisschen, das da war, und der Konflikt säte eine Zwietracht, die Wurzeln schlug und heranwuchs zu einem dichten Dornengestrüpp um jedes ihrer Herzen.

Ob es darum ging, eine Verbindlichkeit abzugelten oder eine künftige Gefälligkeit zu sichern, Al Dschid wurde häufig von anderen Dorfbewohnern in deren Häuser eingeladen, wo ihm nur das Beste vom Besten aufgetischt wurde. Bis spät in den Abend hinein erzählte er dann Geschichten oder Neuigkeiten, von denen er auf seinen Marktgängen erfahren hatte. Fadhma wusste nie, wo er war oder wann er nach Hause kommen würde. Ihr einziger Hinweis auf seinen Aufenthaltsort war, wenn eine Nachbarin erzählte, sie habe ihre Stiefsöhne vor einem Fenster anderer Leute sitzen sehen. Nur wenn die Jungen so den Geschichten ihres Vaters lauschten, stritten sie ausnahmsweise nicht.

»Arbeite hart, und du dienst Gott und dir selbst«, belehrte Al Dschid seine Familie. Meistens arbeitete Fadhma für Arme, Menschen wie sie selbst. Sie kochte Meramije, das bittere Salbeiheilmittel gegen Ruhr und Nachtschweiß; bereitete Isbet il-Gizha zu, ein Beduinenrezept mit Honig; oder verabreichte Habat al-Baraka, den gesegneten Schwarzkümmelsamen des Propheten, dafür bekannt, gegen gebrochene Herzen und Kehlkopfentzündung zu helfen. Am begehrtesten war jedoch die namensgebende getrocknete Kräutermischung der Familie. Der gesundheitliche Nutzen ihres Satars war unermesslich: Es wirkte gegen Keuchhusten und Menstruationsbeschwerden, stimulierte das Erinnerungsvermögen und regte das Gehirn an. Vor allem roch und schmeckte es nach Heimat. Dieses einfachste aller Essen wurde mit Olivenöl vermischt, auf Brot gestrichen oder damit gebacken oder als Würzsauce verwendet. Selbst wenn der Boden karg war, brachte er mit wenig Wasser doch aromatisches Gestrüpp und Gesträuch hervor, ein Zeichen der Natur, dass sie die Menschen nicht völlig vergessen hatte, noch nicht. Mit den spärlichen Mitteln der Familie, und ohne sich zu beschweren, bediente Fadhma ihren Gatten und die vielen Besucher, die seinen Rat einholten. Gleichzeitig begann sie, ein eigenes unabhängiges Netzwerk aufzubauen. Die benachbarten muslimischen Haushalte, wo Ehefrauen und Weibsvolk normalerweise nicht unbegleitet das Haus verlassen durften, besuchte Fadhma unangemeldet und wurde stets willkommen geheißen.

Fadhma konnte nicht umhin, die Großmut und hohen moralischen Ansprüche ihres Ehemanns mit denen ihres skrupellosen Bruders zu vergleichen. Abu Satar war ein Mann, der von der Verzweiflung anderer Menschen profitierte. Er lebte von Krieg und Korruption. Sein wachsender Wohlstand ließ ihn launenhaft und liederlich werden. In einer Woche sammelte er Kuckucksuhren, in der nächsten billige Taschenrechner und breite weiße Schlipse. Seine Deals und seine Zockerei akzeptierte Fadhma widerwillig, aber er hatte einen ungesunden maliziösen Zug entwickelt.

So konnte er es sich nicht verkneifen, seine Schwester mit ihrem spartanischen Dasein zu triezen. Wohlwissend, dass Fadhma, ihre kleinen Kinder, Al Dschid und Nadschlas Jungen allesamt auf dem Boden eines einzigen Zimmers schliefen, bot er ihr an, seine jüngste Anschaffung auszuprobieren. Als sie allein waren, ermunterte er sie, sich neben ihn auf sein neues Messingbett zu setzen.

»Guck mal, was du versäumst.« Er betastete die weiche Bettwäsche und musterte seine ältere Schwester. Sie war unvermutet zu einer reifen Frau voller Selbstvertrauen und Erfahrung erblüht. »Komm, Schwester«, schlug er hämisch vor, »noch ein bisschen …«

Alarmiert entschuldigte sich Fadhma und ging schnell. Hätte sie lange genug bei ihm gewohnt, hätte sie irgendwann vielleicht ein eigenes Messingbett bekommen, und es wäre ein Käfig der Scham gewesen. So inbrünstig, wie sie ihren Ehemann liebte, begann sie ihren Bruder zu hassen.

Als ihr Stiefsohn Hussein Abu Satars Zauber verfiel, flehte Fadhma Al Dschid an, rasch zu handeln, und der Junge wurde eiligst zur Armee geschickt. Beide Eltern waren erleichtert und glaubten, die Sache wäre damit erledigt. Nur Fadhma lebte lang genug, um zu erleben, dass versehentlich doch noch ein anderer Weg ins Verderben eingeschlagen wurde.

In der Nacht, in der sich ihrer aller Leben unwiderruflich zum Schlechteren wandelte, ging Mutter Fadhma gerade schlafen, als sie den Schlachterwagen in die Kieseinfahrt knirschen hörte, gefolgt von gedämpften Stimmen, die erfolglos versuchten, das Haus unbemerkt zu betreten. An seinen Trinkabenden hatte sich ihr Stiefsohn angewöhnt, nach Mitternacht hereinzuschleichen und voll bekleidet auf dem kalten Fliesenboden des einzigen noch unmöblierten Zimmers im neuen Haus zu schlafen, im leeren Empfangszimmer. Es war unbequem, hatte aber einen Vorteil. So riskierte er nicht, beim Zubettgehen Laila zu stören, und weil er das Haus immer verließ, bevor sie morgens aufstand, entging er mitunter der gewohnheitsmäßigen Standpauke, wenn sie ihn betrunken erwischte. Im Wissen um diese Routine hätte Fadhma alles ignoriert und wäre wieder eingeschlafen, doch das ächzende Ringen wurden lauter. Also schlich sie zur Schlafzimmertür, öffnete sie einen Spalt breit und spähte in den Flur.

Zuerst schien es, als läge sie mit ihrem Verdacht richtig. Rotgesichtig und wankend kämpften Hussein und ihr abscheulicher Bruder Abu Satar mit einem großen Jutesack, den sie mit Mühe zwischen sich trugen. Neugierig trat Mutter Fadhma aus ihrem Zimmer. Doch die Männer waren so in ihre Aufgabe vertieft, dass sie sie überhaupt nicht bemerkten. Dann sah Mutter Fadhma, dass das Unvermögen der Männer, ihre Last zu kontrollieren, weniger mit Alkohol zu tun hatte als damit, dass sich der Sack drehte und hob, als wäre er lebendig. Mit etwas Abstand folgte sie den beiden.

Durch die Rufe der Männer geweckt, kamen Laila, Samira, Salim und Mansur in das Empfangszimmer geeilt, wo in einer Ecke der keuchende Hussein saß und in der anderen ein riesiges schwarz-braun-rot geflecktes Schwein, erschöpft und desorientiert von einem heimlichen Trip quer durch die Stadt. Die Ankunft so vieler Fremder regte das Tier auf, und als Mansur auf es zurannte, um es von Nahem zu betrachten, unternahm es einen verzweifelten Fluchtversuch, den nur Abu Satars geschickte Fußarbeit vereitelte. In der darauffolgenden Verwirrung wurde Mansur zu Boden geworfen, was Samira wieder mit Laila im Chor schreien ließ. Abu Satar befürchtete, die Situation könnte zu einer Panik ausarten, in der seinem tierischen Schlüssel zum Reichtum irgendein Malheur widerfahren oder durch die zumindest die ungewollte Aufmerksamkeit der Nachbarn erregt werden könnte, und so scheuchte er die Familie aus dem Zimmer, damit das Schwein in Ruhe die Fassung wiedergewinnen konnte. Samira wurde beauftragt, die aufgekratzten Kinder zurück ins Bett zu bringen. Die vier Erwachsenen setzten sich an den Küchentisch, wo Hussein bei einem Tee Abu Satars Ideen erklärte.

Zu Mutter Fadhmas Überraschung schätzte ausgerechnet Laila die Lage kühl ab. Sie alle hatten sich erschreckt, als das Schwein auf Mansur losgestürzt war. Wie bei einer Maus waren die unvorhersehbaren Bewegungen viel furchteinflößender als das Ding selbst. Als sie nun zuhörten, wie Hussein die potenziellen Gewinne umriss, schien ihre unfassbar arrogante Schwiegertochter sich ein wenig für das Tier zu erwärmen, dessen Scharren aus dem leeren Empfangszimmer am Ende des Flures zu ihnen drang. Fasziniert und entsetzt beobachtete Mutter Fadhma Laila. Husseins Gattin hatte nur mit einem Teil des Plans Probleme. Bis eine passende Unterkunft gefunden wäre, würde das Schwein in ihrem glänzenden neuen Haus wohnen.

Mutter Fadhma erkannte, dass Laila zum ersten und letzten Mal den Wert des alten Hauses aus Lehmziegeln und Stein sah, in dem sie als Frischvermählte gewohnt hatte. Früher hatte Laila gesagt, sie hasse das Haus, doch unter den gegenwärtigen ungewöhnlichen Umständen hätte sie seine einzigartigen Vorzüge sofort zu schätzen gewusst. Denn tief im Haus, fernab von neugierigen Augen, hatte es eine Seriba gegeben, einen Innenhof zur Tierhaltung. Bevor Hussein aus der Armee ausschied, hatten ausschließlich Frauen im Haus gelebt, und Laila ließ damals durchblicken, dass sie landwirtschaftliche Arbeit als unter ihrer Würde empfand. Sie hatte keinerlei Interesse an Tierhaltung und empfand die Seriba, in der nach Al Dschids Tod nur ein paar dürre Hühner untergebracht waren, als altmodisch und peinlich. Bei der Planung des neuen Hauses bestand sie darauf, dass es durch und durch modern sein müsse – keine Seribas, keine Lagerräume. Zu ihrer Schwiegermutter sagte Laila, es sei für sie alle ein frischer Anfang, mit dem sie ihre Ehrbarkeit unter Beweis stellen könnten. Herzstück dieser Neuerfindung sollte das Empfangszimmer sein, das nach ihren exakten Vorgaben als Bühne zum Bewirten und Beeindrucken von Gästen dienen sollte. Jetzt wollte Hussein es zumindest vorübergehend als Schweinestall nutzen.

Auch wenn diese Aussicht Mutter Fadhma weiterhin zutiefst zuwider war, fand sie es interessant, dass ihre Schwiegertochter den Vorschlag nicht sofort abgewiesen hatte. Mutter Fadhma war bewusst, dass Lailas knappes Lehrerinnengehalt zusammen mit dem, was ihr Stiefsohn aus der Schlachterei nach Hause brachte, für ihre weitreichenden Ambitionen nicht genügte. Nun, da nichts mehr von Al Dschids Land zu verkaufen blieb außer dem letzten Stück, von dem Hussein sich zu trennen weigerte, war die Familie wieder in finanziellen Schwierigkeiten. Welcher Ehemann weiß nicht, wie er seine Frau bestechen kann? Fadhma sah angewidert zu, wie Hussein an Lailas Habgier appellierte. Die ersten Gewinne, die das offensichtlich trächtige Schwein einbringen würde, sollten für die Einrichtung des Empfangszimmers ausgegeben werden. »Und außerdem«, sagte er, »ist es nur für ein paar Tage. Höchstens eine Woche.« Wie zur Bestätigung blickte er zu Abu Satar. Ab da musste Laila nicht weiter überzeugt werden, und bald war nur noch Fadhma gegen den Plan.

Sie wusste, dass ihre Meinung nicht ins Gewicht fiel, fühlte sich aber in der Pflicht, für die Ansichten ihres Ehemanns einzustehen. Al Dschid hatte stets argumentiert, dass die Lehren des Propheten, Friede sei mit ihm, nicht nur den Anhängern des Islams als Handlungshilfe dienten, sondern jedem mit gesundem Menschenverstand. »Das Tier ist Täuschung und Unwissen. Dies sind schwerwiegende Sünden. Das Schwein ist muharram«, sagte sie streng. »Gott verbietet auch das Essen von Hyänen, Füchsen, Wieseln, Raubvögeln oder Elefanten.« Bevor sie noch Krokodile, Otter und Wespen hätte hinzufügen können, unterbrach sie ihr scheußlicher Bruder.

»Wir reden hier nicht von Religion, Frau! Es geht ums Geschäft!« Abu Satar wandte sich zu seinem Neffen, wechselte die Tonlage und raunte verführerisch: »Eine Schweinefarm, versteckt irgendwo auf dem restlichen Land deines Vaters – du wärst der einzige Schlachter in der ganzen Levante, der exotisches Fleisch verkauft. Die Leute würden meilenweit zu dir fahren … zu Hussein Sabas, dem König des Schweinekoteletts!« Erregt fuchtelte Abu Satar durch die Luft, als wollte er ein weiteres raffiniertes Neonschild für das Schnäppchen-Emporium entwerfen.

Mutter aller Schweine

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