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Die Enttäuschung brennt wie Steppe. Sie riecht nach alten Socken und durchsickert die Spalten und Risse des neuen Hauses. Der Geruch, vertraut und immer gleich, begrüßt Hussein jeden Morgen. Ähnlich beharrlich ist die dumpfe Schwere in seinem Kopf – heute das Ergebnis von zu viel Johnnie Walker Red beim Begrüßungsessen für seine amerikanische Nichte Muna am Abend zuvor. Sie ist zum ersten Mal im Heimatland ihres Vaters, und Hussein dachte, er heitere die Stimmung des Familientreffens auf, aber tatsächlich hat er sich einfach egoistisch betrunken. Während er sich langsam anzieht, hofft er, dass sich der Nebel in seinem Kopf auflösen wird, sobald er sich Wasser ins Gesicht spritzt. Doch als er am Waschbecken im Badezimmer den Hahn aufdreht, kommt kein einziger Tropfen heraus. Da erinnert er sich an die leeren, quietschenden Wassertanks auf dem Dach. Der Wasserlaster ist schon drei Wochen zu spät. Fast mehr vom Geruch geführt, tastet er nach den Kanistern, die seine Stiefmutter gewöhnlich für solche Anlässe bereitstellt. Geht das Leitungswasser zur Neige, füllt Mutter Fadhma Gefäße an der öffentlichen Zisterne der Stadt. Sie ist bei so schlechter Gesundheit, dass sie die Behälter mit dem Taxi nach Hause transportiert. Weil Hussein zu faul zum Helfen ist, beschwert er sich nie über die Kosten.

Das Wasser schmeckt bleiern, so elementar wie der Geruch beim Aufwachen. Derselbe Geschmack durchzieht das Glas Tee, das auf dem Küchentisch für ihn bereitsteht. Beim ersten gierigen Schluck verbrennt und beruhigt Hussein sich zugleich, doch der strenge Geschmack stößt ihn ab. Als würde man Erde essen. Als er sich vorbeugt, um seiner Stiefmutter einen Gutenmorgenkuss zu geben, verliert er fast das Gleichgewicht. Er hustet, lässt sich auf den nächsten Stuhl sacken und verweigert das wartende Essen mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln. Das Glas Tee drückt er an die Brust wie einen Rettungsring.

»Chubs?« Die alte Frau hat ein Stück heiße Pita abgerissen und hält es ihm hin. Mutter Fadhma hat Husseins Tee und Frühstücksgeschirr mit einer Sorgfalt hergerichtet, als drehte sich die Welt allein um seine Wünsche und Bedürfnisse. Sie ist in ihren neuen blauen Polyesterbademantel gehüllt – ein Geschenk ihrer Enkelin aus Amerika – und würde Hussein nur zu gerne bedienen, doch er schüttelt nur wieder den Kopf, und so isst sie das Stück Brot schließlich selbst.

»Was für ein Fest gestern Abend …« Sie seufzt die Worte lang und schwer, doch ihre Satzmelodie hebt sich. Sie will seine Meinung hören.

Hussein bleibt reglos sitzen. Er weiß, dass Fadhma gerne über das Fest sprechen würde, über Muna, über irgendetwas, aber er muss seine ohnehin schon dezimierte Energie für den langen Tag aufsparen, den er noch vor sich hat.

Als sie keinerlei Bestätigung erhält, werden Mutter Fadhmas kleine Augen schmal. Sie will mit Hussein schimpfen, dass er zu wenig isst und zu viel trinkt; aber schon lange ist klar, dass sie am Ende doch schweigt. Selbst wenn er sich blamiert, wie gestern Abend, vergibt sie ihm. In den seltenen Fällen, in denen sie einmal den Mut aufbringt, ihn zurechtzuweisen, ist ihr Tadel sanft und tröstend.

Hussein gilt noch immer als der bestaussehendste der sechs Brüder. Selbst in seiner einfachen khakifarbenen Militäruniform, identisch mit tausend anderen, sah er gut aus. Etwas an dem abgenutzten roten Barett betonte seine jungenhaften Züge. Die Verbindung von Leutnant-Stern und diskret eingesticktem Adler seiner Elitebrigade erzeugte eine subtile Magie, die mehr als nur eine Frau unwiderstehlich fand. Doch jetzt, als er den schmuddeligen Schlachteranzug von der Garderobe neben der Haustür nimmt und hinausgeht, wird deutlich, dass diese einst schmissige Wirkung inzwischen völlig verloren ist. In Husseins ehemals glatte, schöne Züge haben die Jahre Krähenfüße gegraben.

Draußen zeigt die rissige Steintreppe ein ähnliches Bild. Das Haus ist das neueste an der holprigen, unbefestigten Straße. Die benachbarten Gebäude sind aus Lehmziegeln oder Stein; hinter ihren Mauern, uneinheitlich, gedrungen und verwittert, liegen Räume wie Löcher in einer verfaulten Zahnreihe. Auch Husseins Heim zeigt trotz seiner modernen Bauweise bereits eindeutige Zeichen des Verfalls.

Direkt hinter dem Zaun erstrecken sich karge, struppige Felder in die diesige Ferne. Der Dunstschleier liegt nicht an Husseins Kater; schon steigt die Hitze rasch empor. Zwei oder drei streunende Hunde schleichen lustlos auf der staubigen Straße umher. Sie sind jeden Morgen dort, angezogen vom unverkennbaren Blutgeruch aus dem ramponierten Van, der den Großteil von Husseins kurzer, spärlich geschotterter Zufahrt einnimmt. Normalerweise tut er so, als würde er einen Stein aufheben. Er muss ihn gar nicht werfen; sich zu bücken reicht, damit sich die Hunde, seit dem Welpenalter an Grausamkeit gewöhnt, die Straße hinuntertrollen. Eigentlich genießt er diesen kleinen Sieg, aber heute ist ihm zu übel, als dass er sich bücken könnte. Stattdessen kickt er halbherzig etwas Staub in Richtung des nächsten Köters und fährt mit dem Finger über einen neuen Kratzer, der beim Rücklicht beginnt und sich bis vor die Fahrertür zieht. Am Morgen zuvor war er noch nicht da. Mehrere ähnliche Kratzer durchziehen den Lack, die nicht vom üblichen Verschleiß durch Schotterstraßen herrühren. Die jüngste Zugabe ist länger und tiefer als der Rest. Entweder werden die Zeiten schlechter oder die Steine spitzer. Hussein seufzt und quetscht sich auf den Fahrersitz. Der Wagen ist für jemand viel Kleineres ausgelegt. Selbst wenn er den Sitz so weit wie möglich nach hinten rückt, berühren seine Knie fast das Steuer. Im Rückspiegel sieht er gerade noch, wie auf der anderen Straßenseite ein Gesicht hinter einer Gardine verschwindet. Er hat sich daran gewöhnt, beobachtet zu werden, dennoch lässt er nutzlos trotzig den Motor aufheulen, legt den Gang ein und fährt stürmisch rückwärts aus der Einfahrt. Ruckend kommt er zum Stehen und bereut seinen temperamentvollen Auftritt sofort. Sein Magen holt den Rest seines Körpers ein und dreht sich unangenehm. Feuchtkalter Schweiß tritt ihm auf Schultern und Stirn. Seine Hände kommen ihm leicht und unbeholfen vor, er lässt sich in den Sitz sinken und atmet schwer. Ein schwarzbrauner Hund erhebt sich aus dem Rinnstein, sieht apathisch zu Hussein und trottet davon.

»Der Wein macht lose Leute, und starkes Getränk macht wild; wer dazu Lust hat, wird nimmer weise.« Dschabir Ahmed Saber zitierte vor seinen Kindern gerne die Heilige Schrift. Doch Hussein erinnert sich immer nur dann an die Worte seines Vaters, wenn sie ihm am wenigsten nützen – nach der Tat, nicht davor. Er kann sich unschwer vorstellen, wie sein Vater die gegenwärtige Situation beurteilt hätte. Der Christ Dschabir Ahmed Saber war stets darum bemüht, die unterschiedlichen Religionen seines Umfelds miteinander zu versöhnen und nicht weiter auseinanderzutreiben. Für Hussein grenzte diese Passion, Konflikte zu vermeiden, manchmal an Schwäche. Hätte Respekt vor den Nachbarn den alten Mann nicht so gehemmt, hätte die Familie schon früher Nutzen aus Husseins Geschäftssinn ziehen können. Doch wenn Hussein an seinen Vater denkt, fühlt er sich zwangsläufig unwohl – als ob er ihn irgendwie enttäuscht hätte. Als die Stadt noch ein Dorf war, war Dschabir Ahmed Saber als natürlicher und bescheidener Anführer hervorgetreten, ein Mann von Wert. Er war ein einfacher und zäher Bauer, bekannt für seine Liebe zu Geschichte und Erzählungen. Er entwickelte einen solchen Ruf als Denker und großzügiger Gastgeber, dass die gesamte Gemeinde – selbst seine engste Familie – den alten Mann nur Al Dschid nannte, »Großvater«.

Das Geisterduo Al Dschid und Johnnie Walker wird von einem lauten elektrischen Rauschen vertrieben, gefolgt vom keckernden Ruf des Muezzins aus dem Moschee-Lautsprecher. Einen Augenblick lang bleibt Hussein reglos sitzen; dann fährt er, so schnell sein empfindlicher Zustand es erlaubt, den Hügel hinunter in Richtung Stadt. Er weiß, er muss sich beeilen, wenn er Ärger vermeiden will.

Die Viehgehege stehen dicht gedrängt um eine Freifläche, ein improvisierter Schlachthof hinter dem Markt am anderen Ende der Stadt. Verdrossen begutachtet Hussein die Tiere in ihren engen Pferchen. Heute ist Freitag, der Tag, an dem er nichts Unredliches verkauft, nichts, was seine muslimischen Freunde und Nachbarn beleidigen könnte. Ein Versprechen, das er sich selbst gab, als er neu in dem Job war, und an dem er entschlossen festhält. Ihm fällt ein schmutziges weißes Schaf ins Auge, ein wenig größer als der Rest, und er signalisiert dem Jungen, der Kaugummi kauend in der Ecke des Standes sitzt, dass er es zur Begutachtung herausbringen soll. Hussein blickt dem Schaf tief in Augen und Ohren, öffnet ihm das Maul, um sich die Zähne anzusehen. Das Tier wirkt gesund. Er hebt einen Hinterlauf an, um das Verhältnis von Fett zu Fleisch abzuschätzen. Er ist zufrieden und reicht dem Jungen wieder den Strick, der um den Hals des Schafes geknotet ist. Hussein wählt eine Ziege aus und untersucht auch sie gründlich. Natürlich ist der geforderte Preis zu hoch und sein Angebot zu niedrig. Sie handeln mehrere Minuten lang, bis Hussein schließlich zustimmt, etwas mehr als den tatsächlichen Wert zu zahlen. Er hat einfach keine Lust mehr, weiterzudiskutieren. Außerdem ist das Schaf Teil einer Sonderbestellung. Er wird die Differenz an den Kunden weiterreichen.

Manchmal folgen die Tiere widerstandslos, doch wenn eines plötzlich hierhin will und das andere dorthin, wird es schwierig, ihrer Herr zu werden. Hussein zerrt die störrischen Tiere zu seinem Parkplatz. Er bindet das Schaf an die hintere Stoßstange, dann wirft er mit erfahrenen, entschiedenen Bewegungen die Ziege auf die Seite, bindet ihr die Hufe zusammen und schiebt sie in den Transporter. Das Schaf folgt gleich darauf. Er schließt die Heckklappe und hält inne, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Schon jetzt fühlt er sich, als hätte er einen ganzen Arbeitstag hinter sich. Er quetscht sich hinter das Steuer, lässt den Motor an und wirft einen Blick nach hinten auf die Tiere. Ihre Augen sind glasig, matt, todgeweiht.

Bei der alten öffentlichen Zisterne wird die Straße enger, dann gabelt sie sich. Normalerweise nimmt Hussein die linke Strecke, um das Ostviertel herum, bis er wieder auf die Hauptstraße stößt: fünf oder zehn Minuten Umweg, nicht mehr. Aber er muss die Sonderbestellung für das Hochzeitsmahl am Abend bis um neun Uhr abgeliefert haben, und mitten hinter seiner Stirn hat sich ein dumpfer Schmerz breitgemacht. Außerdem kann er es nicht leiden, wie ein Krimineller Schleichwege zu nehmen. Tollkühn biegt er nach rechts ab, auf die kürzere Strecke.

Unvermittelt stürzt aus einer engen Seitengasse ein Reiter hervor, und Hussein muss fluchend nach links ausweichen. Ein Stück weiter vorne strömen Männer und Jungen aus der Moschee. Hussein spürt einen Anflug von Nervosität in der Brust und überlegt, ob er wenden soll, aber es ist zu eng. Das winzige Sträßchen voller Leute lässt ihm keinen Platz. Er schließt das Fenster und packt das Lenkrad fester.

Wütende Hände schlagen auf den Wagen. Leute schreien Beschimpfungen. Ihre Rufe scheuchen die Ziege auf, die schwermütig um ihr allzu kurzes Leben meckert. Hussein beugt sich über das Lenkrad, das ihm in den Bauch drückt. Er wird sich nicht einschüchtern lassen. Sein Körper scheint vor Empörung anzuschwellen, doch sein Kopf ist zum ersten Mal an diesem Morgen klar. Er steuert den Transporter weiter geradeaus. Den feindlichen Gesichtern dicht vor seinem Fenster begegnet er mit stählernem Blick. Er wird ihnen keine Genugtuung verschaffen, indem er Wut oder Angst zeigt.

Gleich hinter der Moschee wird die Straße breiter und macht eine Kurve. Die Menschenmenge lichtet sich ein wenig, und der Lieferwagen fährt langsam hindurch, wobei er einen kleinen Staccato-Schotterhagel aufwirft. Da zersplittert etwas. Im Rückspiegel erspäht Hussein den jugendlichen Angreifer. Das Bürschchen, ein paar versprengte Haare im Gesicht, ist noch nicht mal alt genug für einen Bart. Als Vergeltung für das zerschmetterte Rücklicht drückt Hussein laut auf die Hupe. Erschrocken stieben die Passanten auseinander, und in einer Wolke aus Sand und Staub schießt der Wagen des Schlachters der Freiheit entgegen.

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