Читать книгу Mutter aller Schweine - Malu Halasa - Страница 7

2

Оглавление

Laila blickt über die Parfümflakons hinweg in den Spiegel und untersucht ihr Gesicht sorgsam nach Spuren von Stress. Sanft massiert sie die empfindliche Stelle über ihrem rechten Ohr und fragt sich, warum sie die Kopfschmerzen bekommt, wann immer ihr Ehemann trinkt. Der säuerliche Geruch, der aus den vollen Windeln im Wäschekorb strömt, kümmert sie gerade genauso wenig wie ihre beiden älteren Söhne in deren Zimmer. Morgens hat sie nur ein einziges Anliegen. Ihr ist egal, wie viel Wasser noch übrig ist oder woher es kommt – von der Farm, aus einem dieser Banditenlaster oder aus einem verfluchten Erdloch –, sie will einfach nur eine ausreichend große Menge für ihren alleinigen und sofortigen Gebrauch. Wenn sie Mutter Fadhma darauf hinweisen muss, dass die Kanister im Bad fast leer sind, kann sie laut und ausfallend werden.

Das restliche Wasser aus dem größten Behälter braucht sie fast komplett auf, um sich das Gesicht zu waschen, dann kämmt sie ihr halblanges braunes Haar und legt Make-up auf. Durch den Rauch einer Zigarette, die sie aus einer Schachtel auf dem Fensterbrett gezogen hat, mustert sie abermals ihr Spiegelbild und nickt zögerlich, aber anerkennend. Gut sieht sie aus, trotz allem, was sich gegen sie verschworen hat. Manche Frauen sind von zu vielen Kindern körperlich ausgelaugt und erholen sich nie wieder vollständig. Doch Laila hat nach jeder Geburt strenge Maßnahmen getroffen: die richtige Ernährung, Schminke und Kleidung. Ihre Hände sind manikürt, ihre Haut ist geschmeidig und weich.

Disziplin war schon immer der Kern ihres Charakters. Normalerweise wirkt ihre Bestimmtheit, als habe sie alles fest unter Kontrolle, unabhängig davon, wie es ihr tatsächlich gehen mag. Als sie sich vom Spiegel abwendet, durchzuckt sie ein Schmerz, hell und stechend. Erinnerung oder Warnung? Sie öffnet ein Fläschchen extrastarkes Aspirin, schluckt drei Tabletten mit dem Wasserrest aus dem Kanister, zieht ein letztes Mal an der halb aufgerauchten Zigarette und drückt sie in den qualmenden Aschenbecher.

Mutter Fadhma hat langjährige Übung und ist auf die fein abgestuften Blicke ihrer Schwiegertochter eingespielt. Sie sieht, ob Laila am Frühstückstisch allein sein möchte, und verlässt dann die Küche ohne ein Wort oder eine weitere Überlegung. Fadhma kommt ihrer Schwiegertochter nicht in die Quere. Schlimm genug, in Lailas Haus zu wohnen, aber obendrein müssen Fadhma und ihre jüngste Tochter Samira auch noch von ihrem Stiefsohn Hussein finanziell unterstützt werden.

Laila scheint sich heute morgen Mühe zu geben. Sie füllt das Teeglas der alten Frau, bevor sie sich selbst eingießt und sich ihr am Tisch gegenübersetzt, zwischen ihnen ein beeindruckendes Aufgebot an gekochten Eiern, Laban, Tomatenscheiben, Frühlingszwiebeln, grünen und schwarzen Oliven, getrocknetem Satar-Thymian, Olivenöl und Brot.

»Und wie fandest du’s?« Nur selten sucht Fadhma das Gespräch mit ihrer Schwiegertochter, doch seit ihr zweiundzwan-zigjähriger Gast angekommen ist, ist sie unruhig. Munas Vater Abd ist der zweitälteste Sohn von Fadhmas Schwester Nadschla. Als Fadhma nach Nadschlas Tod Al Dschid heiratete, zog sie Abd und seine fünf Brüder zusammen mit ihren eigenen fünf Mädchen und zwei Jungen groß. Abds Weggang aus Jordanien vor fünfundzwanzig Jahren beschleunigte zwar den Zerfall von Fadhmas unmittelbarer Familie, doch dafür macht die alte Mutter ihm keine Vorwürfe. Von Al Dschids dreizehn Kindern war er der Erste, der sich gegen eintausend Jahre Tradition stellte, indem er eine adschnabi heiratete, eine Ausländerin.

»Unserem Teil der Familie sieht sie wohl eher nicht ähnlich«, bemerkt Laila trocken.

Gestern Abend, als Fadhma Muna zum ersten Mal sah, platzte sie hervor: »Wie eine Chinesin!«, worüber alle nervös lachten, auch Laila. Trotz der riesigen Land- und Wassermassen zwischen den beiden Ländern waren per Post, Telefon und, am schlimmsten, mündlich, unschöne Geschichten durchgedrungen. Das Temperament von Munas ausländischer Mutter, die die Anzüge ihres Gatten in Fetzen schnitt und Geschirr im Wert einer ganzen Küche zerschlug, war schon vor langer Zeit in die Sabas’sche Familiengeschichte eingeflossen. Die Berichte haben Mutter Fadhma lediglich bestätigt, wie unwägbar Eheschließungen mit unbekannten, ungeprüften Außenseitern sind.

»Stell dir doch mal vor«, empört sich die alte Frau, »das Mädchen hätte ja mit ihrem Vater kommen können. Aber sie muss unbedingt alleine reisen, wo sich doch gerade die Zerbrecher quer durch Syrien und Irak schlagen.«

Laila nervt es, wie Mutter Fadhma die Dschihadisten immer als »Zerbrecher« – vom Wort deas – bezeichnet, scheinbar nur, um sie zu ärgern, aber sie geht bewusst nicht darauf ein. Die Familie ihres Mannes interessiert sie in der Regel eher wenig. Die junge Frau an sich findet sie faszinierend.

»Ich habe Muna gefragt, ob sie einen Freund hat oder ob ihre Familie Pläne für ihre Verheiratung hat, und weißt du, was sie gesagt hat?« Laila stochert im Essen und wartet die Antwort ihrer Schwiegermutter nicht ab. »Sie hat gesagt: ›Das meinst du nicht ernst, oder?‹«

Am Abend zuvor erfüllte Laila eine solche Mischung aus Missbilligung und Neid, dass sie das Gespräch nicht fortführen konnte. Heute Morgen musste sie wieder daran denken, und sie kann es noch immer kaum glauben. Nachträglich fügt sie hinzu: »So ein Selbstbewusstsein – solche Freiheit.« Sobald die Worte ausgesprochen sind, weiß sie, dass sie das Falsche gesagt hat.

»Da haben wir hier schon genug davon. Muss wohl ansteckend sein, meinst du nicht?«

Fadhmas Häme ist nicht zu überhören. Doch ebenjenes Thema, das die beiden peinlichst meiden, hat Laila gar nicht gemeint, obwohl es sie zugegebenermaßen seit einer Weile umtreibt.

»Du musst mit Samira sprechen«, stellt Laila nüchtern fest. »Schließlich bist du ihre Mutter.«

»Ja, es ist immer gleich die Mutter schuld.« Als wollte sie sich die Kehle durchschneiden, wischt sich die alte Frau lapidar mit der Hand unterm Kinn entlang. »Aber eins sag ich dir«, fügt sie unwirsch hinzu, »ich bin in dieser Familie nicht als Einzige schuld.«

Laila bereitet sich auf das Schlimmste vor und wappnet sich für ein frühmorgendliches Streitgespräch. Stattdessen verschafft ihre Schwiegermutter nun ungeniert ihrem Kummer Luft; Laila erscheint das untypisch, denn außer Starrsinn zeigt Fadhma normalerweise keine Gefühle.

»Ich habe Hussein angefleht, Samira an ihre Pflichten zu erinnern – ihr einen Rat zu erteilen. Es stehen ihr Ruf und unserer auf dem Spiel.« Sofort ändert sich Fadhmas Stimmung, und ihre Worte klingen wie flüssiges Blei: »Aber er musste sich in letzter Zeit auf andere Dinge konzentrieren.«

Laila fällt eine der englischen Redewendungen ein, die sie in der Mittelstufe unterrichtet, ein Elefant im Zimmer, etwas steht unausgesprochen im Raum: Ein Tier steht im Raum, launischer als ein Elefant – und auch schmutziger und stinkender. Es wütet durch ihre Leben … Aber laufen ihre Streitigkeiten nicht immer so? Fadhma versucht doch ständig, jegliche Kritik abzuwehren. Heute Morgen will Laila sich nicht abbringen lassen.

»Wenn ich Samira zur Rede stelle, hat sie immer einwandfreie Erklärungen, warum sie unterwegs sein muss.« Unbeirrt nippt Fadhma an ihrem Tee.

»Die neue Direktorin hat gesagt, dass sie Samira in der Hauptstadt gesehen hat«, erwidert Laila. »Stell dir nur mal vor, das Mädchen bricht die Pädagogische Hochschule ab, hat nichts zu tun und landet unter lauter Fremden, wo das doch so gefährlich ist! Frau Salwa hat natürlich nur gedacht, sie hätte jemanden gesehen, der wie Samira aussah

Die beiden Frauen rücken näher zusammen und schweigen angespannt. Laila weiß nicht mehr genau, wann sie zuerst vermutete, Samira könnte sich leichtsinnig verhalten. Noch nicht während der Aufstände in der arabischen Welt; Samira und ihre Teenager-Freundinnen waren damals noch zu jung für die Proteste. Doch irgendetwas liegt im Argen. Laila ist sich nicht sicher was – die politische Unsicherheit ringsum oder der Umgang, den Husseins Halbschwester pflegt.

Auch wenn Laila zahllose Zweifel an der Gesellschaft hegt, in der sie lebt, bleibt sie peinlichst innerhalb der Konventionen und erwartet dasselbe von der angeheirateten Familie. Samira, die ledige Schwester ihres Ehemanns, ist besonders angreifbar, denn es braucht recht wenig – es reichen Gerüchte um die Indiskretion eines Mädchens –, damit sich gleich die ganze Stadt empört und eine Familie auf ewig geächtet ist. In einer Kultur, in der nichts wichtiger ist als die Tugend einer Frau, ist jegliche Verteidigung derselben bereits ein Zeichen ihrer Angreifbarkeit. Prüfende Blicke vermeidet man lieber. Die Frauen der Familie Sabas müssen sich gegenseitig schützen, weil es sonst niemand tut.

Mutter Fadhma steht langsam auf und lächelt triumphierend. »Jetzt, wo unser Gast da ist, geht mein Mädchen zumindest nicht mehr alleine aus, oder?«

Die alte Frau zieht ihren neuen Bademantel enger um sich wie einen Schutzschild. Unter dem dichten Stoff wird sie schwitzen wie ein Schwein. To sweat like a pig. Kurz fällt Laila aus der Rolle und muss fast laut auflachen. Englische Redewendungen mit Tieren mag sie besonders gern, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Klassenzimmers.

Ihre Gedanken werden unterbrochen, als ihr siebenjähriger Sohn Salim in die Küche gehüpft kommt. Erleichtert wenden sich die beiden Frauen voneinander ab. Laila umfasst das perfekt geformte Gesicht ihres Sohnes und drückt ihm die Wangen. Sie weiß, dass sie trotz allem Grund zur Dankbarkeit hat. Ihr Ältester ist ihr ein großer Trost, und ihn so frisch und munter zu sehen, verbessert ihre Stimmung sofort. Er wurde genau neun Monate nach ihrer Hochzeit geboren, und weil Hussein damals noch dauerhaft bei der Armee wohnte, wurde ihr Erstgeborener zur Liebe ihres Lebens.

Ein zweiter, kleinerer Junge wartet still in der Tür. Mansur, dunkel wie sein Vater, hat auch dessen Gemüt geerbt und ist eher zurückhaltend und empfindlich. Manchmal sind die banalsten Dinge zu viel für ihn und er bekommt einen Asthmaanfall. Laila sieht sofort seine gerunzelte Stirn. Er findet es schwierig, mit einem Bruder mitzuhalten, der, obwohl nur ein Jahr älter, sehr viel selbstbewusster ist.

Sie winkt ihren jüngeren Sohn herbei, ruft sanft: »Habibi, Liebling, komm her«, und tätschelt ihm den Rücken, als er auf den Stuhl neben ihr klettert.

Beide Kinder, noch in Schlafanzügen, haben sich das Gesicht gewaschen. Salim stopft sich Brot und Joghurt in den Mund, während Mansur Laila anbettelt, ihn zu füttern.

»Du bist doch schon ein großer Junge«, ärgert ihn Salim.

»Bin ich nicht …« Mansurs Stimme verliert sich in einem Keuchen.

Laila beruhigt ihn, nimmt ein Stück gekochtes Ei auf den Löffel und schiebt es in seinen eigensinnigen Mund. Bevor das Gestichel wieder anfängt, warnt sie: »Eure neue Tante schläft noch!«

Die Jungen sprechen leiser. Ihre Söhne mögen den Gast. Die Geschenke, die Muna von den Verwandten aus Übersee mitgebracht hat, haben sie aufgerissen, und es beeindruckt sie, eine echte, lebende Amerikanerin kennenzulernen, wie Abby aus CSI. Augenblicke später hat Salim die Warnung seiner Mutter vergessen und fuchtelt seinem Bruder mit einer Gabel unter der Nase herum. Das Gekabbel bringt sofort Fadhma an den Tisch. Sie umarmt Mansur und redet gleichzeitig Salim gut zu, bis beide Brüder versprechen, sich zu benehmen. Während sich die Kinder in Fadhmas Zuwendung sonnen, überlegt Laila kurz, warum die beiden mit ihren Sorgen eigentlich nie zu ihr kommen. Sie vermutet, dass sie Fadhma näherstehen, weil die ihnen nachgibt. Für ihre Mutter – und Laila kultiviert das tatkräftig – empfinden sie vor allem Respekt, gewachsen eher aus Angst denn aus Liebe.

»Seht doch nur, was ihr eurer Dschadda für einen Ärger macht!«, sagt sie zu ihren Söhnen. Ob die Jungen ihre Großmutter drangsalieren, ist ihr gleichgültig. Doch eine gewisse Darbietung formeller Höflichkeit ist geboten, egal wie leer sie sein mag.

»Ich bin doch nicht würdig, Umm Salim«, antwortet Fadhma. Im stillen Konflikt zwischen den beiden ist diese schlichte Aussage ein Angriff über zwei Flanken. Sie weiß, dass falsche Demut Laila reizt, und indem sie ihre Schwiegertochter »Mutter Salims« nennt, reduziert Fadhma sie wirkungsvoll von einer Person zu einer Funktion.

Gebieterisch blickt Laila durch Fadhma hindurch zum umfunktionierten Zwanzig-Liter-Butterschmalzkanister auf der Anrichte neben der Spüle. Er ist mit dem letzten kostbaren Abwaschwasser gefüllt und steht dort seit drei Wochen. »Wehe, dieser Laster kommt heute nicht«, beschwert sie sich, entnervt vom Chaos ringsum. Es ginge auch anders.

Letzte Woche musste sie nicht ein solches Auge auf die Jungen haben; sie aßen schnell, zogen sich an und gingen zum Spielen mit ihren Freunden nach draußen, bevor sie sich mit ihrer Mutter auf den Weg zur Schule machten. Jetzt zanken sie und spielen mit dem Essen. Laila hat auch bemerkt, dass die Jungen, wenn es Zeit wird loszugehen, ungewöhnlich still werden. Sie fragt sich, ob sie den Grund ihres Unglücks wohl ermittelt hätte, ohne die beiden zu bespitzeln.

Nach Munas Ankunft gestern Abend hörte Laila von der Küche aus Mansur auf der hinteren Terrasse heulen: »Die anderen mögen mich nicht mehr.« Statt hinzugehen und zu fragen, was los sei, verbarg sie sich hinter dem schweren Vorhang an der Terrassentür.

Salim ließ eine glänzende neue Spielzeugpistole sinken, ein Geschenk von einer seiner amerikanischen Tanten, und erwiderte: »Na und? Mir haben sie auch gesagt, dass sie mich hassen.«

Während Laila die beiden beobachtete, wusste sie, dass ihr jüngerer Sohn nicht verstehen würde, wie jemand irgendetwas anderes als Bewunderung für seinen älteren Bruder empfinden konnte.

»Was?«, fragte Mansur ungläubig.

Salim, seinem Alter voraus, nahm ein Taschentuch aus einer Schachtel zwischen den Kissen, wischte seinem jüngeren Bruder die Nase ab und legte dem Sechsjährigen behutsam den Arm um die Schulter. In diesem Moment wurde Lailas Kummer nur noch überwogen vom anhaltenden Zorn auf ihren Ehemann.

Abrupt steht sie vom Tisch auf. »Beeilt euch!«, befiehlt sie ihren Söhnen und verlässt die Küche. Ihre Schritte werden vorsichtiger, sobald sie ihre Schlafzimmertür öffnet. Dahinter schläft in einer hölzernen Wiege Fuad, der jüngste ihrer drei Söhne. Sie streicht ihm eine verschwitzte Locke aus der Stirn. Der Kleine, noch keine zwei Jahre alt, hat wegen eines übersäuerten Magens den Großteil der vergangenen Nacht wach verbracht; das Familienessen zu Munas Ehren hatte ihn etwas zu sehr begeistert. Laila macht sich fertig. Sie wirft noch einen letzten Blick auf das schlafende Kind und schließt die Tür hinter sich.

Im Flur ist es totenstill. Auch Samiras Tür ist verschlossen, die Zimmerbewohnerinnen schlafen noch. Ganz leise hört Laila jemanden im Wohnzimmer – zweifelsohne Fadhma, die sich mal wieder bei ihrem toten Ehemann beschwert. Laila findet die Jungen im Kinderzimmer vor, wo sie still warten, bereit für die Schule. Salim und Mansur starren zu ihr auf.

»Yalla«, flüstert sie, »lasst uns gehen.«

Mutter aller Schweine

Подняться наверх