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In der Schlachterei ist Hussein bei der Fleischlagerung absolut gewissenhaft. Er besitzt zwei Kühlschränke, einen für erlaubtes Fleisch und einen anderen, sehr viel größeren, für verbotenes. Als halal und haram sind die Kühlschränke nicht gekennzeichnet. Selbst folgt er zwar keinen Ernährungsvorschriften aus religiösen Gründen, doch er möchte verantwortungsbewusst handeln – auch wenn seine Vorkehrungen nur ihm bewusst sind. Außer ein paar Innereien ist der Halal-Kühlschrank so gut wie leer. Alles frische Hammel- und Ziegenfleisch verkauft er direkt von den Fleischerhaken im Schaufenster. Der andere Kühlschrank ist randvoll, bereit für das Wochenende. Heute Abend wird Hussein im Schutz der Dunkelheit noch mehr Schinken und Würste holen, doch zu Ladenschluss am Sonntag wird auch das letzte bisschen verkauft sein.

Soweit genügend Wasser vorhanden ist, werden die Räume der tristen Schlachterei täglich sauber gespritzt, aber häufig verstopft eine fettige Schmiere die Abflüsse und sie sondern einen unangenehm durchdringenden, fauligen Geruch ab. Hussein stellt den Gasbrenner an und setzt einen Topf Wasser auf. Im Hinterzimmer hört er Khaled, seinen Mitarbeiter, arbeiten. Der Junge murmelt ein Gebet. Kurz darauf scharren hektisch Hufe über den Fliesenboden, dann erklingt ein Spritzgeräusch, das sich in kaum vernehmbares Gluckern auflöst, als Blut, satt und suppig, in einen verzinkten Eimer abfließt. Mehrere dumpfe Schläge – der Kopf und die Hufe werden abgetrennt –, dann ein Geräusch, als würde ein alter, fettiger Teppich entzweigerissen – Khaled zieht die Haut ab. Mit einem flüssigen Klatschen quellen die Gedärme heraus, seidig und milchig. Hussein stellt sich vor, wie sein Gehilfe durch den Haufen wühlt, wie ein Hexer auf der Suche nach Weissagungen, und die Delikatessen heraussucht: Leber, Nieren und Dünndarm. Mit ein paar schnellen, tiefen Atemzügen pustet der Junge die Lungen auf, die althergebrachte Methode, um die Gesundheit eines Tieres zu überprüfen. Der Gehilfe kehrt nach vorne in den Verkaufsraum zurück, legt den Schafskadaver auf die lange Holztheke, wischt seine blutigen Hände an der schmuddeligen Schürze ab und grinst blöd seinen Chef an.

Hussein ignoriert ihn und wählt aus der breiten Palette abgegriffener Werkzeuge an der Wand ein Hackebeil. Ein Tier zu zerlegen, hat etwas zutiefst Befriedigendes, jeder knochenzerschmetternde Hieb etwas unwiderruflich Endgültiges. Mit jedem Schwung des Hackebeils spürt Hussein, wie sich seine Stimmung verbessert. Bumm! Das bringt den jugendlichen Missetäter zur Einsicht über die Schändlichkeit seiner rücklichtzerschmetternden Sitten. Zack! Das ist für den Wasserlaster. Krach! Laila. Der nächste Hieb soll für Samira sein und all den Ärger, den sie ihnen macht, doch in letzter Minute überlegt Hussein es sich anders und erteilt den Schlag abermals als persönlichen Beitrag zum Kampf gegen die Jugendkriminalität. Er arbeitet methodisch, trennt Bein von Lende, Schenkel von Brust, und lässt mit jedem Schlag seine Frustration heraus.

Er wählt zwei schöne Keulen aus seinem Werk und hängt sie ins Schaufenster. Schon sammeln sich erste Fliegen auf den Fleischbergen, von denen geleeweiches Fett auf die Theke tropft. Plötzlich klingelt die Glocke über der Fliegengittertür und kündigt den ersten Kunden des Tages an. Hussein ringt sich ein einladendes Lächeln ab.

»Frau Habasch, wie schön, Sie zu sehen. Was darf’s heute sein? Wir hätten köstliches Lammfleisch.«

Die Frau des Bürgermeisters ist eine der wichtigsten Personen der kleinen Stadt. Sie ist mit einem ihrer Vettern verheiratet und aus einer alten Familie, die, wie die Sabasens, ihre Abstammung bis zu einer Festungssiedlung im Süden des Landes zurückverfolgen kann. Wie andere Christen mussten ihre beiden Familien vor über einhundert Jahren nach Norden fliehen – die Folge eines Missverständnisses, das zu einem Religionskrieg ausgeartet war. Schließlich erreichten sie eine erdbebenzerstörte byzantinische Stadt und gründeten darauf ein Dorf, das wieder zu einer Stadt anwuchs. Diese gemeinsame Historie ist Hussein nützlich. Sie erleichtert ihm seine zweiwöchentlichen Besuche im Büro des Bürgermeisters mit sogenannten »Häppchen«, die jedoch substanzieller sind als die sonstigen kläglichen Zuwendungen an den Ortsvorsteher. Den finanziellen Aufwand dieser freundschaftlichen Beratungsgespräche betrachtet Hussein als unerlässliche Betriebsausgabe. Warum sollten er und sein Onkel Abu Satar die einzigen am Trog sein? Seine Geschenke an den Bürgermeister sind nur recht und billig, niemand verlangt sie von ihm, doch der Umgang mit der Bürgermeistersfrau wird dadurch trotzdem nicht einfacher.

Frau Habasch lehnt sein Angebot ab. »Ich habe mir gedacht, dass Issa vielleicht gern ein Huhn zu Mittag hätte. Sie haben nicht zufällig noch eines hinten?«

Seit Frau Habasch einmal hat fallen lassen, dass sie nicht gerne auf den Markt gehe, hält Hussein in einem kleinen Hühnerstall im Hinterhof etwas Geflügel. Auf dem Markt wie eine Bäuerin zu feilschen, empfindet sie als unter ihrer Würde. Sie kommt lieber zu Hussein und zahlt für das Privileg. Er ruft: »Khaled, dschadsche!«, und der Junge erscheint mit einem dicken gesprenkelten Huhn im Arm.

Hussein ist überrascht. Ebendieses Huhn hat Khaled besonders gern. Es ist das beste der Schar, der Junge bevorzugt es und gibt ihm zusätzliches Futter. Doch vor Frau Habasch kann Hussein nichts sagen, und so nimmt er das dralle Huhn und dreht es für sie hin und her. Sie nickt zustimmend. Hussein gibt Khaled den Vogel zurück und sagt ihm, er solle ihn vorbereiten. Er mahnt den Jungen zur Eile – »Asra!« –, mehr sich selbst als der Kundin zuliebe, die er als aufdringlich empfindet. Wahrscheinlich bestellt sie nur Huhn, damit durch das Rupfen Zeit zum Tratschen bleibt.

»Wie geht’s der Familie?« Sie inspiziert das Fleisch auf der Theke. »Ich habe gehört, Ihre Nichte ist zu Besuch. Ich hoffe, sie ist nicht wie diese arabischen Hip-Hopper.«

»Ganz und gar nicht. Muna ist eine wohlgesittete junge Frau«, erwidert Hussein, obwohl er sich da anhand seiner spärlichen Erinnerung an gestern Abend nicht sicher sein kann.

»Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen. Ich könnte ihr gerne am Sonntag nach dem Gottesdienst die Mosaike zeigen.«

»Das würde ihr sicherlich große Freude bereiten.« Er weiß schon, was als Nächstes kommt.

»Hätten Sie vielleicht Lust, uns zu begleiten?«

Hussein hat schon vor langer Zeit jedwede religiöse Überzeugung aufgegeben. Seine Lebenserfahrungen haben es ihm unmöglich gemacht, weiter zu glauben. Trotzdem ging er früher noch der Form halber in die Kirche. Als sein Trinken, seine Enttäuschung und seine Scham zunahmen, ging er immer seltener. Das waren seine Gründe. Heute besteht seine Frau darauf, den Kindern zuliebe zu gehen, auch wenn es schwierig geworden ist. Manchmal glotzen und flüstern die Leute.

Eine so wichtige Kundin wie Frau Habasch will Hussein nicht verprellen. Normalerweise macht er ihr Komplimente zu ihrem guten Geschmack und stimmt ihr selbst dann zu, wenn er ihre Meinungen für unklug hält. Sein Onkel hat ihm das irrsinnigerweise als solides kaufmännisches Verhalten empfohlen.

Hussein entscheidet sich für Ausflüchte: »Frau Habasch, sonntags habe ich immer am meisten zu tun.« Die Autos, die am Wochenende die Hauptstraße blockieren, lassen sich kaum übersehen. »All meine Kunden sind ohnehin Christen. Und wann immer ich kann, nehme ich mir einen Augenblick allein, um zu …« Er schafft es nicht, unverhohlen zu lügen, und verschluckt das Wort »beten«.

»Das ist alles gut und schön«, seufzt sie, »aber Kommerz ersetzt keinen Gottesdienst. Religion ist der Anker unseres Lebens.«

Jetzt erinnert sie ihn gleich daran, dass ihre Stadt in der Bibel erwähnt wird. Die byzantinischen Ruinen, in denen sich ihre Familien niederließen, waren einst eine antike moabitische Stadt, in der Musa wandelte und Jesaja Prophezeiungen sprach. Ganz wie der Slogan auf den Reisebussen, Besuchen Sie das Land der Propheten. Sein Vater hätte ihr voll und ganz zugestimmt.

Hussein hebt die Hände und gesteht müde ein: »Dagegen lässt sich nichts sagen!«

Frau Habasch übergeht ihn und redet weiter: »Erst heute Morgen meine ich zu Issa, selbst eine Frau in meinen fortgeschrittenen Jahren spürt den Druck, sobald man in die Nähe des Ostviertels kommt. Merken Sie sich meine Worte, in einem Jahr müssen wir Frauen hier alle Hidschab tragen!«

Hussein weiß, welche Reaktion sie von ihm erwartet, aber seine Kunden aus dem Ostviertel sind durchweg anständig zu ihm. Sein Wagen wurde vielleicht vor der Moschee attackiert, aber er kann sich nicht dazu durchringen, pauschal gegen eine ganze Religion und sämtliche ihrer Anhänger zu wettern. Seine achtzehn Jahre in der Armee haben ihn gelehrt, gegenüber kollektivem Glaubenseifer äußerst wachsam zu sein, und selbst seine zwei Jahre Spezialauftrag haben ihn davon nicht abgebracht.

Er ruft sich ins Gedächtnis, dass Heuchelei nicht die exklusive Domäne der Verwöhnten und Behüteten ist, die sich kaum je über Familie und Heim hinauswagen. Scheinheiligkeit hat er auch bei befehlshabenden Offizieren und der Geheimpolizei erlebt, bei Männern, die sehr viel weniger rechtschaffen waren als Frau Habasch. Dennoch beunruhigt ihn ihre Haltung. Als noch wenige syrische Flüchtlinge ins Land kamen und sie in Jordanien bei Verwandten oder mitfühlenden Freunden unterkamen, sprach Frau Habasch davon, wie wichtig Solidarität sei, und initiierte ein paar halbherzige Spendensammlungen. Die Obdachlosen und Beraubten, die durch die Stadt zogen, waren nicht mehr als eine ärgerliche Störung, eher zu bedauern, als zu befürchten. Als dann Hunderttausende über die Grenze flohen und sich das Ostviertel mit Flüchtlingen und anderen Migranten füllte, veränderte sich allmählich die Demografie der kleinen Stadt, und die Christen, historisch in der Mehrheit, wurden zahlenmäßig übertroffen. Diejenigen, die am meisten zu verlieren hatten – Leute wie Frau Habasch –, reagierten, indem sie ihre Mauern aufstockten und ihre Tore und ihren Geist verschlossen.

»Laila hat gar keinen Ärger erwähnt«, räumt er langsam ein.

»Wird sie noch«, stimmt die Frau des Bürgermeisters wieder an und beschwert sich gleich: »Ich weiß einfach nicht, wann unser Land wieder normal wird und unsere Stadt wieder uns gehört.«

Frau Habaschs Gedächtnis erscheint Hussein höchst selektiv. Die Stadt hat ihnen nie gehört. Als ihre Großväter, Onkel und Väter – damals kleine Jungen – sich hier niederließen, umkämpften sie gemeinsam eine Wasserstelle gegen lokale Nomaden. Man muss nur ein paar Generationen zurückgehen, und immer flieht irgendwo irgendjemand oder sucht Zuflucht bei Fremden. Die gesamte Region blickt auf eine lange Geschichte der Vertreibung zurück. Die Syrer sind nicht die ersten Flüchtlinge, und sie werden auch nicht die letzten sein.

Um Frau Habasch abzulenken, merkt er schlaff an: »Ich verkaufe jetzt immer so viel Ziegenfleisch …«

»Die brauchen wohl billiges Fleisch für die ganzen Kinder«, sagt sie. »Da sehen Sie, warum die kein Geld haben.«

Plötzlich fühlt Hussein sich ausgelaugt. Der Morgen hat ihn bereits stark strapaziert. Zu viele Grenzen bestehen zwischen denen mit und denen ohne Geld. Sich selbst verortet er als irgendwo in der Mitte strauchelnd, wo er möglichst viel für seine Familie zu ergattern versucht, doch die meiste Zeit kommt er sich dabei wie ein Versager vor. Müdigkeit übermannt sein besseres Wissen. »Frau Habasch, wir alle mögen doch viele Kinder, ganz unabhängig von der Religion, oder?«

Die Frau des Bürgermeisters hat keinen Nachwuchs – die einzige Schwäche in ihrer sozialen Rüstung. Hussein ist es egal, dass er jetzt waghalsig ist. Noch unter Flüchtlingen stehen kinderlose Ehefrauen. Ihnen mangelt es an einer Bestimmung, darin sind sich alle einig. Ob christlich, muslimisch oder jüdisch, diese Frauen haben ihre Familie und ihren Gott im Stich gelassen.

Augenblicklich verhärtet sich Frau Habaschs Haltung, und sie zielt auf Husseins verwundbarsten Punkt: »Und, wie läuft das Geschäft?«

Bevor er antworten kann, erscheint Khaled hinter der Theke, voller Hühnerfedern. Stolz hält er ein frisch gerupftes Huhn in die Höhe.

»Wunderbar!« Enthusiastischer als nötig klopft Hussein dem Jungen auf den Rücken. Er wickelt das Huhn ein, sagt: »Bestens, Frau Habasch, einfach bestens«, und reicht es ihr.

Sie hat die Münzen bereits abgezählt. »Ich frage nur, weil Gerüchte kursieren, wissen Sie.«

Beim Hinausgehen hält sie die Eingangstür der Schlachterei weit offen. Hussein weiß genau, gleich kommentiert sie den desolaten Zustand seines Wagens. Um sich die Peinlichkeit zu ersparen, dreht er ihr den Rücken zu. In Ermangelung eines Publikums schlägt die Fliegengittertür hinter ihm zu. Das Scheppern bringt Khaled aus dem Hinterzimmer nach vorne, in seinen Armen gackert das geliebte Huhn.

Vielleicht ist der Junge gar nicht so blöd, denkt Hussein, aber seine Genugtuung währt nur kurz. »Bring’s zurück. Wir haben schon zu viel Zeit verloren.«

Gemeinsam packen sie Hammelfleisch in durchsichtige Plastiktüten. Das Fleisch ist für die Küche von Husseins Freund Matrub bestimmt, der heute Abend ein Festessen zur Hochzeit seiner ältesten Tochter veranstaltet.

Normalerweise ermahnt Hussein Khaled, bei seinen Botengängen nicht zu trödeln. Heute verspricht er ihm etwas netter: »Wenn du dich beeilst, haben die bestimmt Maamul für dich.« Die Aussicht auf Grießgebäck erhellt Khaleds Gesicht. Hussein geht hinter dem Jungen aus dem Geschäft und bleibt an der Hauptstraße stehen.

Die anderen Läden und Stände haben jetzt geöffnet, vor der Bäckerei bildet sich langsam eine Schlange. Vor dem Pilgerhotel die Straße runter steigen Baseballkappen und Schirmmützen in einen der Reisebusse, die das Heilige Land erkunden. Ihm gegenüber, auf der anderen Straßenseite des einzigen geteerten Abschnitts, ragt das Schnäppchen-Emporium in die Höhe, ein Warenlager unbeschreiblicher Ausmaße, erdacht und geführt von Abu Satar. Sofort will Hussein hinübergehen, die Aufmerksamkeit seines Onkels einfordern und ihm sein Herz ausschütten, doch der Anblick eines irakischen Lasters unter dem Neonschild des Emporiums hält ihn zurück. Er kennt Abu Satars Prioritäten nur zu gut. Fahrer mit potenziell lukrativen Ladungen sind wichtiger als Familienangelegenheiten. Dieser Lastwagen hat einen zusätzlichen Bonus. Er kommt aus einer Gegend, die für US-Restposten bekannt ist – recycelte Militärkleidung, abgepackte Nahrungsmittel jenseits des Haltbarkeitsdatums, sogar Ersatzteile für alte Klimaanlagen –, heiß begehrt und Abu Satars ungeteilter Aufmerksamkeit bedürftig. In den wenigen Minuten zwischen Begrüßungsgetränk und Entladen wird ein Handel abgeschlossen. »Woran sich ein hungriger Mann klammert, das verschenkt ein voller Magen« lautet einer der liebsten Aphorismen seines Onkels.

Früher hätte Hussein das amüsiert. Doch seit ihr gemeinsames Projekt ihm immer mehr Ärger einbringt, fragt er sich, ob er nicht einfach ein weiteres Opfer von Abu Satars Habgier geworden ist. Bei jeder Transaktion nimmt sich sein Onkel mehr als seinen gerechten Anteil am Gewinn – das ist nur zu erwarten. Doch bei diesem Geschäft hat Abu Satar es geschafft, dass die Unannehmlichkeiten und das soziale Stigma, denen Hussein ausgesetzt ist, ihn selbst nicht betreffen. Angewidert schürzt der Schlachter die Lippen, größtenteils aus Selbstekel. Er weiß, dass es sinnlos ist, sich über Abu Satar zu ärgern. Das neue Unbehagen in ihrem Verhältnis ist nicht die Schuld seines Onkels. Dessen Verhalten hat sich um keinen Deut geändert. Vielmehr hat inzwischen Hussein ein Problem mit Abu Satars Philosophie, Profit über alles andere zu stellen. Er seufzt und geht zurück in den Laden.

Solange er vor dem morgendlichen Ansturm noch allein ist, bückt er sich hinter der Theke und greift hinter einen der Kühlschränke. Er überprüft, ob ihn niemand sieht, und zieht verstohlen ein einfaches Einmachglas hervor, schraubt den Deckel ab und trinkt, lange und langsam. Der unverdünnte Arak ist Feuer in seiner Kehle, doch mit dem Brennen stellt sich auch die tiefe Ruhe ein, die er verlässlich, wenngleich nur vorübergehend, am Boden einer Flasche findet. Menschen wie Abu Satar und Frau Habasch sollten kein Monopol auf eine anständige Zukunft haben. Hussein will dieselben Chancen haben, weniger für sich selbst – dafür ist es zu spät – als für seine Söhne. Also hat er getan, was viele undenkbar gefunden hätten: Er hat das Land seines Vaters verkauft. Aufgrund dieser Eigeninitiative lebt seine Familie in einem neuen Haus. Doch kein Geldbetrag, daran erinnert ihn sein Onkel regelmäßig, ist jemals genug. Hussein blickt sich noch einmal um, dann greift er wieder rasch nach dem Glas und nimmt noch einen weiteren kräftigen Schluck.

Seit Abu Satar ihm das Schwein zum ersten Mal zeigte, wusste Hussein, dass der Weg zum Wohlstand kein leichter sein würde. Er hatte eigentlich nicht weiter als bis zum ersten Wurf gedacht und nahm an, die Ferkel müssten für einen einmaligen Mega-Verkauf gemästet werden. Dann würde das Geschäft wieder aufhören. Er hatte nicht mit den Instinkten der Tiere gerechnet. Kaum waren die jungen Eber entwöhnt, entwickelten sie den Aufsprungreflex. Zuerst versuchten sie es bei ihrer Mutter, dann untereinander, und schließlich richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre eigenen Schwestern. Hussein betrachtete sie und fragte sich allmählich, ob sich das Projekt als größer als gedacht herausstellen könnte.

Er wusste, dass Kastration die beste Methode war, damit die Eber schön fett wurden, beschloss jedoch, zwei von ihnen vor dem Messer zu verschonen. Er ließ sie bei ihrer Mutter und bei fünf ihrer Schwestern und brachte die restlichen dreizehn Ferkel in anderen Ställen unter. Die Männchen paarten sich mit ungehemmt genussvoller Triebhaftigkeit und schwelgten in dreizehnminütigen Orgasmen. Fasziniert stoppte Hussein sie mit einer taiwanesischen Stoppuhr (bis auf eine Zehntelsekunde exakt), die er sich aus dem Schnäppchen-Emporium geborgt hatte. Das Experiment zahlte sich aus. Gegen Ende des fünften Monats waren die Muttersau und drei ihrer Töchter trächtig. Der Rest des Wurfs war bereit für den Markt, doch Hussein machte eine eigenartige Entdeckung: Er brachte es nicht übers Herz, sie zu töten. Seltsam, dass ein Bauernsohn, von klein auf mit den Notwendigkeiten des Schlachtens vertraut, auf einmal so zimperlich war; noch seltsamer, dass ein ehemaliger Soldat, geschult in den Accessoires des Todes, von Handwaffen bis zum Springmesser, sich als unfähig erwies, einem Schwein die Kehle durchzuschneiden. Irrationalerweise hatte er Zuneigung zu den Geschöpfen entwickelt, gewachsen aus Respekt vor ihrer Intelligenz. Sich an Abu Satar zu wenden, stand außer Frage; sein Onkel hätte ihn nicht verstanden.

Hussein fragte sich, an wen er vertrauensvoll mit seinem Problem herantreten könnte. Dann kam er auf die Idee, Ahmad zu fragen, das Oberhaupt der Familie, die das Lehmziegelhaus seines Vaters mietete. Als Hussein entschieden hatte, das Haus an eine der ältesten palästinensischen Flüchtlingsfamilien zu verpachten, die noch zu Al Dschids Lebzeiten in die Stadt gekommen waren, hatte er heftigen Protest von Laila überwinden müssen. Seine Frau konnte nicht verstehen, warum er von der Familie so wenig Miete verlangte oder warum er ihnen, wenn es im Laden einen Überschuss gab, Fleischgeschenke brachte. Für Hussein handelte es sich um mehr als um Wohltätigkeit. Indem er Al Dschids Haus zugunsten der weniger Begüterten nutzte, hoffte er wiedergutzumachen, das geliebte Land seines Vaters verkauft zu haben.

Ungeachtet seiner Beweggründe war die Familie ihm für seine Güte dankbar und der Mann, um die sechzig, gerne bereit, sich um die Schweine zu kümmern und sie von einem seiner Söhne gegen eine kleine Vergütung schlachten zu lassen. Auf diese Weise kam Hussein zu seinen ersten Angestellten, und Ahmad stellte sich als guter Arbeiter heraus. Neun Monate und einhundert Ferkel später gab es mehr zu tun denn je. Der Ladenverkauf zog an, und es sah so aus, als ob Abu Satars Prophezeiung eines leicht verdienten Wohlstands nicht unbegründet gewesen war.

Doch ein scheinbar unüberwindbares Problem blieb. Penibelst untersuchte Hussein jeden neuen Wurf auf Hinweise. Er verzeichnete Gewicht und Größe jedes Ferkels, inspizierte Hufe und Ringelschwänzchen und überprüfte die Augen. Bislang hatte er Glück gehabt, wusste aber, die Chancen, eine weitere Generation ohne Anzeichen von Inzucht zu produzieren, waren äußerst gering. Wie Laila meinte: »Wer will schon ein zweiköpfiges Vieh mit sechs Beinen essen?« Die Goldmine hätte frühzeitig wieder geschlossen, hätte nicht Abu Satar eingegriffen.

Der gewiefte Emporiumsbesitzer hatte bereits unzählige Zuwendungen erbracht: Für nur einen Bruchteil über dem Ladenpreis besorgte er Futter, Antibiotika, eine große und eher laute Gefriertruhe und sogar einen Elektroschocker, den zu gebrauchen Hussein nicht übers Herz brachte; doch die Lösung, die Abu Satar nun ersann, stellte seine bisherigen Bemühungen völlig in den Schatten: Durch seine grenzübergreifenden Kontakte hatte er tatsächlich tiefgefrorenes Ebersperma aufgetrieben. Hussein war von der Idee nicht allzu angetan – sie hatte etwas Unnatürliches, bei dem ihm mulmig wurde.

Als die erste Lieferung in einem Laster mit Fahrtziel Damaskus ankam, multiplizierten sich Husseins Befürchtungen nur noch. Sowohl das Etikett auf der Schachtel mit den Spermaampullen als auch die beiliegende Gebrauchsanweisung waren auf Hebräisch. Wenngleich auf der anderen Seite des Jordans ebenso ein religiöses Verbot von Schweinefleisch bestand, wurde es dort als Bassar lawan beworben – »weißes Fleisch«. Zuerst war es heimlich in Schlachtereien verkauft worden, doch als nach 1989 achthunderttausend russische Immigranten in Israel ankamen, war Schweinefleisch praktisch an jeder Straßenecke zu haben. Für viele in Husseins Stadt war allein die Idee künstlicher Besamung skandalös genug, und er wusste, sollte auch noch der Herkunftsort seines jüngsten Geheimnisses an die Öffentlichkeit dringen, würde all seine Arbeit in Rauch und Flammen aufgehen.

Abu Satar fand die Aussicht auf eine derartige technologische Innovation natürlich großartig. Überschwänglich besah er sich mit seinem guten Auge und einer Lupe das Thermometer und das andere Zubehör. Beim Studium der Gebrauchsanleitung wies er Hebräischkenntnisse auf, die Hussein schockierten. Während Abu Satar den Katheter zusammensetzte, erzählte er beiläufig, dass er zu einer Zeit, als man im gesamten Nahen Osten das Wort »Israel« nicht aussprechen durfte, ohne gleich verhaftet zu werden, die Sprache der Nachbarn aus jugendlicher Rebellion hatte erlernen wollen. Sein Traum wurde wahr, als Jordanien und Israel 1994 Frieden schlossen und die Knesset günstigen Hebräisch-Fernunterricht anbot. Dann wischte er die Ängste seines Neffen endgültig beiseite, indem er verkündete: »Was für Schweine gut ist, ist auch gut für die Politik.«

Bestärkt durch die Zuversicht seines Onkels willigte Hussein schließlich zögerlich ein, das Verfahren auszuprobieren. Bis die Methode perfektioniert sein würde, konzentrierten sie sich auf die Arbeit am Mutterschwein. Die ersten beiden Versuche waren nicht erfolgreich, doch indem sie gewissenhaft die Anzeichen verfolgten – eine gewisse Rötung um die Genitalien in der Anwesenheit eines Ebers, ein Anstieg der Körpertemperatur –, konnte Hussein den richtigen Zeitpunkt für den dritten Versuch bestimmen. Der resultierende Wurf war klein – acht Ferkel –, doch die Vorteile frischen Blutes überwogen bei Weitem die vorübergehende Verzögerung. Als die Würfe zahlreicher und häufiger wurden, war es Ahmad, der Abu Satars Schwein einen Namen verlieh. Bei seiner Pflege von Umm al-Chanasir, der Mutter aller Schweine, flüsterte er ihr zu, dass sie allein ihr großer Glücksbringer sei.

Und so übertraf anfangs die Produktion zeitweilig die Nachfrage. Das quälte Abu Satar, der Verschwendung hasste, besonders wenn man sie zu Gewinn hätte machen können. Seine bereitgestellte Gefriertruhe war nicht groß genug, um den Überschuss zu lagern, und die Energiekosten des Generators erwiesen sich als schweißtreibend hoch. Also bedrängte der alte Mann seinen Neffen, er solle einen anderen Weg finden, um das Fleisch zu konservieren.

Hussein fing an, das relativ neue Internetcafé der Stadt zu frequentieren, wo er kulinarische Websites besuchte und eine fand, die detailliert unterschiedliche Methoden der Schinkenherstellung beschrieb. Er kam mit zwei Aluminiumtöpfen auf den Hof. Um sich gegen Trichinellose abzusichern, ein schleierhaftes, aber unangenehm klingendes Leiden, musste man das Fleisch bei hoher Temperatur behandeln. Hussein traute dem kleinen Feuer, das Ahmad geschürt hatte, nicht im Geringsten und bestand darauf, das Fleisch stattdessen in einer Salzlake ziehen zu lassen und es anschließend ausgiebig mit Salz, Zucker, Kaliumnitrat, Pfeffer und Gewürzen zu behandeln, allesamt aus den Beständen des Emporiums. Das Ergebnis wurde in der Sonne getrocknet. Die Schinken waren hart und wächsern; Abu Satar war nicht überzeugt.

Als Nächstes durchstreifte Hussein das Netz auf der Suche nach Räuchermethoden. Er wies Ahmad an, eine kleine Wellblechhütte zu bauen, und machte sich selbst auf die Suche nach dem richtigen Brennmaterial. Eine Website empfahl Eiche und Buche, Hölzer, die dem Fleisch definitiv einen goldenen Ton verleihen würden, doch nicht nur mangelte es in der Gegend an diesen bestimmten Sorten, es war schwierig, überhaupt irgendwelches Holz zu finden. Also schickte Hussein Ahmads Söhne los, das Umland zu durchforsten. Die Auswahl an Dornengestrüpp, die sie zusammenkratzten, verlieh dem Fleisch einen ungesunden blaugrauen Stich und einen ranzig-bitteren Geruch. »Kein Wunder, dass aus den Büschen hier die Dornen in Jesus’ Krone wuchsen«, meinte Hussein abschätzig. Er wollte das Projekt schon vollständig aufgeben, doch Abu Satar trieb ihn weiter an. Durch seine grenzenlosen Kontakte hatte der alte Mann von einem Olivenhain in den besetzten Gebieten erfahren, der gerodet werden sollte, um Platz für eine neue Siedlung zu machen. Er beschaffte eine Lasterladung Olivenholz und ließ sie auf eigene Kosten zum Hof transportieren. Hussein protestierte wegen der politischen Implikationen, doch sein Onkel blieb ungerührt.

»Al Dschid hat dir doch bestimmt die Geschichte vom heiligen Olivenbaum erzählt«, sagte Abu Satar. »Auf jedem Blatt stehen die Worte ›bismillah a-rahman a-rahim‹, ›Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes‹. Betet ein Baum nicht fünfmal täglich, verlässt ihn Gott, und es ist sein Schicksal, gefällt zu werden. Was kann ich dafür, wenn die Israelis jeden palästinensischen Olivenhain gottlos finden?«

Hussein ließ die knorrigen Äste verwittern, um den Gerbstoff in der Rinde zu verringern, dann entfachte er in seinem Räucherhaus vorsichtig ein Feuer. Und schließlich wurde er belohnt. Das Fleisch, da waren sich alle einig, hatte ein herbes Olivenaroma, einen saftigen, zarten Geschmack, der bei den Kunden sofort gut ankam. Aber die Holzlieferungen waren zu unregelmäßig, als dass sich das Räuchern rentiert hätte. Zwar gab es einen einzigen Mann, der eigene Wacholderzweige und -beeren bereitstellte – ein Vetter schickte sie aus Deutschland, wodurch Hussein einen absolut einwandfreien Westfälischen Schinken herstellen konnte –, doch sonst sah er sich gezwungen, sein Produkt wieder zu kochen. Nach einigem Herumprobieren stieß er schließlich auf die Methode, die Kochschinken mit Honig, Anis und Nanaminze zu ummanteln. Der wahre Durchbruch kam, als er eine dicke Schicht von Mutter Fadhmas Satar-Gewürzmischung aufstrich, die Geburtsstunde eines überaus arabischen Schinkens.

Das brauchte Zeit und Platz und machte den Bau eines Trakts zur Verarbeitung notwendig, auch um das Fleisch vor Sonne und Fliegen zu schützen. Wenngleich Hussein gewissenhaft darauf achtete, das Fleisch nie selbst zu verkosten, und es lediglich nach Gewicht und Griffigkeit beurteilte, war er mit der Konsistenz der Kochschinken nicht so zufrieden wie mit der geräucherten Variante. Es freute ihn also, als Abu Satar es schaffte, den Großteil dieser Fleischerzeugnisse zu exportieren. Nach dem Bestimmungsort fragte Hussein bewusst nie. Wenn sich Olivenholz und gefrorener Ebersamen leicht über den Jordan schmuggeln ließen, gab es keinen Grund, warum eine Ladung Schinken nicht in die andere Richtung gehen konnte. Nur wissen wollte Hussein davon nichts.

Alles, was nicht zu Schinken verarbeitet wurde, landete in der Wurstmaschine am anderen Ende des Verarbeitungsblocks. Selbst vor Ankunft der Maschine hatte Abu Satar darauf bestanden, dass sämtliche Reste, die für den Einzelverkauf zu unappetitlich waren, gekocht, mit altem Brot zermahlen und in Därme gestopft wurden. Er argumentierte, dass die schiere Neuartigkeit des Produkts für Käufer sorgen würde, und behielt recht. Das Verfahren erforderte viel Handarbeit. Ahmads Söhne halfen aus, aber es war immer noch zu viel Arbeit. Hussein beklagte sich bei Abu Satar, der daraufhin seinen mysteriösen Freund Hani kontaktierte, ein ehemaliger palästinensischer Mittelsmann und Lieferant des Unmöglichen. Er hatte es geschafft, Umm al-Chanasir über vier feindliche Grenzen zu schmuggeln, sein erster Clou. Der zweite war die unerwartete Anlieferung einer antiquierten deutschen Wurstmeister-Maschine.

Die Wurstmaschine war ein Ding barocker Schönheit. Röhren, Schüsseln, Kolben, Rührer, Trommeln, Rüttler, Greifer und Töpfe verströmten eine futuristische, funktionale Eleganz. Das Triebwerk sah aus, als könnte es auch einen Ozeandampfer flottmachen, und einmal in Betrieb, rumpelte die Maschine alarmierend. Doch sie erledigte ihre Arbeit mit makelloser Effizienz. Gehirn und Schwarten, Ohren und Bäckchen, Lungen und Reste sowie Husseins fehlgeschlagene Schinken wurden in einen großen Trichter über dem Haupt-Mahleinsatz gefüllt. Frisch zerkleinert wurden sie von einer rotierenden Messerschneide in einer Drehschüssel vermischt und dann in den Emulgator weitergeleitet, eine große Trommel, in die man nach und nach durch eigene Trichter Brot, gekochtes Getreide, Kräuter und Gewürze hinzugeben konnte. Hatte die Mischung die richtige Konsistenz erreicht, drückte ein Schraubmechanismus sie durch eine kleine Öffnung in die Wursthüllen. Gewaschen, ausgekratzt und mit Wasserstoffperoxid und Essig behandelt wurden die Därme in einem anderen Teil der Maschine. Ein automatischer Greifer drehte die Enden zu zwei unterschiedlichen Größen zusammen, Brat- oder Cocktailwürstchen.

Die Würstchen waren begehrter als der Schinken. Tatsächlich war das einzige Nebenerzeugnis, das bei der Kundschaft auf offenen Widerstand stieß, die Blutwurst. Sie verkaufte sich einfach nicht, bis Ahmad auf die Idee kam, die Pelle Türkis zu färben, eine Farbe, die traditionsgemäß den bösen Blick abwehrte. Ab da ging sie wie geschnitten Brot. Der Verarbeitungsblock diente als Denkmal für Abu Satars muntere Maxime, dass »jedes Stück des kleinen Schweinchens seinen Nutzen« habe.

Mitgerissen vom Enthusiasmus seines Onkels und verführt vom eigenen Umsatz konzentrierte Hussein sich auf den positiven Nutzen und verdrängte seine Zweifel. Der Vorfall am Morgen vor der Moschee hatte jedoch all seine alten Ängste wieder hervorgebracht. Hussein würde es gerne für einen Einzelfall halten, doch offenbar ist die Lage ernster als gedacht.

Mutter aller Schweine

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