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Religion und Weltbild der Kaiserzeit

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Zum besseren Verständnis des Mithras-Kultes in seiner Zeit seien einige Vorbemerkungen vorausgeschickt, die das Umfeld beschreiben.

Eine erste betrifft die Denkgewohnheiten der Menschen, die Mithras verehrten. Es mag trivial klingen, aber als Menschen des 21. Jahrhunderts müssen wir heutzutage in vielen Dingen umdenken, wenn wir uns die Bedingungen der Antike vergegenwärtigen wollen. Sehen wir uns die Sätze des Philosophen Plotin an, der im 3. nachchristlichen Jahrhundert folgende Selbsterfahrung beschrieben hat (4, 8, 1, 1):

„Immer wieder, wenn ich aus meinem Leib aufwache in mich selbst, lasse ich das andere hinter mir und trete in mein Selbst; ich sehe eine wunderbare, gewaltige Schönheit und vertraue in einem solchen Augenblick darauf, ganz eigentlich zum höheren Bereich zu gehören. Ich verwirkliche höchstes Leben, ich bin in eins mit dem Göttlichen und auf seinem Fundament gegründet.“

Dies sind die Denkweise und die Sprache eines Philosophen, aber wir dürfen sicher sein, dass der nicht philosophisch Vorgebildete, der durchschnittliche Kultanhänger, eine solche Vereinigung mit der Gottheit umso einfacher nachvollziehen konnte. In einer polytheistischen Gesellschaft hatte das Wort ‚Gott‘ nämlich nicht die niederwerfenden Obertöne von Ehrfurcht und Distanz wie etwa im Christentum. Alle vorchristliche Religiosität wird im Gegenteil durch das charakterisiert, was ich den allumfassenden Zugang zu sämtlichen Gottheiten nennen möchte. Denn das öffentliche und private Leben bis in die Kleinigkeiten des Alltags war von unzähligen Kulthandlungen und religiösen Zeremonien durchdrungen, und dies wirkte auf den antiken Menschen ebenso ein wie die Kultsymbole verschiedenster Provenienz in den Häusern, den Straßen und Plätzen und auf den Feldern.

In der volkstümlichen griechischen Tradition unterschied sich ein Gott von einem Menschen vor allem darin, dass er unsterblich war und mit übernatürlichen Kräften begabt, welche ihm eben Unsterblichkeit verliehen. Der Mensch war mithin ein sterblicher Gott und Gott ein unsterblicher Mensch. Die Distanz zu Gott blieb nicht unüberbrückbar, und sie konnte von jedem einzelnen überwunden werden. Jeder Mensch konnte durch Meditation zu einer mystischen Vereinigung mit Gott gelangen. Wir Heutigen vermögen zwar immer noch mit Gott zu sprechen, aber wir können nicht länger Gott werden.

Zu der Vorstellung vom Göttlichen gehört untrennbar die Kenntnis des Weltbildes, welches die Folie für diese Religiosität abgab.36 Das Weltbild, wie es in den intellektuellen, aber auch in anderen Schichten verbreitet war, ist von Aristoteles und den hellenistischen Astronomen übernommen. Den gesamten gewaltigen Bau des Kosmos betrachtete man als Ausdruck einer göttlichen Ordnung. Die Erde ist in diesen Kosmos eingeordnet, durch den Aristoteles gleichsam eine Linie gezogen hatte: Oberhalb dieser Linie, jenseits des Mondes, lagen die unveränderlichen Himmel, in denen sich die Sterne bewegten, Reihe um Reihe, das Heer eines unwandelbaren Gesetzes. Unterhalb, diesseits des Mondes, lag die irdische Welt des Zufalls, der Veränderlichkeit, des Todes. Innerhalb dieses riesigen Gebäudes mit vielen Wohnungen erschien die Erde winzig im Vergleich zur Unermesslichkeit des Universums, als dessen armseligste Bleibe, denn sie bestand aus nichts anderem als seinem Abfall und seinen Ablagerungen. Die Welt gewinnt dadurch ein feindliches Gesicht, sie wird zur Fremde.

Diesem Weltbild korrespondierte das Menschenbild, ihm entsprachen die Erfahrungen des Menschen im Großen und im Kleinen. Die folgenden Sätze des christlichen Denkers Cyprian aus dem 3. Jahrhundert, mit ihrer Mischung aus Topos und Pathos, sind oft und oft zitiert worden („An Demetrius“ 3):

„Die heutige Welt spricht für sich selbst: Ihr offenkundiger Verfall kündigt ihre Auflösung an. Die Bauern verlassen das Land, die Händler die See und die Soldaten das Lager. Alle Ehrlichkeit im Gewerbe, alle Gerechtigkeit im Gericht, alle Solidarität in der Freundschaft, alle Geschicklichkeit in den Künsten, alle Normen der Moral – alles ist im Verschwinden begriffen.“

Zweifellos spricht hier der christliche Kirchenvater in einer Begrifflichkeit, die an die Apokalypse erinnern und gemahnen soll. Eine solche Weltsicht haben sicherlich viele geteilt, unabhängig davon, wie schlecht die allgemeine Lage im 3. nachchristlichen Jahrhundert wirklich war. Auf jeden Fall spiegelt auch das wachsende Bedürfnis nach Orakeln das von Cyprian ausgesprochene Gefühl der Unsicherheit wider.

Dem eben geschilderten Weltbild entsprachen ferner die Erfahrungen des Menschen im Kleinen, etwa im häuslichen Bereich der Familie und der Begegnung mit dem Tod. Wir wachsen heute in immer kleineren Familien auf, viele wissen schon gar nicht mehr, was es heißt, einen Bruder, eine Schwester zu haben – und: sie zu verlieren. Dies war in der Antike gewiss anders. Damals ging das, was wir heute Sozialisation nennen, im Rahmen größerer Geschwister- und Kinderscharen vor sich. Aber auch der Tod war in allen Altersgruppen und in jeder sozialen Schicht eine alltägliche Erscheinung. Dies machte sicherlich nicht gleichgültig gegenüber dem Tod, doch die Menschen waren mit ihm vertraut, und sie hatten deshalb wohl auch ein anderes Verhältnis zum Leben und zur Religion.37 Das vorherrschende Sterblichkeitsmuster bedeutete eine breite Streuung der individuellen Sterbealter und eine sehr unsichere, wenig voraussehbare Lebensdauer für den Einzelnen. Leben bestand mithin aus einem mehr oder weniger langen und mehr oder weniger wichtigen irdischen Teil, sowie einem entscheidenderen jenseitigen Teil nach dem Tod. Sterben war nur ein Übergang; es ist verständlich, dass eine solche Einstellung die Religiosität des Menschen prägte, der in einem viel intensiveren Maße Halt und insbesondere Heil nicht nur in einer, sondern in zahlreichen Kultgemeinschaften suchte.

In diesem Weltbild gab es einen Ansatzpunkt der Hoffnung für jeden Menschen, für jeden gab es eine Verbindung zu jener besseren Welt der Gestirne: die Seele. In ihr west ein Teil des unveränderlichen Seins, jenes sich immer selbst Gleichen. Sie ist ein Stück Licht vom Licht, in den Fixsternsphären beheimatet, bevor sie sich in unseren Körper senkt. Den Weg der Seele durch die Planetensphären hat der Platoniker Macrobius an der Wende zum fünften nachchristlichen Jahrhundert in seinem Kommentar zu Ciceros ‚Traum des Scipio‘ (1,12, 13–14) beschrieben:

„Die Seele gleitet von der Fixsternsphäre aus zu immer tieferen Sphären hinab, und während sie durch diese gleitet, wird sie nicht nur umkleidet von einem Leib aus Lichtstoff, sondern erwirbt auch all jene Eigenschaften, von welchen sie auf der Erde Gebrauch machen wird: In der Sphäre des Saturn logisches Denken und Verstand, in der des Iuppiter Tatkraft, in der des Mars feurigen Mut, in der des Sonnengottes die Fähigkeit wahrzunehmen und sich Vorstellungen zu bilden, die Begierde in der Sphäre der Venus, die Fähigkeit zu sprechen und sich verständlich zu machen im Kreis des Merkur; die Fähigkeit zu pflanzen und die Körper wachsen zu lassen gewinnt sie beim Betreten des Kreises der Luna.“

Die Vorstellung eines solchen Weges war allgemein verbreitet, wenngleich die Phantasie des Einzelnen in den jeweiligen Details einen weiten Spielraum besaß. Der Verstand konnte seine Befriedigung in der Wissenschaftlichkeit solcher Lehren finden, die dem damaligen Stand der Astronomie entsprachen. Man konnte sich aber ebenso gut an den Bildern und der Symbolik, etwa der Mithras-Reliefs, erfreuen und aus volkstümlichen Erzählungen die tröstliche Verheißung der Unsterblichkeit der Seele gewinnen.

In diesem Zusammenhang muss man auf die Träume und Visionen verweisen. In unserer heutigen Kultur werden Gesichte und Stimmen gewöhnlich als Krankheitssysmptome behandelt. Sie gehören aber zu einer Gruppe von Erfahrungen, deren Natur zwar dunkel und schlecht definiert, deren religiöser Charakter aber in der Antike nicht bezweifelt wurde. In den Bildern des Schlafs tritt der Gott an den Menschen heran, um ihm beispielsweise mitzuteilen, dass er eine Weihegabe fordert; „im Traum ermahnt“, hat ein Mithras-Anhänger einen Altar errichtet (CIMRM-01, 00304). Wir sind heutzutage darauf angewiesen, bildliche Vorstellungen erst in abstrakte Begriffe zu übersetzen, und können die mythologischen und kultischen Bilder vorrangig als allegorische Einkleidungen gedanklicher Überlegungen verstehen. Die Bilder aus den antiken Kulten, beziehungsweise die Sichtweisen der Bilder, sind aus einem völlig anderen Bewusstsein hervorgegangen. Sie ergaben sich unmittelbar, etwa in der Weise, in welcher der Traum mit bildlichen Inhalten operiert. Solche Bilder bedurften vermutlich keiner gedanklichen Erklärung, sondern ihr Sinn wurde instinktiv gefühlt, die Imaginationen wurden erlebt, Statuen und Bilder sind lebendig. Die Arbeit des Bildhauers wurde bei den Ägyptern „belebend“ genannt, weil das Abbild das Lebendige ist. „Er (Ptah, der Gott der Künste) …bildete ihren (der Götter) Körper nach, und dann gingen die Götter ein in ihren Körper aus allerlei Holz, allerlei Stein und allerlei Metall.“38 Servius, ein Grammatiker des 4. nachchristlichen Jahrhunderts, fasst das Verständnis des antiken Menschen von Bildern und szenischen Darstellungen treffend in wenige Worte: „Bei religiösen Zeremonien bedeuten Imitationen dasselbe wie die Wirklichkeit (Servius zu Aeneis 2, 116; vgl. 4, 512). Suggestion wird zur Realität. Alle unsere Erklärungen, wenn sie denn überhaupt den Kern treffen, bleiben stets ärmer als die Erlebnisse, denen der antike Kultanhänger teilhaftig wurde.

Nach dem Tod kann die Seele den Weg zurück finden, kann sie wieder emporsteigen. Jenseits der Fixsternsphäre ist die Heimat der Seelen, dorthin geht ihre Sehnsucht, solange sie im Gefängnis des Leibes weilen müssen. Dorthin geht schließlich auch die Sehnsucht der Menschen, die Seneca in wenige Worte fasst („Brief“ 102, 21 –29):

„Dann werden sich die Geheimnisse der Natur dir enthüllen. Jene Finsternis wird sich verteilen und das helle Licht wird von allen Seiten durchbrechen. Stelle dir vor, wie groß der Glanz sein wird, wenn so viele Gestirne ihr Licht miteinander vereinen. Kein Schatten wird die Heiterkeit trüben … Dann wirst du meinen, du habest bisher in Finsternis gelebt, wenn du die Fülle des Lichts voll aufnehmen wirst, welches du jetzt nur durch die engen Pforten deiner Augen schimmern siehst und es doch schon aus der Ferne bewunderst. Wie wird sich dir das göttliche Licht darstellen, wenn du es an seinem Orte sehen wirst.“

Diese Schau des Lichts wurde beeinflusst durch eine jener Wandlungen, die das Zeitalter des Hellenismus mit sich brachte: Die religiöse Verehrung der Gestirne drang aus dem Vorderen Orient in die Welt der Griechen und schließlich auch in diejenige der Römer vor. Die in der griechischen Tradition weiterlebende Philosophie wurde von dem Gedanken der astralen Frömmigkeit vielfach beeinflusst. Kultische Verehrung erfuhren vor allem syrische Baale, ursprünglich Vegetationsgottheiten, die sich unter dem Einfluss der chaldäischen Religion zu Gestirn- beziehungsweise Himmelsgottheiten entwickelt hatten. Solche Gottheiten wie der Iuppiter von Doliche oder der Iuppiter von Heliopolis waren schon gegen Ende der römischen Republik nach Italien gekommen. In der Kaiserzeit wuchs ihre Bedeutung, besonders unter den Severern. Iulia Domna, die Gattin des Septimius Severus (193–211), war eine Tochter des Hohen Priesters des Baal von Emesa. Mit dem 218 auf den Thron gekommenen Elagabal trat ein solcher Hoher Priester selbst an die Spitze des römischen Reiches. Schließlich erhob Aurelian (270–275) den syrischen Sonnengott, dessen Kultbild er aus Palmyra nach Rom überführte, als Sol Invictus zum Reichsgott.

Wichtiger als die kultische Verehrung dieser Götter war die Theologie, die in ihrem Gefolge eindrang. Die orientalischen Himmels- und Sonnengottheiten bestimmte die Tendenz zur Allgottheit. Diese Theologie, in welcher die Sonne, sowohl als griechischer ῞Ηλιος wie als römischer Sol ein männlicher Gott, zu einer allmächtigen, die Welt mit ihrer Lebenskraft durchdringenden Gottheit geworden war, traf sich mit der monotheistischen Tendenz der philosophischen Aufklärung. So kam es, dass ein solarer Pantheismus während der Kaiserzeit die gesamte römische Welt eroberte, jene Vorstellung, dass die Sonne das All sei und Sol die meisten Götter in sich aufnehme. Die Sonne figurierte nicht nur als Himmelskörper, als Element der materiellen Welt, sondern man erkannte sie zugleich als die unmittelbare Erscheinung des schlechthin höchsten Wesens, der einen Allgottheit. Die Hinwendung zum sichtbaren Himmel wurde zur Reverenz vor einem alles bewegenden Schöpfergott.

Gleichzeitig griff ein Schicksalsglaube um sich, dessen Symptom die Astrologie war; sie gewann rasch Einfluss in allen Bevölkerungsgruppen. Es wurde Mode, sich das Horoskop stellen zu lassen und in großen wie in kleinen Unternehmungen nach der günstigen Stunde zu fragen. Augustus ließ sein Horoskop veröffentlichen und Münzen mit dem Gestirn seiner Gottheit, dem Steinbock, prägen.

Damals erklangen denn auch viele Stimmen, die dem Menschen Befreiung aus dem Zwang des Verhängnisses versprachen; die religiöse Toleranz der Griechen und Römer hatte zu einer verwirrenden Menge von Kulten und Lebensphilosophien geführt. Es waren dies vor allem die Gottheiten der sogenannten Mysterienkulte, von denen Mithras einer unter vielen war.

Mithras

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