Читать книгу POLARLICHTER - Manfred G. Valtu - Страница 14
K A P I T E L 1 0
ОглавлениеEin paar Wochen zuvor in Berlin gönnte sich Rechtsanwältin Agnes Winter eine kurze Pause. Sie biss auf einem kleinen Spaziergang von ihrer Praxis durch die Moabiter Kirchstraße bis zur Ecke Alt-Moabit und zurück herzhaft in das Baguette-Brötchen. Es war ärgerlich, dass sie aus Zeitgründen ihre Pause mit einem Essen-To-Go verbinden musste.
Zurück in der Kanzlei suchte sie zunächst den Waschraum auf. Sie wusch sich die Hände und setzte an, den Lidstrich nachzuziehen. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Das, was sie im Spiegel sah, war erschreckend. Aus einem blassen Gesicht schauten trübe Augen auf sie zurück, unter denen sich dunkle Halbringe gebildet hatten. Aus ihren zarten Lachfältchen waren Falten geworden und ihre Mundwinkel hingen herab, als hätte sie gerade einen Fall verloren.
Sie stützte sich mit beiden Händen auf das Waschbecken, bewegte ihren Kopf ganz nah an den Spiegel und sagte laut: „So geht das nicht weiter! Der Job frisst mich auf. Und für was und für wen?“
Agnes Winter, knapp über fünfzig Jahre alt, war ledig und kinderlos. Der einzige Mann, mit dem sie je hätte zusammen leben wollen, war vor drei Jahren gestorben. Man hatte ihn ermordet. Mit Grausen dachte sie an die Geschehnisse um die LIGA zurück. Nie wieder würde sie einen Mann in ihr Leben lassen. Nie mehr würde sie einen anderen Mann lieben können.
Natürlich hatten ihre zahlreichen Freundinnen einige Zeit nach dem Verlust ihres Geliebten den Versuch unternommen, sie zu überzeugen, dass sie noch viel zu jung, knackig, attraktiv und lebensfroh sei, um als 'alte Jungfer' den Rest ihres Lebens zu fristen. Es war auch nicht so, dass es an Interessenten fehlte. Und das eine oder andere Mal hatte sie sich auch auf einen Kinobesuch oder ein Essen mit dem einen oder anderen Kollegen eingelassen.
Mit dem einen oder anderen?
Sie musste sich eingestehen, dass sie ihre letzten drei Ausflüge immer mit demselben Kollegen gemacht hatte: Dietmar Otto. Er umwarb sie schon lange, was sie ebenso lange von sich geschoben hatte. Doch er war charmant, einfühlsam, geduldig, konnte gut zuhören und was er von sich gab, hatte Hand und Fuss. Bei aller Sanftheit machte auch manchmal ein gewisses Macho-Gehabe einen Teil seiner Persönlichkeit aus. Sie musste sich eingestehen, dass er sie in seinem Wesen an ihren Geliebten Martin erinnerte, zumal er auch noch äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm hatte.
„Träum weiter“, rief sie sich zur Ordnung, beendete ihre Kosmetik und ging in ihr Büro.
„Herr Otto hatte gerade angerufen. Er hätte da einen Fall, in dem er dringend Ihren Rat braucht.“
Agnes musste unwillkürlich lächeln. Diese Floskel benutzte er immer, wenn er sie zum Essen, zum Kino- oder Konzertbesuch einladen wollte.
„Dann verbinden Sie mich mit ihm.“
„Schön, dass du zurückrufst.“
Agnes merkte, dass er anders als sonst klang, irgendwie ernster.
„Ich habe da eine Sache, die ich unbedingt mit dir besprechen muss. Kannst du dich heute früher loseisen? Ich würde dich um sechs abholen. Ginge das?“
„Was ist denn so dringend? Ist irgendwas passiert? Du klingst etwas sehr dramatisch.“
„Ich möchte das nicht am Telefon besprechen. Bitte glaube mir, es ist wirklich sehr wichtig.“
„Na schön. Ich sehe zu, dass ich bis sechs fertig bin. Eventuell musst du ein bisschen warten.“
„Kein Problem. Ich danke dir sehr, bis nachher.“
Agnes nahm den Hörer vom Ohr und sah ihn ungläubig an. Dietmar hatte nicht einmal ihre Antwort abgewartet. Er hatte sofort aufgelegt.
Ihre Neugier war geweckt. Sie nahm sich vor, pünktlich für ihn bereit zu sein.
§
Seit dem vor drei Jahren auf ihn verübten Attentat war Willibald Clemm nicht mehr der Alte. In wochenlangem Krankenhausaufenthalt mit -zig Operationen hatte man ihn wieder so weit zusammengeflickt, dass er sich selbstständig bewegen konnte. Mehr als ein halbes Jahr hatte er sodann – zunächst stationär, anschließend ambulant – mit Reha-Maßnahmen zugebracht. Er war seiner Zeitung dankbar, dass sie ihm seine Stelle als Kulturreporter freigehalten hatten. Nie wieder, so hatte er sich geschworen, würde er sich in den redaktionellen Teil der Gerichtsreportagen begeben.
Das eine Mal hatte gereicht.
Und nun hatte ihn die mit dieser kurzen Episode verbundene Vergangenheit eingeholt: Ein anonymer Anrufer bot ihm Informationen zu den Hintergründen des Anschlags an. Und er kenne auch die bis heute von der Polizei nicht ermittelten Täter und ihre Auftraggeber. Da er damals selbst in die Organisation eingebunden gewesen sei, könne er nicht zur Polizei gehen.
Willibald Clemm hatte dies rundheraus abgelehnt. Wenn überhaupt, dann solle der Anrufer mit der für Kriminalfälle zuständigen Redaktion sprechen. Darauf hatte der Anrufer gebeten, er möge es sich überlegen, er würde sich in den nächsten Tagen wieder melden.
„Da gibt es nichts zu überlegen“ hatte er gedacht und die Sache zunächst gedanklich ad acta gelegt.
Doch sie hatte ihm keine Ruhe gelassen. Zwei Tage später war er zum zuständigen Redakteur gegangen und hatte ihm von dem Anruf berichtet. „Passen Sie auf“, hatte der gesagt. „Verabreden Sie ein Treffen. Der soll seine Karten auf den Tisch legen. Wenn er wirklich seriöse Informationen hat, werde ich mich selbst um die Sache kümmern. Aber zunächst sollten Sie den Kontakt aufrecht erhalten. Er hat sich an Sie persönlich gewandt, das bedeutet, dass erst Vertrauen aufgebaut werden muss, bevor der auch mit anderen verhandelt.“
Eine schlaflose Nacht lang hatte Clemm hin und her überlegt. Dann stand sein Entschluss fest: Er würde ein Treffen verabreden, aber nicht alleine hingehen. Er würde seinen Anwalt, der ihn wegen der Ansprüche gegen die Krankenkasse und die Berufsgenossenschaft vertreten hatte, bitten, ihn zu begleiten.
§
Agnes Winter verließ Punkt 18.00 Uhr ihr Büro. Rechtsanwalt Otto stand neben seinem in zweiter Spur vor dem Eingang zum Verwaltungsgericht geparkten 'Angeberauto' (so hatte sie das Porsche-Cabrio, das er fahren zu müssen meinte, betitelt) und war in ein Gespräch mit einer Polizeibeamtin verwickelt.
„Ah, da kommt sie ja“, rief er und deutete in ihre Richtung.
Agnes beeilte sich, die Kirchstraße zu überqueren. „Brauchst du anwaltlichen Beistand? Ich rate, die Aussage zu verweigern.“
„Nein, nein, ich bin nicht in Gefahr, ein Knöllchen zu bekommen. Sie war kürzlich Zeugin in einem Prozess, in dem ich verteidigt hatte. Wir haben uns fachlich ausgetauscht. Und ...“ fügte er schelmisch hinzu „… sie mag mein Auto!“ Agnes lachte. „Dann verkauf es ihr doch. Dann kannst du mich vielleicht künftig in einem weniger auffälligen Gefährt mitnehmen.“
„Das kann ich mir leider nicht leisten“, ließ sich die Polizeibeamtin etwas pikiert klingend vernehmen. Und an Otto gewandt: „Fahren Sie jetzt das Auto bitte weg.“
Otto verabschiedete sich freundlich, beide stiegen ein und er fuhr los.
Das Unglaubliche geschah: Otto fand einen Parkplatz direkt vor dem Restaurant in der Xantener Straße.
„Na, wie hab' ich das gemacht?“, fragte er stolz. Doch Agnes antwortete nicht gleich. Sie mochte dieses Lokal nicht. Zu viele Promis – und solche, die sich dafür hielten – kamen hierher. Und da sie manche von ihnen anwaltlich vertreten hatte, waren ihr solche Begegnungen unangenehm.
„Muss das sein?“, fragte sie deshalb. „Du weißt doch, dass ich nicht so gern hierher gehe.“
„Tut mir leid, aber du wirst es im Laufe des Abends verstehen,“ antwortete er. „Bitte hab' etwas Geduld.“
Das wurde ja immer rätselhafter. Erst seine ungewöhnlich ernste Art, dann so etwas. Doch dann stieg Agnes seufzend aus.
Otto hatte einen Tisch in der hinteren rechten Ecke reserviert. Von dort hatte man den ganzen Raum und den Eingang im Blick.
Agnes wunderte sich immer mehr. Das sah Otto überhaupt nicht ähnlich, er saß sonst immer gern im Mittelpunkt. Sie orderte einen Campari-Orange, Otto erstmal nichts. Nachdem der Kellner weg war, fixierte sie ihren Begleiter. „Also, heraus mit der Sprache, was ist los? Du benimmst dich seltsam, muss ich mir Sorgen machen? Bist du krank?“
Otto lachte. „Nein, wie kommst du darauf? Mir geht es gut.“ Er machte eine Pause. „Es geht um einen Mandanten und seine Geschichte. Und ich denke, die wird dich interessieren, obwohl sie geeignet ist, alte Wunden aufzureißen.“
Agnes sah ihn schweigend an. Als sie nichts sagte, fuhr er fort: „Der Name Clemm sagt dir noch was?“
Agnes nickte zustimmend.
„Der hat mich vorgestern aufgesucht. Er sei da einer Sache auf der Spur. Doch weil er sich schon einmal die Finger bei einer Recherche verbrannt hätte, wollte er eigentlich damit nichts zu tun haben. Leider stelle ihn sein Redakteur vor die Wahl, die Sache zu verfolgen oder seinen Job los zu sein.“
„Das hört sich nach einer arbeitsrechtlichen Sache an. Was hat das denn mit mir zu tun?“
„Naja, in die Sache, in die er damals verwickelt war, ist er ja durch deinen Freund Voss geraten. Und die neue Sache soll wieder mit dem zu tun haben.“
Agnes war blass geworden. Ihr Herz schlug schneller und in der Magengrube bildete sich das Gefühl, das man kennt, wenn man von Angst ergriffen wird. Zum Glück kam gerade ihr Getränk. Sie nahm einen großen Schluck, atmete tief durch und stieß hervor: „Martin ist seit drei Jahren tot. Wie kann irgend etwas mit ihm zu tun haben?“
„Das weiß ich auch nicht. Aber Clemm will Informationen haben, dass Voss in Wirklichkeit noch lebt.“
„So ein Unsinn! Ich will davon nichts mehr hören. Bring' mich bitte nach Hause.“
Agnes stand auf, nahm ihre Handtasche und schickte sich an, zu gehen. In dem Moment erhob sich ein Mann am Nebentisch und stellte sich ihr in den Weg. „Guten Abend, Frau Winter, mein Name ist Clemm, Willibald Clemm. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten.“
„Aber ich mich nicht mit Ihnen“, zischte Agnes zwischen den Zähnen hervor. „Gehen Sie mir aus dem Weg! Und wenn es wirklich so wichtig sein sollte, machen Sie einen Termin mit meinem Sekretariat.“
Sie schob sich an Clemm vorbei und lief zum Ausgang. Hier stieß sie fast mit Walter Meier, einem mittelmäßigen Schauspieler (Künstlername Roy Robson), den sie in einigen Gagenstreitigkeiten vertreten hatte, zusammen.
„Warum so eilig, schöne Frau“, gab er galant von sich.
„Ich muss hier raus, die Luft ist mir zu dick“, flüsterte Agnes. Und als sie sah, dass Otto kam, hatte sie eine Idee: „Würden Sie mir den Gefallen tun, mich nach Hause zu fahren?“
Meier verbeugte sich und winkelte den rechten Arm an. Er imitierte die Synchronstimme eines Hollywood-Action-Stars und verließ mit den Worten „Ich habe nichts Besseres zu tun“ mit Agnes das Restaurant.
§
Tatsächlich war Clemm am nächsten Tag in ihre Praxis gekommen. Die Geschichte, die er erzählt hatte, war wirr, aber einige Punkte entsprachen den Fakten, die ihr Singer und Anna, die beiden BKA-Außendienstler, seinerzeit im Zusammenhang mit der Ermordung von Martin Voss berichtet hatten.
Und als sie Clemm unter Hinweis auf ihre anwaltliche Schweigepflicht endlich den Namen seines Informanten entlockt hatte, hatte sie sich sehr zusammenreißen müssen, um nicht laut aufzustöhnen. Sie erinnerte sich gut, dass 'Charles Meuser' einer der Alias-Namen des ehemaligen BKA-Agenten (und früheren Freundes von Martin) Falk Schröder war. Und wenn der behauptete, Martin Voss sei nicht tot, sondern lebe unter einem neuen Namen in Norwegen, höchstwahrscheinlich in Trondheim, so konnte da was dran sein.
Dieser nagende Zweifel, ob Martins Tod nicht vorgetäuscht war, das Drängen der Freundinnen und letztlich die Neugier hatten in ihr den Entschluss reifen lassen, über Schweden nach Norwegen zu reisen. Schon lange hatte sie eine Einladung von ihrer Freundin Åsa, sie in ihrem Haus in Umeå zu besuchen. Das war die Gelegenheit. Endlich einmal raus aus der Tretmühle. Sie hatte Åsa angerufen und die hatte vor Freude gequiekt. Sofort sollte sie kommen, sie würde sich unglaublich freuen.
Eine Vertretung für ihre Praxis war schnell gefunden. Doch die ganze Reise allein machen? Vor allem: Die ganze Strecke allein fahren? Mit einem klein wenig schlechten Gewissen – er würde sich bestimmt Hoffnungen machen, mehr als nur ein Begleiter zu sein – fragte sie Dietmar Otto, ob der sie auf ihrer Reise ein Stück begleiten wolle. Er war natürlich sofort bereit und sie musste zugeben, dass ihr die Aussicht, in seinem offenen Sportwagen durch Schweden kutschiert zu werden, sehr gefiel.
Ihm hatte es hingegen überhaupt nicht gefallen, dass sie für die Fähre von Rostock nach Trelleborg zwei Kabinen gebucht hatte. Aber sie hatte ihm nachdrücklich klar gemacht, dass sie ihre Beziehung als eine rein freundschaftliche betrachtete.
Es war ihm nichts anderes übrig geblieben, als das zu akzeptieren.
Die Tage in Umeå vergingen wie im Flug, sie lachten und unternahmen viel. Doch als die Abreise bevorstand, wurde Åsa auf einmal ernst.
„Seit nicht traurig“, hatte Agnes gesagt, weil sie die Stimmung auf den Abschied bezogen hatte.
Doch das war es nicht.
„Ich mache mir Sorgen um einen alten Bekannten. Er ist Biochemiker auf Spitzbergen. Wir kennen uns aus einer kurzen gemeinsamen Zeit an der Uni in Uppsala. Wir waren beide dort Einzelgänger. Und wie das so ist: Da sind wir uns etwas näher gekommen. Nicht, dass es zu einer Liebesbeziehung kam, aber wir haben uns so gut verstanden, dass wir uns auch später nicht aus den Augen verloren haben, egal wohin wir gezogen sind.“
„Und was macht dir Sorgen?“
„Er war ein paar Jahre an der Uni in Oslo in der Forschung tätig und hat dann den Job des wissenschaftlichen Leiters vom Saatgut-Tresor in Svalbard übernommen. Seine Anrufe und seine Postkarten kamen anfangs im üblichen Abstand, auch, nachdem er geheiratet hatte. Ich hatte mich sehr für ihn gefreut und ihm herzlich gratuliert. Doch schon bald wurden seine Anrufe und Mails seltener und der Inhalt der letzten Karte, die ich von ihm vor etwa vier Monaten bekommen habe, klang regelrecht depressiv. Ich glaube, es geht ihm nicht gut. Die Nummer, unter der ich ihn immer anrief, ist nicht mehr geschaltet. Auf meine Mails und Schreiben reagiert er nicht.“
„Hast du mal bei der Polizei nachgefragt?“
„Ach, die würden mich doch auslachen. Er ist ein erwachsener Mann, so etwas wie ein Professor. Wenn ich da anrufe, nehmen die mich doch nicht ernst. Nein, nein. Ich weiß, es wäre eine Zumutung, aber du willst doch sowieso nach Norwegen weiter. Kann ich dich bitten, mal in Oslo nachzufragen. Ich gebe dir hier den Namen und die Adresse. Er hat da noch aus seiner Zeit an der Uni ein Haus, das er vermietet hat. Vielleicht weiß man da etwas.“
„Das ist doch keine Zumutung. Natürlich mache ich das. Wir fahren aber zuerst quer rüber nach Trondheim und kommen erst ein paar Tage später nach Oslo.“
„Das macht doch nichts. Auf ein paar Tage oder Wochen kommt es nicht an. Ich möchte nur irgendwann Gewissheit haben, dass er noch lebt und es ihm gut geht.“
§
Am nächsten Tag waren Otto und Agnes früh aufgebrochen und nach einer anstrengenden Fahrt zehn Stunden später in Trondheim angekommen. Der Empfang des in der Innenstadt gelegenen Hotels war bereits geschlossen, aber das Einchecken und die Ausgabe der Zimmerkarten war – wie heutzutage schon weitgehend üblich – automatisiert. Nach einer kurzen Pause waren sie etwas essen gegangen und bereits um halb zehn war Agnes todmüde in ihr Bett gefallen und hatte bis zum nächsten Morgen durchgeschlafen.
Nach dem Frühstück machten sie einen Stadtbummel und holten sich aus der TouristInformation die Hinweise auf die Sehenswürdigkeiten. Ihr Blick fiel auf die Seite mit dem Freilichtmuseum, auf dessen Gelände auch die berühmte Stabkirche steht.
„Da gehen wir jetzt hin“, hatte sie beschlossen.
Sie hatten Glück, dass gerade eine Führung lief und sie sich noch anschließen konnten.
Nach dem Ende der Besichtigung war sie aus dem Schummerlicht, das drinnen herrschte, nach draußen getreten. Nach kurzem Blinzeln hatte sie einen Mann gesehen und geglaubt, einem Gespenst zu begegnen: Martin! Martin Voss. Da war er! Ihr totgeglaubter, bei einem Attentat vor drei Jahren zu Tode gekommener Geliebter. Da hatte dieser Reporter doch nicht gesponnen.
Und dann fingen auch noch die Glocken der Kirche an zu läuten!
Sie hatte laut seinen Namen gerufen und er hatte sich kurz umgedreht. Mit einer Geistesgegenwart, die sie sich selbst nie zugetraut hätte, hatte sie ihr Smartphone, in dem die Fotofunktion noch eingestellt war, hochgerissen und ein Foto machen können, bevor er um die Häuserecke verschwunden war. Anschließend hatte sie regungslos vor der Stabkirche gestanden und das Gefühl gehabt, der Boden unter ihren Füßen würde sich auflösen.
Otto war kurz nach ihr aus der Kirche gekommen. Er hatte die Begegnung nicht gesehen. Sie schilderte ihm das Ereignis und zeigte ihm das Foto. Er hatte nur den Kopf geschüttelt und gesagt, er sehe nur ein unscharfes Foto eines bärtigen Mannes. Er hätte Voss zwar nicht persönlich gekannt, ihn jedoch damals in allen Gazetten gesehen, in denen er abgebildet gewesen sei. Er könne keine Ähnlichkeit feststellen. Der Kollege war keine große Hilfe.
Dabei waren er und dieser Zeitungsreporter doch diejenigen gewesen, die das Gerücht an sie herangetragen hatten, Voss sei in Wirklichkeit noch am Leben.
Agnes war zurück in die Kirche gegangen. Dort hatte sie den Touristenführer noch angetroffen, ihm das Foto gezeigt und ihn gefragt, ob er den Mann kenne. „Na klar“, hatte der geantwortet. „Das ist Herr Eriksen, Niels-Erland Eriksen. Er hat viel für den Erhalt und die Pflege unseres Freiluftmuseums getan.“
Agnes hatte sich den Namen buchstabieren lassen und notiert. Sie hatte noch erfahren, dass der angebliche Eriksen vor etwa drei Jahren hierher gezogen war. Ihm gehöre ein Haus in der Mellomila, nahe dem Yachthafen. Ob er dort allein lebe oder eine Familie habe, wisse er nicht. Auch den Straßennamen ließ sie sich buchstabieren und notierte ihn. Dank der genauso wie in Schweden offenen norwegischen Gesellschaft hatte sie im Internet problemlos die Adresse finden können. Sie hatte sich bei Otto eingehakt und ihn zu einem Spaziergang überredet.
Nachdem dieser auf seinem Smartphone das Ziel eingegeben hatte, musste Agnes einsehen, dass es für einen „Spaziergang“ zu weit war. Also hatten sie sich ein Taxi genommen. Otto hatte den Taxifahrer gebeten, zu warten. Agnes war inzwischen zu dem Eingang des Hauses gerannt. Sie hatte neben der Klingel den Namen Eriksen gefunden und lange auf den Knopf gedrückt. Den Klingelton hatte sie hören können, aber es war keine Reaktion erfolgt. Alle weiteren Versuche waren ebenfalls erfolglos geblieben. Schließlich hatte aus einem der Fenster des Nachbarhauses eine Frau herausgeschaut. „Herr Eriksen ist nicht da. Er ist weggefahren und wird wahrscheinlich erst sehr spät zurück sein. Kommen Sie morgen wieder.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte die Frau das Fenster geschlossen und war verschwunden.
Agnes fasste einen Entschluss. Hier würde sie nicht eher wieder weggehen, bis sie Klarheit gewonnen hätte.
Zurück im Taxi hatte sie gesagt: „Wir werden morgen nach dem Frühstück noch einmal herkommen. Ich will Gewissheit, ob ich ihn wirklich gesehen habe oder nur einem Wunschtraum aufgesessen bin. Und ich würde es verstehen, wenn du das nicht länger mitmachen willst.“
Agnes hatte das derart bestimmt gesagt, dass Otto, der noch zum Widerspruch angesetzt hatte, seinen Protest herunterschluckte und nur sagte: „Ich lasse dich doch hier nicht alleine. Wer weiß, was noch alles hinter dieser ominösen Geschichte steckt.“
„Wie du willst.“ Und etwas kleinlaut fügte sie hinzu: „Es tut mir leid, dir die Reise zu verderben. Aber ich brauche Klarheit!“
„Endlich mal ein Abenteuer“, rief er nur und beide waren ins Taxi gestiegen.
§§§§§§§§