Читать книгу Tiefpunkt - Thriller - Manfred Kohler - Страница 10
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ОглавлениеKurz nach halb acht war sie zurück an den beiden Telefonstelen vor der Hofer Stadtpost. Den Berg herauf war sie trotz der morgendlichen Kälte ins Schwitzen gekommen. Neuer Schweiß klebte auf altem Schweiß, sie hatte seit ihrem Krankenhausaufenthalt nicht mehr geduscht. Wenn das hier erledigt war, würde sie sich erst einmal einen Badesee suchen.
Sie stellte ihr Fahrrad auf den Ständer und lüftete wedelnd ihr T-Shirt.
Na denn, bringen wir es hinter uns! Der silbergraue Abfallbehälter hatte einen orangefarbenen, verschrammten Deckel. Der Spalt zwischen Behälterrand und Deckel war so schmal, dass ihr Arm gerade hineinpasste. Sie hoffte, dass der zerknüllte Zettel mit den Telefonnummern obenauf lag. Aber das Erste, was sie mit den Fingerspitzen ertastete, war etwas Glitschiges, Kaltes – eine Bananenschale. Igitt. Also tiefer. Eine zusammengefaltete Zeitung. Verschrumpelte Papiertaschentücher. Feste runde Kaugummiklumpen. Zigarettenkippen. Und ein ... oh Mann, pfui Teufel, auf keinen Fall wollte sie wissen, was das eigentlich war. Inzwischen steckte Nelli bis zum Schultergelenk in dem Abfallbehälter. Sie wühlte tiefer, fuhrwerkte mit der Hand über den krümeligen Boden des Behälters, suchte alle vier Innenkanten und Ecken ab, durchmischte den Inhalt und ließ die absonderlichsten Wohlstandsreste tastend durch die Finger gleiten. Da war was, fühlte sich an wie eine kleine Papierkugel.
Nelli zog den Arm aus dem Müll und betrachtete ihre Beute. Es war ihr Zettel, dem Himmel sei Dank. Sie faltete ihn auseinander. Ihre rechte Hand roch nach kalter Zigarettenasche und fauligem Obst. Egal jetzt. Erleichtert stellte sie fest, dass die Zahlen und der Name trotz ihres wilden Durchstreichens noch zu lesen waren.
Herolder. Eine Klatschreporterin. Klischees drängten sich auf. Nelli stellte sich vor, wie es wohl sein würde, von einer solchen Frau bis ins intimste Detail ausgefragt zu werden und dann das eigene Leben übertrieben, verdreht, ausgeschmückt und verkitscht in einem Klatschartikel zusammengebacken zu bekommen zu einem übersüßen Törtchen mit Zuckerguss und Gelier-Kirsche – aber wusste zugleich, dass es ganz anders sein würde. Es war immer anders, als man es sich vorstellte. Und deshalb war auch Andi ganz sicher nicht mehr am Leben, und ganz sicher ging vom Verschwinden seiner Leiche keine Gefahr aus. Alles war ganz anders. Hoffentlich ...
Nelli fischte ein Papiertaschentuch aus einer Seitentasche, reinigte so gut es ging ihre Abfallhand, warf das Taschentuch in den Müll, schob ihr Fahrrad zu einer Bank unweit der Telefonstelen, stellte es ab, setzte sich hin und sah dem morgendlichen Treiben an dieser zentralen Kreuzung ihrer Heimatstadt zu. Jetzt wäre ein Kaffee recht gewesen. Ein Marmeladenbrötchen. Die Morgenzeitung. Die vielen Leute, die an ihr vorbeifuhren, vorbeieilten oder schlenderten hatten mehr oder weniger alle die Zeit nach dem Aufstehen so verbracht. Gelangweilt, vielleicht gestresst und genervt, problembeladen, aber im Warmen, in Sicherheit, frisch geduscht und sauber gekleidet. Nelli sehnte sich ihre einstige Geborgenheit so derart zurück, dass es weh tat. Und sei es nur für die kleinen Freuden eines gemütlichen Fernsehabends und den bescheidenen Luxus einer Kaffeemaschine – sie würde dieser Klatschreporterin alles erzählen, wirklich alles, wenn es nötig war, und dann Augen und Ohren fest verschließen, wenn es an die Öffentlichkeit kam. Hauptsache, sie würde in ihr schmerzlich vermisstes altes Leben zurückkehren können, zumindest ansatzweise. Hauptsache weg von der Straße.
Als die öffentliche Uhr an der Postplatz-Kreuzung von 8.59 Uhr auf 9.00 Uhr rückte, stand Nelli auf, öffnete den Reißverschluss ihres Bauchbeutels, schüttete ihre allerletzten Münzen in die rechte Hand und ging zur linken der beiden Telefonstelen.
Beim ersten Versuch, die lange Zahlreihe einzugeben, verwählte sie sich. Mit zitternder Hand hängte sie den Hörer ein.
»Verdammt, das ist kein Vorstellungsgespräch, nimm dich zusammen. Du bist keine Bittstellerin, sondern hast was zu verkaufen, das diese Frau unbedingt will. Also los!«
Sie ballte die Hände zu Fäusten. Es war einfach zu wichtig, zu wichtig. Nein, war es nicht, es gab jede Menge Klatschblätter, wenn es mit der nichts wurde, würde sie eben ...
Würde sie eben nicht! Nelli brach der Schweiß aus. Wie sollte sie denn mit den Zeitungsleuten verhandeln, wenn sie nicht mal Geld zum Telefonieren hatte? Es war wirklich zu wichtig, wie dieses eine Gespräch ausging, das sie sich noch leisten konnte, zu wichtig, um es zu versauen.
Als die Panikattacke vorüber war, hob Nelli wieder ab. 9.07 Uhr. Sie wählte. Freizeichen.
Was sag ich nur, ich hab mir noch gar nicht überlegt, was ...
»Von Frau zu Frau, Sie sprechen mit der zentralen Vermittlung, was kann ich für Sie tun?«
»Ich wollte eigentlich ...«
Nelli räusperte sich.
»Ich dachte, das sei die Durchwahl von einer Ihrer Reporterinnen, Herolder heißt sie. Hier Nelli Prenz.«
Zwei Münzen fielen durch. Nelli hatte noch knapp über vier Euro. Sie steckte zwei davon in den Apparat.
»Wir haben in der Redaktion eine Fiona Herolder, meinen Sie die?«
»Ja, wahrscheinlich. Können Sie mich verbinden?«
»Frau Herolder ist noch nicht am Platz. Ich schau mal, wann sie heute kommt.«
»Beeil dich!«, flüsterte Nelli und trat von einem Bein aufs andere.
»Sieht so aus, als ob sie heute gar nicht kommt. Kann Ihnen jemand anders weiterhelfen?«
»Ich weiß nicht, es ist nur, mein Geld ist gleich durch. Kann ich vielleicht eine Handynummer von dieser Frau Herolder bekommen und sie gleich anrufen?«
»Sie hat heute ihren freien Tag und ihr Mobiltelefon wahrscheinlich gar nicht eingeschaltet. Wenn Sie einfach morgen noch einmal anrufen würden.«
Es klackte, und eine weitere Münze rollte durch. Nelli machte eine Bewegung nach oben, war im Begriff, ihr letztes Geld einzuwerfen. Ihr Blick fiel auf die Bäckerei gegenüber.
»Hören Sie, es ist wirklich ganz wichtig. Bitte sagen Sie Frau Herolder, dass Nelli Prenz angerufen hat, es geht um den Serienmordfall am Gletscher, sie hat über einen Herrn Platzer Kontakt zu mir aufgenommen. Ich gebe Ihnen eine Nummer durch, unter der ich zu erreichen bin, wenn Sie nur ein paar Sekunden warten würden.«
Nelli ließ den Hörer baumeln und rannte zwischen hupenden Autos hindurch über die Kreuzung zur Bäckerei. Die Verkäuferin war gerade dabei, eine Pizzatasche über die Theke zu reichen. Der Kunde hielt sein Geld bereit.
»Entschuldigung«, rief Nelli außer Atem und legte mit einem lauten Klirren ihre letzten Münzen auf die Glastheke. »Ich habe eine ungewöhnliche Bitte. Ich erwarte einen dringenden Anruf, aber habe kein Handy. Das Geld ist für Sie, wenn Sie mir Ihre Handynummer verraten, damit ich die als Kontaktmöglichkeit ...«
»Aber ich habe gar kein Handy«, sagte die Frau freundlich, während sie das Geld des Kunden entgegennahm und Nellis Geld wieder von sich schob.
»Oder die Nummer der Bäckerei hier?«, setzte Nelli nach.
»Ich hätte ein Handy«, mischte sich der Kunde ein, sah sie an und biss in seine Pizzatasche. Es war ein junger Kerl in halblangen grauen Hosen und weißem T-Shirt. Ein Socken war hochgezogen, der andere hing ausgeleiert herunter.
Nelli packte ihn am Arm, rannte los und zog ihn hinter sich her.
»Kau schnell runter«, befahl sie beim Laufen. »Ich gebe dir jetzt gleich eine Frau, der sagst du deine Nummer durch.«
»He, Ihr Geld«, hörte sie hinter sich die Verkäuferin rufen.
Nelli beachtete sie nicht, zerrte den jungen Mann aus dem Laden heraus und über die Straße. An der Telefonstele gab sie ihm den Hörer.
»Hallo«, sagte er, »ich soll Ihnen meine ... Hallo?«
Er zuckte mit den Schultern und nahm den Hörer vom Ohr.
»Da ist niemand dran.«
Nelli starrte ihn an.
Aus und vorbei.
Ein Schwall Tränen schoss ihr in die Augen.
Auch das noch!
Sie schniefte, räusperte sich und drehte sich halb weg, um sich die Augen abzuwischen.
Bin ich schon so mit den Nerven runter, dass ich beim kleinsten Anlass heule? Jetzt bloß kein Dammbruch!
Sie schluckte, kämpfte dagegen an, zwang sich, an etwas anderes zu denken, vorwärts zu denken. Nach Lösungen zu suchen. Für alles gab es eine Lösung, immer.
»Kann ich jetzt einhängen?«, fragte der junge Mann.
»Ja, klar, entschuldige«, antwortete Nelli und räusperte gegen ihre kratzige Stimme an.
»Das war wohl sehr wichtig?«
Die Frage war so dumm, dass Nelli nicht wusste, ob sie lachen oder eine giftige Bemerkung machen sollte. Aber es war mitfühlend gemeint, und deshalb nickte sie nur und schenkte ihm ein kleines Lächeln, während er einhängte.
»Aber wenn Sie dort angerufen haben, müssten Sie doch die Nummer wissen?«
»Die Nummer schon, aber kein Geld mehr.«
Ihre letzten Münzen fielen ihr ein. Kam es noch drauf an, sich die zurückzuholen? Für eine letzte kleine Mahlzeit würde das Geld reichen. Danach war betteln angesagt.
»Sind Sie so eine Art Weltenbummlerin?«, fragte der junge Mann und starrte auf ihr bepacktes Fahrrad.
»Ja. Ja, kann man sagen.«
»Und wo waren Sie überall? Auch im Ausland?«
»Überall, ja.«
»Weltweit?«
»So ziemlich.«
»Wow. Also ... ich könnte Ihnen doch mein Handy geben, wenn es so wichtig ist.«
Nelli, die in Gedanken versunken gewesen war und ziemlich widerwillig geantwortet hatte, schaute ihn an und lächelte.
»Das ist lieb von dir, aber es handelt sich um ein Ferngespräch, und ich könnte dir das im Moment nicht ...«
»Ist doch egal.«
Er zog sein Handy aus der Hosentasche und hielt es ihr hin. Nelli zögerte.
»Na ja, also, wenn alles klappt, dann kann ich es dir vielleicht doch zurückzahlen, wenn auch erst in ein paar Tagen.«
»Alles klar.«
Sie nahm das Handy entgegen und starrte auf die winzige Tastatur.
»Was muss ich jetzt ...«
Der junge Mann hatte gerade den letzten Bissen Pizzatasche in den Mund gestopft und sagte kauend: »Einfach wählen. Zeigen Sie mal her. Ist das im Ausland?«
»Nein, München, aber, wie gesagt, sobald ich Geld habe ...«
»Kein Problem. Hier bitte.«
Nelli lauschte dem Freizeichen, räusperte sich.
»Ja, hier ist noch mal Nelli Prenz. Sie haben leider aufgelegt, bevor ich Ihnen eine Nummer durchgeben konnte, unter der mich Frau Herolder jetzt erreichen kann. Ja, ich bin die Gletscherfrau. Aber es müsste gleich sein. Moment mal.«
Nelli wandte sich an den jungen Mann.
»Wie ist deine Handynummer?«
Er nannte ihr häppchenweise eine Zahlenreihe, und Nelli wiederholte sie für die Frau am Telefon.
»Und, wie gesagt, sie möchte mich bitte umgehend ... Was, ja, das haben Sie, aber ... Nein, morgen ist zu spät, weil ... Hallo? Hallo!«
»Probleme?«, fragte der junge Mann flüsternd.
Nelli gab ihm sein Handy zurück und schüttelte den Kopf.
»Schon gut. Pass auf, äh ... Wie heißt du überhaupt?«
»Rolf.«
»Pass auf Rolf ... Ich bin übrigens Nelli.«
Sie schüttelten sich die Hände, und Nelli hatte ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber beim Gedanken daran, wo ihre Hand vor kurzem herumgewühlt hatte. Aber, was er nicht wußte ...
»Du bekommst wahrscheinlich morgen einen Anruf von einer Frau Herolder. Bitte lass dir ihre Handynummer geben und hinterlege sie mir bei der Verkäuferin. Würdest du das machen?«
»Klar. Aber Sie haben doch kein Geld mehr zum Telefonieren, dachte ich ...«
»Ja, aber ... Bis morgen fällt mir schon was ein. Ich zeig mich erkenntlich, versprochen.«
»Schon gut.«
»Also dann.«
»Wollen Sie sich nicht wenigstens Ihr Geld zurückholen?«
Er zeigte mit dem Kopf zur Bäckerei.
»Ja, klar. Du kannst mich übrigens auch duzen, so alt, wie ich aussehe, bin ich noch nicht.«
Sie wollte es scherzhaft rüberbringen, aber er nickte nur, und Nelli deutete seinen Blick als mitleidig. Zum Teufel damit.
»Was hat das eigentlich zu bedeuten: die Gletscherfrau ...?«
»Was? Ach, das war nur, das ist ... eine lange Geschichte.«
»Ist Ihnen was Schlimmes passiert?«
Nelli schaute ihn an. Sie konnte nicht anders, sie musste lächeln. Das war wieder so eine einfältige Frage, die sie in Rage gebracht hätte, wäre da nicht sein rührend treuherziger Blick dazu gewesen.
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte Nelli.
»22. In zwei Wochen.«
Sie nickte und fühlte so etwas wie Beschützerinstinkte erwachen. Der junge Kerl wirkte so hilflos – eher wie ein kleiner Bub als der erwachsene Mann, der er ja eigentlich schon war.
»Ja, mir ist viel Schlimmes passiert, Rolf. Aber auch, wenn ich so aussehe, ich bin eigentlich keine Landstreicherin. So zu leben, das war eine bewusste Entscheidung, weißt du, zumindest war ich nicht gezwungen ...«
Was sollte das denn? Ist es jetzt schon so weit, dass du dich vor fremden Leuten ungefragt rechtfertigst?
Tatsächlich ertappte sich Nelli dabei, dass sie sich vor ihm für ihr Auftreten schämte. Wie sie wohl riechen mochte mit ihrem Abfallbehälter-Arm – nicht auszudenken!
»Möchten Sie darüber reden? Ich lade Sie zu einem Kaffee ein.«
Nelli schaute ihn an und lachte.
»Was?«
Er lachte zurück.
»Warum nicht?«
Nelli stutzte. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass da etwas nicht stimmte. Sein Lachen wirkte nicht echt. Das freundliche Angebot war unangemessen und passte nicht zur Situation.
»Haben Sie Angst, ich will was von Ihnen?«
»Nein, aber ... das lassen wir lieber.«
»Sicher?«
Nelli nickte entschieden.
»Wie Sie möchten.«
»Aber danke. Für alles.«
»Machen Sies gut.«
Er hob den Arm, als wolle er sich mit Handschlag verabschieden, machte dann aber ein angedeutetes Winken aus der Geste und ging federnd davon. Nelli sah ihm nach, bis er rechts um die Ecke verschwunden war.
Reden. Darüber reden. Bei einem Kaffee. Über alles, was ihr passiert war. Nein, das mochte sie wirklich nicht.
Aber mit der Klatschzeitungsfrau würde sie es müssen. Vielleicht gab es doch noch eine andere Lösung, zu Geld zu kommen.