Читать книгу Tiefpunkt - Thriller - Manfred Kohler - Страница 14
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ОглавлениеDer Vertrag war fünf Seiten lang und in winziger Schrift gedruckt. Nelli schaute flüchtig drüber, wollte schon den Stift an der gestrichelten Linie für die Unterschrift ansetzen, zögerte aber und suchte den Blick der Reporterin. Die beiden saßen in Fiona Herolders Büro, allein und ohne Interesse irgendwelcher hohen Tiere des Verlages. Nelli hatte sich ursprünglich deshalb nicht in der Redaktion treffen wollen, weil sie an ein Großraumbüro und gaffende Blicke gedacht hatte. Dieses Zimmerchen aber war genau das Gegenteil – vom Zigarettenrauch abgesehen, fühlte sie sich sogar wohl in dem kleinen, nett eingerichteten Raum, in dem nur der PC auf dem Tisch an ein Büro erinnerte. Ein Wiesenblumenstrauß neben dem Bildschirm, kleine Glasfigürchen, Kaffeekanne aus edlem Porzellan ... Das alles passte so gar nicht zum Military-Style der Herolder, die an diesem Tag zu ihrer Heeresmütze auch noch ein T-Shirt mit grünbraunen Tarnflecken trug, dazu einen schwarzen engen Rock.
Nelli schob den Vertrag ein Stück zur Seite und suchte im Gesicht der Frau gegenüber nach irgendeinem Grund, ihre Unterschrift nicht zu leisten. Was sie sah, war geduldige Freundlichkeit und eine qualmende Zigarette. Die Herolder zwinkerte, aber das kam wahrscheinlich vom Rauch.
»Was wissen Sie eigentlich über meine Reise und das ... äh, was mir am Gletscher passiert ist?«
»Nicht viel. Sonst bräuchte es diesen Vertrag hier nicht.«
»Wieso?«
»Weil die Story dann längst im Blatt gewesen wäre.«
»Heißt das, Sie hätten einfach so irgendwas geschrieben, ohne mit mir zu sprechen, wenn Sie von dritter Seite nur genug Fakten geliefert bekommen hätten.«
»Klar. Solange es keinen Ansatz für eine Persönlichkeitsrechtsklage gibt.«
»Aber ... wenn jetzt das, was ich zu erzählen habe, ich meine ... wenn Sie enttäuscht sind und Ihre Leser das alles gar nicht interessiert, was ich erlebt habe?«
»Ich verpacke das schon interessant genug.«
»Und wenn nicht mal das hilft?«
Die Herolder lächelte wissend.
»Ich habe aus zuverlässiger Quelle die Gewähr, dass Ihre Story über die Maßen gut ist. Ich bin richtig heiß drauf, Baby.«
Nelli verzog angewidert den Mund und verkniff sich eine Frage nach diesen ominösen Quellen. Sie rückte ihren Stuhl zurecht.
»Worauf ich hinauswill: Wenn wider Erwarten doch alles in die Grütze geht – muss ich dann das Geld zurückzahlen?«
»Die Story IST gut.«
»Steht da irgendwas drin zu dem Thema?«
Nelli tippte auf den Vertrag.
»Was?«
»Irgendein Rücktrittsrecht Ihrerseits?«
Die Herolder spitzte die Lippen, räusperte sich und murmelte: »Sie geben einfach keine Ruhe, wie? Vertragspunkt 7, Absatz 11, irgendwo da ...«
Nelli suchte mit dem Finger die Stelle und las leise: »... bleiben die Verkaufszahlen hinter den Erwartungen zurück (Steigerungsraten kleiner gleich fünf Prozent), dann obliegt es dem Verlag, die Serie und alle fortlaufend damit verbundenen Zahlungen einzustellen.«
Nelli schaute hoch.
»Ist doch nur fair«, meinte die Herolder zwinkernd.
»Also, Moment mal ... – heißt das, ich bekomme das Geld gar nicht auf einmal?«
Die Reporterin schüttelte den Kopf, griff nach ihrer Zigarettenpackung und tat überrascht.
»Natürlich nicht. Wir kaufen doch nicht die Katze im Sack.«
»Wie sind die Konditionen?«
»Sie können doch lesen, oder?«
»Ich wills von Ihnen hören.«
»10 Teile sind geplant, für jeden erschienen Teil gibt es 10.000, den Rest bei erfolgreichem Abschluss.«
»Will heißen?«
»Wenn der letzte Teil auf dem Markt ist und es sich für den Verlag gelohnt hat, bekommen Sie den vereinbarten Betrag.«
Nelli zögerte.
»Soll ich Ihnen den Vertrag vielleicht Wort für Wort vorlesen«, fragte die Herolder spöttisch. »Oder wollen Sie einen Rechtsexperten hinzuziehen?«
»Schon gut.«
Mit schnellen, eckigen Handbewegungen unterschrieb Nelli die beiden Kopien des Vertrages. Die Herolder hatte die Augen geschlossen gehabt, griff aber sofort als Nelli fertig war über den Tisch, schnappte sich ihre Kopie, legte sie in ein Schubfach, drehte den Schlüssel um, zog ihn ab und steckte ihn in ihre Handtasche. Sie wirkte so erleichtert und überschwänglich begeistert, dass Nelli erstaunt lächelte und fragte:
»Was war denn das für ne Show?«
»Das, Schätzchen, war der Deal meines Lebens. Aber jetzt an die Arbeit.«
Sie holte ein Diktiergerät aus einem Schubfach, stellte es vor Nelli auf und drückte die Aufnahmetaste. Nelli betätigte umgehend die Stopptaste.
»Was ist hier los?«
»Nix ist los. Sie haben einen Vertrag unterschrieben, jetzt geht es darum, ihn zu erfüllen.«
»Sie verschweigen mir doch was?«
»Verschweigen ist Teil meines Jobs. Verschweigen und enthüllen, beides in der richtigen Dosierung und Anordnung.«
Nelli drehte genervt den Kopf zur Seite. Die Herolder beugte sich vor, langte zu ihr herüber, betatschte mit kalt-feuchten Fingern ihre Hand und sagte fröhlich: »Sie haben ein gutes Geschäft gemacht, Nelli. Denken Sie dran, was Sie mit dem Geld alles anfangen können. Wenn Sies geschickt anstellen, dann haben Sie ausgesorgt.«
Nelli zog ihre Hand weg.
»Schon gut, ich brauch keine Vermögensberatung. Wie gehts jetzt weiter?«
Die Herolder drückte die Aufnahmetaste, lehnte sich zufrieden lächelnd zurück und sagte: »Jetzt erzählen Sie mir der Reihe nach und schön langsam und detailliert Ihre Geschichte.«
Und Nelli erzählte. Am Anfang ging es stockend, vor allem weil der Anfang eine Wunde war, die noch immer wehtat, aber kaum ging es um die Reise selbst, fielen ihr mehr und mehr große und kleine Ereignisse und Begebenheiten ein, es begann zu fließen und ihr Spaß zu machen, fast war es eine Befreiung. Und es spielte keine Rolle, dass sie ihre Erlebnisse einer Frau anvertraute, die sie weder besonders mochte noch ihr ansatzweise über den Weg traute. Es war wie Tagebuchschreiben hoch zwei. Es war wie Tagebuchschreiben vor der Begegnung mit Andi.
»Brauchen Sie eine Pause?«, fragte die Herolder, als es auf Mittag zuging und drei der kleinen Tonbänder vollgesprochen waren. Nelli schüttelte den Kopf. Sie war jetzt mittendrin, ihr Abenteuer war wieder lebendig geworden, und sie hatte Angst, den Faden zu verlieren, wenn sie abgelenkt wurde.
»Aber ich«, brummte die Reporterin, nahm das Diktiergerät und verschloss es in der Schublade, in der auch der Vertrag ruhte. »Und wenns nur ne Kaffeepause ist.«
»Haben Sie irgendwas?«, fragte Nelli, der schon beim Erzählen aufgefallen war, dass ihr Gegenüber immer lustloser und mürrischer geworden war und mit der Zeit ganz aufgehört hatte, Fragen zu stellen.
»Wenn Sies genau wissen wollen: So besonders toll war das bisher nicht.«
»Was?! Wie bitte?«
»Schon gut, nach der Pause kommen wir zum interessanten Teil.«
»Zum Gletscher? Das einzig Interessante ist für Sie dieser einzige Tag einer siebenjährigen Weltreise per Fahrrad?«
»Ganz genau.«
»Aber ...«
»Nix aber. Weltreisen macht heutzutage jeder Studienrat in seinem Sabbatjahr, zu Fuß, auf dem Pferd, auf Rollschuhen oder per Purzelbaum – das juckt keine alte Sau mehr. Ich will das, was zwischen Ihnen und dem Killer war, und zwar in Zeitlupe, Szene für Szene, Gedanke für Gedanke, Wort für Wort und garniert mit jedem noch so kleinen Fünkchen Angst und Panik, die Ihnen in dieser Nacht durch den Kopf gegangen sind. Wenn Sie sich in den Schlüpfer gepinkelt haben, dann will ich genau wissen, wie sich das angefühlt hat, und wenn dieser Andi Sie dabei beobachtet und es Ihnen angesehen hat, dann will ich wissen, wie sein Gesichtsausdruck war und was Sie dabei gefühlt haben und wie er darauf reagiert hat und so weiter. En miniature, alles klar?«
Nellis Begeisterung war augenblicklich auf den Nullpunkt gesunken. Ihr wurde klar, dass sie ihre Reise so detailliert und durchaus langatmig erzählt hatte, um diese letzte und grässlichste Episode ihrer Rückkehr so lang wie nur möglich hinauszuschieben.
Aber auch das musste erzählt werden. Vielleicht war es sogar in Ihrem eigensten Interesse, psychologisch und nicht nur finanziell gesehen, es zu erzählen und nichts auszulassen. Es gerade einer Frau wie dieser Herolder zu erzählen, die es dann mit Karacho in die Welt hinauspustete, würde das Grauen vielleicht hinreichend banalisieren, ihm die Singularität nehmen, es herunterbrechen, in kleine Häppchen zerkaut verdaubar machen und die seelische Verstopfung lösen. Wer weiß.
Als sie es hinter sich gebracht hatte, fühlte sich Nelli einfach nur leer und müde. Sie ließ sich quer auf das Doppelbett ihres Hotelzimmers fallen und starrte die in kleine Quadratplatten aufgeteilte Gipsdecke an.
Nun also, wars das? Konnte sie jetzt das Geld in Empfang nehmen und neu anfangen? War ein Neuanfang überhaupt ein Vorgang, der sich in einem Augenblick vollzog: Heute ist alles wie immer – morgen, nach vollzogenem Neuanfang, ist es ganz anders?
Wohl eher nicht. Schon gar nicht mit all dem Ballast, den man so hinter sich herschleifte.
Oder ließ auch der sich abschneiden wie ein alter Zopf?
Nelli wälzte sich auf dem Bett herum und streckte sich nach dem Telefon. Auch Telefon-, Fernseh- und Videogebühren gingen auf Verlagskosten, sie hatte am Vortag beim Einchecken an der Rezeption nachgefragt. Minibar inklusive, hatte der Concierge augenzwinkernd ergänzt.
Das Einchecken. Eigentlich war das bereits ihr Neuanfang gewesen. Genüsslich dachte Nelli an diesen Moment zurück, während sie Ruftöne zählte und nach dem 10ten auflegte. Monika war noch immer nicht zurück. Was sollte es. Das war abgelegt und Vergangenheit. Jetzt endgültig. Monika lebt ihr Leben, ich meines.
Das Einchecken.
Es hatte sie niemand, wie erwartet, schief angeschaut, die Nase gerümpft oder gar Bemerkungen gemacht. Das Empfehlungskärtchen des Verlages hatte Wunder gewirkt. Nelli war zurück in der Gesellschaft, vielleicht war es das, was das Gefühl von Wohlbefinden ausgelöst hatte. Sie war in keinem Hotel mehr gewesen, seit ... – während der sieben Jahre unterwegs jedenfalls nicht, und davor? Das musste gewesen sein, bevor ihr Mann krank geworden war, vor acht oder noch mehr Jahren. Sie hatte es immer genossen, sich um nichts kümmern zu müssen und sich so richtig verwöhnen zu lassen, und sie hatte beschlossen, es auch jetzt uneingeschränkt zu genießen, das Wohnen ohne Nebenerscheinungen: Kein Aufräumen, Putzen, Kochen, was sie in ihrer Zeit als reich-verheiratete Frau sowieso nie gemacht hatte. Im Vergleich zum Touren-Alltag kein Zeltauf- und Zeltabbau, kein Lagerfeuerschüren, irgendwas brutzeln, Töpfe danach im kalten Bach auswaschen und die Fettkrusten mit dem Fingernagel abkratzen, kein Frieren, kein Schwitzen, keine Mücken – dafür Wohlbefinden rundum. Wie sie das genoss! Alles immer warm, Dusche und WC nebenan, weiches Bett, Fernseher. Wie im Rausch hatte sie den Abend davor herumgezappt und die Minibar geplündert. Erst beim Schlafengehen war ihr aufgefallen, dass sie es versäumt hatte, den Wellnessbereich auszuprobieren.
Heute würde sie das nachholen. Der Neuanfang musste nicht abgewartet werden, er war schon eingetreten. Die Müdigkeit und Leere waren verflogen. Bester Laune schlurfte Nelli ins Bad, packte Bademantel, Handtücher, Duschgel zusammen, eine Auswahl wie im Schlaraffenland war das, und machte sich auf zum Fahrstuhl und hinunter in die paradiesische Wellnessoase des Luxushotels. In der Hölle eingeschlafen, im Himmel erwacht. Andi ade. Es begann die Nach-Monika-, die Nach-Andi-Ära. Die Nach-Flucht-Ära. Es brach, hoffentlich, die Nelli-findet-Nelli-Ära an.