Читать книгу Tiefpunkt - Thriller - Manfred Kohler - Страница 9
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ОглавлениеSo lustlos wie noch nie erledigte Nelli ihre allabendlichen Verrichtungen, packte das Zelt aus, stellte es auf, rollte ihren Schlafsack darin aus, gruppierte Feldsteine zu einem kleinen Kreis, baute ihren Campinghocker davor auf, suchte halbwegs trockenes Holz zusammen, entzündete es mit einem Spritzer Spiritus ...
Der Spiritus war reiner Luxus. Sie würde lernen müssen, ihr Lagerfeuer billiger zu entfachen, mit trockenem Gras und Ästchen oder alten Zeitungsresten aus Abfalleimern. Und sie würde von Mineralwasser umsteigen müssen auf Wasser aus dem nächstbesten Bach.
Nelli hockte sich auf ihren Campingstuhl, biss in eine Bifi und ein Brötchen, starrte ins Feuer, zog ihren Bauchbeutel unter dem T-Shirt hervor und zählte ihr Geld. Von ihren letzten 20 Euro waren 8,87 Euro übrig geblieben, seit sie auf dem Weg aus Hof heraus in einem Großkaufhaus Station gemacht und sich ein paar Äpfel, zwei Dosen Gulasch, Brot und Bifis, Klopapier und ein neues Feuerzeug gekauft hatte. Auch da war Sparpotential. Altes Brot statt frisches. Schnittsalami statt Bifi. Blätter statt Klopapier.
Das war doch verrückt! Nicht nur, dass sie am Morgen voller Zuversicht auf zukunftsweisende Ideen und Entscheidungen Richtung Süden aufgebrochen, 10 Kilometer gefahren war, aber jetzt am Abend plötzlich genau in der Gegenrichtung 20 Kilometer nördlich von Hof jenseits der ehemaligen Grenze an einem Feldweg zwischen Fichtenforst und Stoppelacker campierte; nicht nur, dass sie die Aussprache mit Monika erledigt, ihr altes Leben besiegelt und sich frei und offen für einen Neuanfang gewähnt hatte, sich jetzt aber mit der Situation konfrontiert sah, dass ihre Stieftochter ihren Besuch scheinbar überhaupt nicht verkraftet hatte, sondern aufgewühlt und aufgelöst davongelaufen war an einen unbekannten Ort und Nelli in diesem Zusammenhang eine Todesdrohung ihrer Schwägerin zu hören bekommen hatte; nicht nur, dass sie jetzt überhaupt nicht mehr weiter wusste, sich in jeder Hinsicht verrannt hatte – der Tag hatte einfach alles in ihr umgekrempelt. Sie hatte sich so sicher gefühlt vor ihrer Begegnung mit Andi und auch wieder danach. Jetzt aber ... unglaublich, sie hatte Angst vor der Dunkelheit! Den ganzen Tag über hatte sie sich um Monika gesorgt, die mit einem festen Wohnsitz, in Hof oder wo auch immer, von einem Irren wie Andi leicht auszumachen wäre und dann in ihrem Haus in der Falle säße – sie selbst dagegen, irgendwo im Nirgendwo, Adresse unbekannt, wer konnte ihr da schon gefährlich werden?
Von wegen! Wenn dieser Jemand ihr schon auf den Fersen war, dann war sie nirgendwo gefährdeter als hier abseits der Hauptstraße allein und ungeschützt auf sich selbst gestellt. Die Panik des Ausgeliefertseins kam mit einer solchen Wucht, dass Nelli ihr Lagerfeuer mit dem teuren Mineralwasser löschte, die Glut in Grund und Boden stampfte, bis kein Fünkchen mehr glomm, das Zelt hastig in den Wald verlegte, mit Ästen tarnte und sich davor hockte, Wache schob, aufs kleinste Geräusch lauerte und schließlich im Schneidersitz einnickte. Jemand wie ich, dachte sie noch, bevor sie weg war, jemand, der das erlebt hat, was ich durchzumachen hatte, müsste eigentlich psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Aber das geht nicht bei einer - Landstreicherin. Ich bin eine ... Bin ich eine? Es war das erste Mal, dass Nelli sich in der Rolle sah, die mit diesem Begriff verbunden wurde. Pleite, ziellos und ausgestoßen. Noch bettelte sie nicht. Aber davon war sie nicht sehr weit entfernt.
Völlig unterkühlt schreckte sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Hatte da nicht ein Ast geknackt, direkt neben ihr?
Es war stockfinster. Sie begann zu zittern. Ihr T-Shirt war über den Schultern feucht vom Tau, ein heftiger Kälteschmerz zog über den Hals bis tief in den Hinterkopf. Sie hatte dieses Leben so satt!
Ganz zwangsläufig, so sehr sie sich auch dagegen sträubte, kehrten ihre Gedanken immer wieder zu dem Haus am Millionenhügel zurück. All die Jahre, die sie dort gelebt hatte in Geborgenheit, Reichtum, Luxus, Sicherheit – und in der Gewissheit, dass die Zukunft nie anders sein würde.
Von wegen! Alles konnte so schnell zerplatzen.
Aber man konnte auch neu anfangen, immer wieder. Daran hatte sie fest geglaubt. Man musste nur die Chancen wahrnehmen, die sich boten – auch wenn sie einem auf den ersten Blick nicht gefielen.
Zitternd und mit zähen Bewegungen drückte sich Nelli aus dem Schneidersitz hoch, tastete nach ihren Satteltaschen, zerrte ihr Sweatshirt hervor und streifte es über. Sie kroch ins Zelt, steckte sich in ihren Schlafsack, zog die Kapuze über den Kopf und fest um sich zusammen. Das Zittern ließ nach, aber es wurde ihr nicht wärmer, die Füße blieben eiskalt. Wirklich, ein Scheißleben war das. Wie hatte ihr das je gefallen können?
Nelli dachte an jene Nacht in Andis Gewalt, als sie damit gerechnet hatte, den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr zu erleben. Ihr karges und armes, einsames aber freies Leben hatte ihr so viel bedeutet, eine solche Sehnsucht nach dem nächsten Sonnenaufgang hatte sie gehabt in ihrer Todesangst, eine Gier nach Leben.
Aber jetzt, da sie das Heißersehnte zurückbekommen hatte, konnte sie nichts mehr damit anfangen. Verrückt war das. Da lag sie, mit offenen Augen ins Leere starrend im Bewusstseinszustand einer Nacktschnecke und verfolgend, wie aus Dunkelheit erste Dämmerung wurde, ein Anflug von Helligkeit, ein Schimmer des ersten Sonnenrandes am Horizont, da lag sie und konnte dem Tag, der da anbrach, keinen Sinn mehr abgewinnen. So viel Zeit, so viele Möglichkeiten und zugleich Einschränkungen, so viel Leben – was nur anstellen damit?
Na, was wohl? Als ob das überhaupt eine Frage wäre! Wie zur Bestätigung begann draußen um das Zelt herum das Geraschel der Frühaufsteher unter den Waldtieren. Die taten zielgerichtet das, was notwendig war, sie warteten nicht auf Fütterung, sondern suchten nach Nahrung, und zwar dort, wo sie waren, und sie nahmen das, was sie kriegen konnten. Wasser fließt nach unten ab. Schwimmen gegen den Strom, die eigenen Ideale hochhalten – diesen idealistischen Mist konnte man sich leisten, wenn der Magen nicht knurrte. Nelli wusste, was sie zu tun hatte. Sie kroch aus dem Schlafsack, zog den Reißverschluss des Zeltausgangs auf und schaute zwinkernd hinaus in den Sonnenaufgang.