Читать книгу Tiefpunkt - Thriller - Manfred Kohler - Страница 8

3

Оглавление

Nelli ließ die Räder bergab rollen, am Eisteich vorbei Richtung Stadtzentrum, und hielt die Augen nach einem öffentlichen Telefon offen. An der Michaelisbrücke fiel ihr eine Veränderung auf, die ihr neu war, schon auf dem Herweg hatte sie nicht recht begriffen, was das sollte: Irgendjemand hatte am Saaleufer eine Riesenansammlung kunterbunter Schilder an Holzpfähle geschraubt – der reinste Irrgarten war das. Ein solches Sammelsurium ließ sich nicht in ein paar Wochen zusammentragen. Das Schilder-Durcheinander weckte ein Bild in Nelli, einen ersten Ansatz von Begreifen, wie verstreichende Zeit, sichtbare Veränderungen und sich anreichernde Eindrücke miteinander in Zusammenhang stehen. Sie hätte das aufschreiben müssen, um es greifbar zu machen, hätte ... – was soll das, Nelli? Nicht abschweifen, nicht philosophieren. Suchen.

Aber ein Telefon war hier nirgends zu sehen.

Nelli bog an der nächsten Ampelkreuzung links ab, strampelte die Ludwigstraße hoch Richtung Rathaus und daran vorbei zur Altstadt. Spätestens an der Stadtpost würde sie telefonieren können. Sie hielt Ausschau und duckte sich zugleich vor möglichen Bekannten von früher. Sie erkannte die meisten der Geschäfte ringsum, glaubte sich zurückversetzt in frühere Zeiten und fühlte sich zugleich fremd in der Stadt, in der sie aufgewachsen war und ihr ganzes Leben verbracht hatte – bis auf die zurückliegenden sieben Jahre. Sieben Jahre, das war doch eigentlich gar nicht so lang, oder? Ein 10tel Leben, ein langes Studium, eine durchschnittliche Ehe.

Am Postplatz angekommen, lehnte sie ihr Fahrrad an eine der beiden Telefonstelen und fischte ihren Bauchbeutel unter dem T-Shirt hervor. Ach ja, das Kleingeld war aufgebraucht. Nur noch zwei Scheine: ein 10er und ein 20er. Der 10er musste reichen.

Schräg gegenüber des Hauptpostgebäudes sah sie eine Bäckerei. Der Gedanke an Kuchen und Torten verursachte in Nellis Magen ein schmerzhaftes Ziehen. Aber sie hatte ihre Prioritäten. Prioritäten waren wichtig bei einem Leben, wie sie es führte. Erst der Telefonanruf. Dann ein ruhiges Plätzchen zum Nachdenken. Und dann entscheiden, wie es weitergehen würde. Erst danach, vielleicht, was zu essen. Sie überquerte die Kreuzung und betrat den Laden.

»Können Sie bitte wechseln?«

Die Verkäuferin schaute sie leicht genervt, aber nicht unfreundlich an, wollte eigentlich ablehnen, aber offenbar war Nellis Anblick mitleiderregend genug, um ihr zu helfen. Auf Anstehen am Postschalter hätte sie jetzt keine Lust gehabt, und wer weiß, ob die am Schalter so gerne wechselten, ohne dass jemand Briefmarken kaufte.

»Wenn möglich in 50ern, bitte«, sagte Nelli.

Die Frau gab ihr eine Handvoll Münzen, Nelli hätte zu gerne etwas gekauft, aber im Moment konnte sie auf keinen Cent verzichten. Wenn vom Telefonieren was übrig blieb, würde sie vielleicht die Prioritäten ändern und sich ein Nougathörnchen genehmigen, bevor sie über ihre Zukunft nachdachte.

Zurück an den Stelen, steckte sie vier 50er in den Schlitz des Telefonapparates, zog den Supermarktkassenzettel mit der Nummer des Polizisten der Wiener Spezialeinheit heraus, tippte die Vorwahl von Österreich ein und den ganzen langen Rest. Hoffentlich war er gleich am Apparat.

Besetzt.

Die Münzen klimperten durch den Apparat in den Auffangkasten, Nelli entnahm sie, steckte sie gleich zurück und tippte die Zahlenkolonne noch einmal.

Diesmal ertönte das Freizeichen.

»Platzer«, meldete sich mit deutlichem Akzent der Beamte, den sie damals am Gletscher, bei der Bergung von Andis Leiche, als kompetent und freundlich kennengelernt hatte und der sich am Morgen dieses Tages beim Anruf von Oberkotzau aus als das genaue Gegenteil erwiesen hatte. Gott sei Dank war er gleich dran. Es klimperte, als die ersten zwei 50er durchfielen. Nelli, die rechte Hand voller Kleingeld, warf sofort nach.

»Hier Nelli Prenz, hören Sie, ich hab nicht viel Zeit. Lassen Sie mich erst mal reden, okay.«

»Wenn Sie sich kurz fassen. Ich hab auch nicht viel Zeit.«

»Nach Ihrer Info von heute früh bin ich gleich noch mal umgekehrt, um meine Stieftochter zu warnen. Nur leider ist sie nicht da, und ihre Tante, also ihr bisheriger Vormund, wollte mir nicht sagen, wo sie ist. Ich finde, sie sollte wenigstens informiert werden, dass möglicherweise Gefahr droht, und ich denke auch, das ist das Mindeste, was Sie tun könnten. Sie haben doch ganz andere Möglichkeiten, eine Person ausfindig zu machen. Sie heißt, wie Sie wissen, Monika Prenz, und bei der Tante handelt es sich um Stefanie Holwagen, geborene Prenz. Ich schlage vor, dass Sie ...«

»Also, jetzt mal langsam. Vor was soll denn Ihre Stieftochter überhaupt gewarnt werden?«

»Vor was? Na, vor diesem Andi!«

»Frau Prenz, das ist doch ...«

»Nein, das ist nicht verrückt. Er ...«

»Er lebt nicht mehr. 100prozentig.«

»Dann hat jemand die Leiche gestohlen.«

»So sieht es aus.«

»Und wer Leichen von Massenmördern stiehlt ...«

Das Geld fiel durch. Nelli beeilte sich, Münzen nachzuschieben. Ihre Hand leerte sich.

»... der ist doch wohl genauso irre und zu allem fähig.«

Nelli hörte ein demonstratives Schnaufen.

»Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll, Frau Prenz. Aber sehen Sie nicht selbst ein, wie weit hergeholt das ist?«

»Ist es nicht. Wer immer das war, er hat was mit dem Fall zu tun oder will daran anknüpfen. Ich war Andis letztes Opfer, und hätte er mich umgebracht, hätte er sich als Nächstes Monika geholt. Ich finde, es ist bestimmt nicht übertrieben damit zu rechnen, dass dieser andere Typ nun da weiter machen könnte, wo Andi aufgehört hat.«

»Das ist sogar extrem übertrieben. Es wimmelt nämlich auf der Welt zum Glück nicht gerade von Serienmördern, und was mit Ihnen passiert ist, war zu dem Zeitpunkt ja noch gar nicht in der Öffentlichkeit bekannt.«

»Aber irgendjemand wusste es doch!«

Es ratterte in den Eingeweiden des Telefons. Nelli schob zwei weitere 50er nach. Jetzt hatte sie noch zwei.

»Ja, weil in den Ortschaften natürlich geplaudert wurde. Die Bergwachtmänner dort sind ganz liebe, tüchtige Jungs, aber leider auch bekannt dafür, dass sie ihren Mund nicht halten können.«

»Na und?«

»So makaber das ist, es handelt sich höchstwahrscheinlich um einen Streich oder eine Mutprobe. Halbstarke haben von dem Labyrinth im Gletscher gehört, sich Schneid angetrunken, sind mit ihren Mopeds den Berg hoch und haben die Leiche versteckt. Vielleicht hockt der tote Kerl zwei Gänge weiter ganz in der Nähe, und da hockt er vielleicht in 100 Jahren noch. Wir können nicht den ganzen verdammten Gletscher absuchen, zumal sich die betreffende Nische längst geschlossen haben könnte.«

»Also rufen Sie nun bei Stefanie an?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Dann können Sie aber ...«

Es ratterte. Nelli steckte ihre letzten Münzen in den Schlitz.

»Was?«

»... jegliche weitere Zeugenaussagen von mir vergessen. Ich lege auf und bin für immer verschwunden.«

Wieder ein Schnaufen, diesmal deutlich mehr wütend als genervt.

»Also geben Sie mir schon die Nummer.«

»Hab ich leider nicht, Sie müssten bitte die Auskunft anrufen. 09281 ist jedenfalls die Vorwahl von Hof.«

»Die Auskunft anrufen, ich hab ja sonst nichts zu tun.«

»Tut mir leid.«

»Aber dafür will ich jetzt eine Nummer von Ihnen.«

»Ich hab keine.«

»Dann schaffen Sie sich doch ein Handy an.«

»So weit kommts noch. Übernehmen Sie vielleicht die Kosten?«

Wieder dieses Schnaufen, diesmal eher belustigt.

»Sie werden sich doch wohl ein Handy leisten können.«

»Nein, kann ich nicht. Ich bin schlichtweg pleite. Die Krankenhauskosten haben meine letzten Reserven verbraucht.«

»Warten Sie ...«

»He!«

Nelli hörte es am anderen Ende rascheln.

»So, ich musste nur die Nummer suchen. Haben Sie was zum Schreiben?«

»Wozu?«

»Weil ich Ihnen schon heute früh was durchgeben wollte.«

»Was?«

»Eine Nummer, die Ihnen Geld bringen kann.«

Nelli wurde sofort hellhörig. Der Mangel an Geld war ihr akutes Hauptproblem. Erst wenn sie wusste, wie sie sich die nächsten Tage ernähren konnte, würde sie den Kopf frei haben, um über die eigentliche, zentrale Frage ihres Lebens nachdenken zu können: wie es nun nach Rückkehr, abgebrochenem Neuaufbruch und abermaliger Rückkehr weitergehen sollte. Einfach wieder ins Blaue zu radeln, so wie sie es heute Morgen noch vorgehabt hatte, war keine Lösung. Oder doch? Wie oft war die Lösung eines Problems unterwegs wie von selbst gekommen. Vielleicht war auch das eine solche spontane Lösung.

»Moment ...«

Nelli zerrte am Reißverschluss ihrer rechten Packtasche, griff hinein und ertastete einen ihrer Kugelschreiber.

»Also los.«

Nelli kritzelte eine Reihe von Zahlen auf den Kassenzettel unter die Nummer des Polizisten, dahinter den Namen Herolder, hielt beim Weiterschreiben inne und rief empört:

»Von was, wie heißt das Ding? Von Frau zu Frau? Das klingt mir verdammt nach einem Klatsch- und Tratschblatt!«

»Ist es auch. Eines der schlimmsten. Aber die bieten viel Geld für Ihre Story: 100.000 Euro.«

»100.000? Pfff ...«

»Und ich kann Ihnen sagen, da ist auch mehr drin, vielleicht viel mehr. Sie glauben nicht, was hier schon alles angerufen hat und Kontakt zu Ihnen wollte, Presse aus aller Herren Länder. Die Geschichte sickert jetzt erst so richtig durch, und Sie sind ja nicht irgendein Opfer, sondern haben diese nicht gerade alltägliche Vorgeschichte.«

»Trotzdem, das ... Aahhh – nein. Nein, ich kann doch nicht ... diese ganze scheußliche Geschichte. Wäre das denn ... Hallo?«

Die Verbindung war weg. Nelli hatte das Klicken nicht gehört. Sie nahm überhaupt nichts wahr, nicht den Verkehrslärm am Postplatz hinter sich, nicht die Hitze der prallen Mittagssonne.

100.000 Euro, das wäre mehr als sie bei Beginn ihrer siebenjährigen Fahrradweltreise gehabt hatte. Damit könnte sie für 10 weitere Jahre abhauen, mindestens, und was danach kam, würde sich schon zeigen.

Aber einer Klatschreporterin ihre Geschichte erzählen? Ihr Privatleben vor der Reise, ihre Reiseerlebnisse, die Horrornacht mit Andi in seiner einsamen Passwirtschaft am Gletscher. Die Schmerzen, die Todesangst. Der Zusammenbruch, der Dämmerzustand im Krankenhaus, die medikamentenbedingten Alb- und Wachträume. Die Schuldgefühle ...

Nelli störte nicht mal so sehr, dass ihre äußerst privaten Erlebnisse zur Grusel- und Rührstory verkitscht weltweit für Herzschmerz sorgen würden. Davon würde sie nichts mitbekommen. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, oder?

Aber Monika würde es mitbekommen.

Nein, undenkbar!

Nelli strich die Zahlenkolonnen und den Namen mit entschlossenen Kugelschreiberstrichen durch, knüllte den Zettel zusammen und warf ihn in den nächsten Abfallbehälter.

Entschlossen packte sie ihr Fahrrad und drehte es in Richtung Marienstraße und damit in Richtung Oberkotzau, Förmitztalsperre, Fichtelgebirge.

Einbahnstraße.

Na und?

Aber vielleicht ist das ein Zeichen.

Wohin dann, wenn nicht gen Süden? Richtung Schleizer Straße? Mal in den Norden, durch die neuen Bundesländer, an die Ostsee? Eine Fähre nehmen, vielleicht das Nordkap besuchen?

Der amerikanische Norden war schön gewesen, Alaska einfach ein Traum. Der europäische Norden reizte sie, vielleicht war das die innere Stimme, das Aufbruchssignal, auf das sie gewartet hatte.

Zögernd, gar nicht wie Aufbruch, aber doch sehr entschieden schob Nelli ihr Fahrrad bei Rot über den Zebrastreifen auf die andere Straßenseite, schwang sich auf den Sattel und ließ sich die Lessingstraße hinunter nach Norden rollen.

Tiefpunkt - Thriller

Подняться наверх