Читать книгу Tiefpunkt - Thriller - Manfred Kohler - Страница 11
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ОглавлениеAls Nelli am nächsten Morgen ihr Fahrrad neben der Bäckerei abstellte, um die Notiz mit der Telefonnummer der Reporterin Herolder abzuholen, erlebte sie eine Überraschung, die ihr gar nicht gefiel. Rolf stand da selbst mit einem zusammengefalteten Zettel in der Hand und grinste sie an.
»Stehst du da schon lange? Wir hatten doch gar nichts ausgemacht, schon gar keine Zeit«, begrüßte sie ihn nicht gerade freundlich.
»Hier, Ihr Geld«, sagte er fröhlich und streckte ihr seine Hand mit ein paar Münzen entgegen. »Die Verkäuferin hatte es zur Seite gelegt. Sie haben es sich gestern offenbar doch nicht mehr geholt.«
»Nein.«
Sie hatte es schlicht vergessen und erst abends wieder daran gedacht. Den ganzen Tag war sie kreuz und quer durch ihre Heimatstadt geradelt, war schließlich im Naherholungsgebiet Untreusee hängen geblieben, hatte sich selbst und ein paar Klamotten im See gewaschen und hatte nachgedacht über ihre Möglichkeiten. Man spazierte nicht einfach in irgendwelche Firmen und fragte nach Jobs. Schon gar nicht, wenn man so aussah wie sie. Man studierte Stellenangebote, schickte Bewerbungen, wurde eingeladen, machte sich schick dafür, zeigte sich von seiner besten Seite ... – ein wochen- und monatelanger Prozess, für den sie keine Zeit und kein Geld hatte. Alle Grübelei hatte sie schließlich zu einer einzigen letzten Möglichkeit geführt, die ihr blieb, wenn sie ihre Geschichte nicht verkaufen oder betteln gehen wollte: Sie musste zum Sozialamt. Musste sich registrieren, einen Wohnsitz zuweisen lassen und dann auf Vermittlung hoffen in irgendeinen Superbilligjob. Mittelmäßig-mieses Abitur, Soziologiestudium abgebrochen, reich geheiratet, Luxusleben geführt, danach ausgeflippt, jahrelang ziellos um die Welt geradelt und mit knapp 40 am Ende der Fahnenstange angelangt – das war ihr Lebenslauf. Tauglich für eine Karriere als Aushilfskraft. Oder sie konnte sich überwinden und ihre Geschichte erzählen.
»Nelli? Hier, Ihr Geld.«
Rolf streckte ihr noch immer die offene Hand mit Euro- und Centmünzen entgegen. Gedankenverloren pickte Nelli sie heraus und steckte sie ein.
»Du wolltest doch einen Zettel für mich hinterlegen«, sagte Nelli bemüht freundlich, aber dennoch deutlich vorwurfsvoll.
»Ich wollte aber mit Ihnen reden.«
»Worüber denn?«
»Über das, was Sie erlebt haben.«
Nelli schüttelte entschieden den Kopf.
»Ich bin dir sehr dankbar für alles, aber ich hätte jetzt gern den Zettel mit der Nummer. Diese Frau Herolder hat doch angerufen, oder?«
»Ja, hat sie.«
»Und?«
»Haben Sie schon gefrühstückt? Keine Sorge wegen Geld, ich lade Sie ein.«
»Nein.«
Er schnaufte tief ein und aus, legte sein Lächeln ebenso übergangslos ab wie sein treudoof-naivfreundliches Wesen und klang auf einmal wie jemand, der genau weiß, was er will, und bereit ist, es mit allen Mitteln durchzusetzen. Nelli fuhr es eiskalt den Rücken runter. Genau wie bei Andi. Dieses Nebeneinander, dieses unvermittelte Ein- und Ausschalten von Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft – in der einen Sekunde noch liebenswert, in der anderen knallhart. Nelli versteifte sich.
»Also, um es ganz offen zu sagen: Ich bin Journalistikstudent, und ...«
»Wie bitte!«
»Lassen Sie mich ausreden, okay!«
Seine Stimme war befehlend, er schaute ihr fest in die Augen.
»Hast du die Nummer für mich oder nicht?«, fragte Nelli leise.
»Hab ich.«
»Dann gib sie mir.«
»In einer Minute. Hören Sie mir nur zu, okay?«
»Eine Minute«, sagte Nelli entschieden. »Dann bin ich weg, ob du mir die Nummer gibst oder nicht.«
»Schon klar. Also, ich mache zur Zeit Praktikum. Ich weiß, wer Sie sind, ich habe von der Sache am Gletscher gehört. Und ich weiß, dass Sie Ihre Geschichte an diese Illustrierte verkaufen wollen.«
»Wirklich toll, was du alles weißt, aber die Minute ist um. Bekomme ich die Telefonnummer?«
Er zog einen Zettel aus der Hosentasche und hielt ihn Nelli so hin, dass sie ihn auch mit ausgestrecktem Arm nicht erreicht hätte.
»Ich will dabei sein.«
»Was?«
Nelli starrte ihn betont ungläubig an.
»Ich will in irgendeiner Form an der Story beteiligt werden.«
»Du willst Geld?«
»Nein. Ich will einen Fuß in die Tür bekommen. Hinter dieser Illustrierten steht ein großer Verlag, der auch seriöse Zeitungen herausgibt.«
»Du denkst doch nicht, dass ich dir da einen Job verschaffen kann, oder?«
»Nein, aber ich will bei Ihrer Story mitmachen, einfach nur zuhören dürfen, vielleicht auch was schreiben und denen auffallen. Wie schon gesagt, einen Fuß in die Tür bekommen.«
»Da hab ich doch überhaupt keinen Einfluss. Ich bin dir sehr dankbar für deine Hilfe, auch wenn sich das durch dein Verhalten heute schon wieder ziemlich relativiert hat, aber was du da verlangst ...«
»Stellen Sie mich als Ihren Assistenten vor. Oder einen weitläufigen Verwandten. Das ist doch wirklich nicht zu viel verlangt. Außerdem kann ich Ihnen sehr hilfreich sein.«
»Ach ja, wie denn?«
»Sie haben kein Geld. Ich hab auch nicht viel, aber ich hab ein Auto, ein Handy ...«
»Pfeif drauf, ich komm schon zurecht.«
»Und ich hab die Nummer.«
Er wedelte mit dem Zettel. Nelli schnaubte verächtlich, schüttelte den Kopf, nahm ihr Fahrrad vom Ständer und schob es in Richtung der Telefonstelen.
»Und was, wenn ich die Geschichte in einer anderen Zeitung bringe? Ich weiß genug. Und ich hab gestern heimlich ein Foto von Ihnen gemacht, wie Sie da bei den Telefonen herumstanden.«
Nelli drehte sich um.
»Du weißt gar nichts.«
»Ganz egal wie viel oder wenig ich weiß, aber wenn eine andere Zeitung was bringt, ist die Story nicht mehr exklusiv, und Sie können Ihren Geldsegen vergessen.«
»Das lasse ich gerne drauf ankommen.«
Sie stellte ihr Fahrrad ab, zog ihren zerknüllten, wieder geglätteten und jetzt sorgfältig gefalteten Zettel aus der Tasche und ihre letzten Münzen. Gerade noch genug, so hoffte sie zumindest, um dieser Frau Herolder mitzuteilen, dass sie für weitere Kontakte erst mal Geld zu schicken hatte. Rolf war ihr hinterher gedackelt und stand da jetzt schweigend mit hängenden Schultern. Auf einmal war er wieder der liebe, traurige, treudoofe Junge. Was war echt? Das jetzt? Die Münzen hatte sie nur durch ihn, wer weiß, ob die Verkäuferin sie ihr heute noch gegeben hätte.
Sein Blick sagte: Lass mich bitte nicht im Stich.
Das war doch lächerlich! Was man an einem Menschen versäumt hatte, konnte man nicht an einem anderen wieder gutmachen.
»Ich hab gar kein Praktikum«, sagte er leise. »Bevor ich Sie gestern getroffen habe, war ich bei mehreren Redaktionen, um mich zu bewerben, aber die haben zur Zeit keine Plätze frei. Als Trostpflaster für die Absage hab ich mir erst mal eine Pizzatasche gegönnt. So war das. Tut mir leid, dass ich mich so aufgespielt habe.«
Nelli wollte nicht, aber sie musste lächeln.
»Ich bin nicht gut darin, mich mit anderen Leuten abzugeben«, sagte sie, und wunderte sich selbst, wie versöhnlich ihre Stimme klang.
»Geben Sie mir ne Chance.«
»Oh Gott, ich, der chancenloseste Mensch auf Erden, werde um eine Chance gebeten«, seufzte sie laut und theatralisch, musste über sich selbst lachen, und er stimmte in das Lachen ein.
»Also, gib schon dein Handy her. Aber nur, wenn diese Frau Herolder damit einverstanden ist, okay? Ich brauch das Geld einfach zu dringend, als dass ich für dich auf Teufel komm raus was durchdrücken könnte.«
»Schon klar, das versteh ich. Es wäre schon toll, wenn Sies versuchen.«
Er gab ihr sein Handy und den Zettel, sie nahm beides entgegen, faltete das Papier auseinander, wählte und warf ihm dabei einen kurzen Seitenblick zu.
»Und hör endlich auf, mich zu siezen!«
»Alles klar.«
Als am anderen Ende abgenommen wurde, drehte sich Nelli halb zur Seite.
»Hallo?«, meldete sich eine hart klingende, akzentfreie Frauenstimme.
»Frau Herolder? Hier Nelli Prenz. Sie wissen vielleicht nicht ...«
»Frau Prenz«, fiel sie ihr ins Wort, »ich hab schon auf Ihren Anruf gewartet. Wie geht es Ihnen?«
Nelli ging sofort innerlich auf Distanz. Das war ihr einen Tick zu überschwänglich freundlich. Zumal man heraushörte, dass diese Frau sehr gezielt freundlich sein konnte, wenn es ihr von Nutzen war.
»Gut, danke. Der Herr Platzer ...«
»... hat meine Nachricht also ausgerichtet, das freut mich außerordentlich. Hören Sie, Nelli – ich darf Sie doch Nelli nennen?«
Nelli zögerte, denn sie hasste es, unterbrochen zu werden, und war bereits deutlich genervt von der Frau. Doch noch ehe sie antworten konnte, ging es schon weiter: »Ich heiße übrigens Fiona. Also, Nelli, was ich sagen wollte ...«
Was ist das nur, dass alle mich beim Vornamen nennen, fragte sich Nelli ärgerlich. Hab ich was von einem Streicheltier?
»Bevor Sie loslegen, möchte ich was Grundsätzliches klären«, ging sie dazwischen. »Ich rufe bei Ihnen an, weil ich Geld brauche, das ist der einzige Grund.«
Rolf verdrehte entsetzt die Augen. Nelli wendete ihm den Rücken zu.
»Wir brauchen also nur dann weiterzureden, wenn das mit den 150.000 Euro zutrifft.«
»Moment mal, von 100.000 war die Rede.«
»Das war Ihr erstes Angebot.«
»Bietet jemand anders Ihnen denn mehr?«
Die Stimme der Frau klang trotz des krassen Wechsels in die Preisverhandlung unverändert – einstudiert freundlich, ohne herzlich zu sein, hart, aber mit weichem Anstrich.
»Nein, aber ich biete Ihnen noch etwas, nämlich die Buchrechte.«
»He!«, hörte sie Rolfs Stimme hinter sich und spürte ihn an ihrem Ärmel zupfen. Sie riss sich los und machte einen Schritt zur Seite.
»Was soll das heißen?«, fragte Fiona Herolder mit konstant wohlwollender Stimme.
»Sie bekommen meine komplette Geschichte und dürfen sie in Ihrer Illustrierten veröffentlichen. Außerdem dürfen Sie das Ganze anschließend oder begleitend als Buch herausbringen. Was sagen Sie?«
»Klingt gut.«
»Dann gebe ich Ihnen mal meine Kontonummer.«
»Nicht so hastig. Sie denken doch nicht, dass ich Ihnen einfach so Geld überweise.«
»Natürlich nicht den vollen Betrag. Eine Anzahlung von 1.000 Euro für erste Spesen, dann können wir uns irgendwo treffen.«
»500 Euro. Und mehr, wenn ein schriftlicher Vertrag abgeschlossen wurde.«
»1.000 Euro, denn mein Konto ist restlos überzogen. Wenn Sie weniger als 1.000 überweisen, kann ich nichts abheben und kann folglich nicht zu einem Treffen kommen.«
»Also 1.000 Euro. Morgen um 15 Uhr in der Redaktion in München.«
»Ich komme, wenn das Geld da ist. Und ich komme nicht in irgendeine Redaktion.«
Die Reporterin antwortete erst nach einem ärgerlichen Schnaufer, und diesmal klang sie so, wie sie wahrscheinlich wirklich war – bar jeder Freundlichkeit.
»Ich hoffe, Ihre Geschichte ist so gut wie das, was ich aufgeschnappt habe.«
»Gut ist das falsche Wort. Haben Sie was zu schreiben?«
Nelli gab ihr die Nummer ihres Kontos durch und legte auf.
»He!«, rief Rolf abermals. »Und was ist mit mir?«
»Jetzt zu dir«, sagte Nelli. Sie war so richtig in Fahrt. Gerade eben hatte sie eine neue Seite an sich entdeckt: Sie konnte ihre Interessen vertreten, sie konnte verhandeln – früher hatte sie bei allem klein beigegeben und sich gefügt.
»Sobald ich den Vorschuss habe, bekommst du 100 Euro Fahrgeld. Wir packen mein Fahrrad und meine Sachen in deinen Kofferraum und treffen diese Frau Herolder an irgendeinem neutralen Ort in München. Wenn sie dich mitmachen lässt, ist es gut, wenn nicht, dann gebe ich dir weitere 100 Euro für deinen Aufwand, dann sind wir mehr als quitt, und unsere Wege trennen sich.«
Er blies die Backen auf und wollte mit Protest loslegen.
»Und wenn dir das nicht passt, trennen sich unsere Wege sofort.«
Er verzog das Gesicht.
»Hoffentlich lässt sich Ihr Fahrrad zerlegen«, nörgelte er. »Ich hab nämlich bloß ne Ente.«